Glücklose Arbeit - Arbeitsloses Glück?
Editorial
Es war einmal ein Deutscher Soziologentag, der handelte davon, daß der Gesellschaft die Arbeit ausgehe. Betrachtet man den Berg an Büchern und Artikeln, die sich des Themas "Arbeit" in nachdenkender, nachdenklicher, kritischer oder fördernder Absicht immer noch annehmen, so muß man am Motto des Soziologentags zweifeln und könnte anfangen, von einer immer größeren Unüberschaubarkeit von Arbeiten zu reden. Und es käme womöglich jemand auf die Idee, die vielfältigen Begriffe von Arbeiten, die zwischenzeitlich in den geistigen Produkten niedergelegt worden sind und immer noch niedergelegt werden, zu ordnen. Es könnte dann z.B. alphabetisch so sortiert werden:
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, Atemarbeit, atmende Fabrik, Berufsarbeit, Beziehungsarbeit, Bildungsarbeit, Bürgerarbeit, Chemiearbeiter, Computerarbeit, Dienstleistungsarbeit, Duale Ausbildung, Dualwirtschaft, ehrenamtliche Arbeit, Eigenarbeit, Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Frauenarbeit, Freiwilligenarbeit, fremdbestimmte Arbeit, Friedensarbeit, gesellschaftliche Arbeit, gesellschaftlich nützliche Arbeit, gemeinnützige Arbeit, geringfügige Beschäftigung, Gruppenarbeit, Hausarbeit, Heimarbeit, Hilfe zur Arbeit, Industriearbeit, innovative Arbeit, Job-Rotation, Jugendarbeit, just-in-time-Arbeit, Kinderarbeit, kommunale Arbeiten, Körperarbeit, körperliche Arbeit, kundenfreundliche Arbeit, kürzer arbeiten, länger arbeiten, lebenslanges Arbeiten, Leiharbeit, Lohnarbeit, Männerarbeit, Mehrarbeit, Multimedia-Arbeit, Nebenarbeit, Neue Arbeit, new work, non-profit-Arbeit, Normalarbeit, nützliche Arbeit, öffentlich geförderte Arbeit, ökologisch sinnvolle Arbeit, Organisationsarbeit, pädagogische Arbeit, Pflegearbeit, Pflichtarbeit, politische Arbeit, Prämienarbeit, praktische Arbeit, Privatarbeit, produktive Arbeit, Putzen, Qual, Qualitätsarbeit, Redaktionsarbeit, Samstagsarbeit, Schlanke Arbeit, schlechte Arbeit, selbständige Arbeit, Sisyphosarbeit, Sonntagsarbeit, Sozialarbeit, sozialversicherungspflichtige Arbeit, Strafarbeit, Straßenarbeit, stumpfsinnige Arbeit, Schwarzarbeit, tariflich bezahlte Arbeit, Tauscharbeit, Teamarbeit, Teilzeitarbeit, Telearbeit, teure Arbeit, theoretische Arbeit, Traumarbeit, überflüssige Arbeit, unbezahlte Arbeit, unbezahlte Mehrarbeit, ungesunde Arbeit, vergesellschaftete Arbeit, verlorene Arbeit, Verwaltungsarbeit, verweigerte Arbeit, Wanderarbeit, Wertarbeit, Wochenendarbeit, wohltätige Arbeit, Yuppie-Arbeit, Zeitarbeit, Zirkulationsarbeit, Zwangsarbeit.
An der willkürlichen Auflistung dieser "zusammengesetzten" Arbeiten wird nicht nur deutlich, wie mächtig "Arbeit" in unserer Sprache ist. Es wird auch deutlich, daß "Arbeit" ein Thema ist, welches die Gemüter bewegt. Das merkt man nicht erst in Wahlkampfzeiten, zu denen "Arbeit, Arbeit, Arbeit" von Plakaten prangt. Das merkt man auch daran, daß die neue Bundesregierung sich daran messen lassen will, wie es ihr gelingt, das Fehlen von bezahlter Arbeit zu bekämpfen, sprich: zumindest die Arbeitslosenzahlen zu senken. Das Sinken von Arbeitslosenquoten muß noch lange nicht heißen, daß es mehr Arbeitsplätze gibt, sondern kann auch heißen, daß weniger erwerbsfähige Menschen bezahlte Arbeit nachfragen. In allen Diskussionen über Arbeit, bei denen es dann meist doch um Erwerbsarbeit, Lohnarbeit geht, herrscht die Tendenz vor, Arbeit eindeutig positiv zu sehen. Positiv für die soziale Integration, positiv für die persönliche Identität, positiv für das wirtschaftliche Wohlergehen aller. Kurz gesagt: Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Lohnarbeit mit Glück gleichgesetzt wird. Je länger die Massenarbeitslosigkeit andauert, desto mehr verschwanden im öffentlichen Diskurs die Debatten um Humanisierung der Arbeitswelt. Je länger die Massenarbeitslosigkeit andauerte, desto mehr schiebt sich "Arbeit um jeden Preis" als individuelle und politische Handlungsmaxime in den Vordergrund. Und das, obwohl in vielerlei Untersuchungen festgestellt werden konnte, daß die subjektiven Ansprüche an Erwerbsarbeit gestiegen sind, daß es einen breiteren Wunsch gibt, private Lebenszeiten und Lohnarbeitszeiten zu vereinbaren, daß nicht mehr "leben, um zu arbeiten", sondern "arbeiten, um zu leben" die mehrheitliche Orientierung ist.
Je länger die Massenarbeitslosigkeit andauert, desto stärker kommen auch sozialpolitische Positionen in Bedrängnis, die auf eine Entkopplung von Erwerbsarbeit und Einkommen bzw. sozialer Sicherheit gesetzt haben. Immer mehr gewinnen gerade auch im sozialdemokratischen und rot-grünen 'Milieu' - ähnlich wie bei New Labour in Großbritannien - Positionen die Oberhand, die eine Ableistung öffentlicher Arbeit zur Vorbedingung für Sozialleistungen auf Existenzminimum-Niveau machen wollen. Arbeit und Einkommen werden also wieder stärker verkoppelt. Solche Vorstellungen finden sich zunehmend auch bei denen, die im Bereich der öffentlich geförderten Arbeit oder in der arbeitsorientierten sozialen Arbeit leitend oder beratend tätig sind. Die Gleichsetzung von Arbeit und gelungener Integration, ja Glück, bedeutet auf der 'Schattenseite' die Definition von Arbeitslosigkeit als Unglück. Würde man alle Reden der letzten zwanzig Jahre zur Arbeitslosigkeit analysieren, käme man sicherlich zu einem stattlichen Katalog von Negativzuschreibungen an den Zustand der Arbeitslosigkeit und die arbeitslosen Menschen. Beliebte und schreckliche Metapher ist hierbei die Rede von der Arbeitslosigkeit als 'Krebsgeschwür'.
Die Gegenübersetzung von Arbeit gleich Glück und Arbeitslosigkeit gleich Unglück ist offensichtlich platt. Ihre Umkehrung ebenfalls. Sie bleiben beide befangen in der scheinbar ewigen Ambivalenz, daß (fast) jede und jeder Arbeit nicht nur zum Erwerb der Lebensmittel nötig hat, sondern ihr auch einen anderen subjektiven Gewinn abringt, andererseits aber immer wieder das Gefühl hat, in dieser Zeit auch etwas ganz anderes, eigensinniges, tun zu können, wenn ... Womöglich ist dieses Hin- und Hergerissen-Sein, das sich je nach Arbeits- und Arbeitslosigkeitsverhältnissen sehr unterschiedlich darstellen kann, unvermeidlich, solange wir in kapitalistischen Verhältnissen leben, die nach André Gorz dadurch gekennzeichnet sind, daß das Bedürfnis nach Tätigkeiten und Anerkennung mit dem Bedürfnis nach Einkommen verkoppelt ist.
Die sozialwissenschaftliche Diskussion, manchmal die Diskussion in Politik, Gewerkschaften und Kirchen, fast immer auch die Diskussion in Arbeitslosengruppen und Arbeitslosenzentren ist seit längerem dabei, die genannten Dichotomien durch differenzierte Betrachtungsweisen zu ersetzen. Das ist allerdings keineswegs mehrheitsfähig. Deswegen wirken Veröffentlichungen wie das Manifest der "Glücklichen Arbeitslosen" nach wie vor als Provokation - gerade in ihrer Einseitigkeit der Interpretation von Lohnarbeitslosigkeit als Befreiung.
Im Rahmen der Differenzierung der Diskussion um Arbeit und Arbeitslosigkeit war es schon immer ein wichtiger Beitrag vor allem von feministischer Seite gewesen, die Dominanz von Erwerbsarbeit in den gesellschaftlichen und individuellen Normalitätsvorstellungen zu kritisieren. Dies in der emanzipatorischen Absicht einer Neuverteilung der Arbeiten zwischen den Geschlechtern vorgetragene Argument wurde von neokonservativer Seite bekanntermaßen früh instrumentell zurechtgestutzt, um Frauen auf alte und neue Alternativen zur Erwerbsarbeit zu orientieren. Heute werden Argumente gegen die Dominanz der Erwerbsarbeit von vielen Seiten vorgebracht, und es werden vielerlei Vorschläge gemacht, andere Arbeiten aufzuwerten: Freiwilligenarbeit als modernisiertes Ehrenamt und Bürgerarbeit mögen hier als Stichworte genügen. Gegen freiwillige Arbeiten kann niemand etwas haben und einwenden, schon gar nicht die unbezahlte, freiwillige Redaktion dieser Zeitschrift. Aber Bedenken müssen in diesem Diskurs allerspätestens dann angemeldet werden, wenn diese 'neuen' Arbeiten entweder als Mittel zum Kampf gegen Erwerbslosigkeit angepriesen oder ihrer Freiwilligkeit beraubt werden, indem sie zur Bedingung des Zugangs zu Sozialleistungen gemacht werden.
Zu den Beiträgen im einzelnen
Martina Althoff kommentiert das Manifest der "Glücklichen Arbeitslosen". Sie schildert die Kontroverse zwischen den "Glücklichen Arbeitslosen" und den traditionellen Befunden der Arbeitslosenforschung und diskutiert die Einwände ersterer gegen letztere. Althoffs These ist, daß über Erwerbslosigkeit nur sinnvoll nachgedacht werden kann, wenn Veränderungen innerhalb der Erwerbsarbeit mitbedacht werden. Denn auch Erwerbstätige können unter dem Gefühl leiden, nicht mehr gebraucht zu werden.
Einen empirisch fundierten Einblick in die Lebenssituation von Langzeitarbeitslosen gibt Berthold Vogel. Sein Beitrag benennt die Ausgrenzungsrisiken, die heute mit dem Verlust von Erwerbsarbeit verbunden sind. Er beschreibt, welchen Verlauf Ausgrenzungsprozesse durch den Verlust des Arbeitsplatzes nehmen und stellt die Sicht der Subjekte dar: Wie wird langandauernde Arbeitslosigkeit von ihnen erlebt? Vogel zeigt die Vielgestaltigkeit von sozialen Randlagen in der Arbeitsgesellschaft der neunziger Jahre und fragt nach den politischen Perspektiven der Regulation dieser neuen sozialen Spaltungen.
Eine Empirie der Arbeitslosigkeit, mit der die Öffentlichkeit allmonatlich medial konfrontiert wird, ist die Veröffentlichung der neuesten Arbeitslosenstatistik am jeweiligen "Jagoda-Tag". Erläuterungen dazu, wer und wie da überhaupt gezählt wird, gibt Paul M. Schröder. Er erläutert, was "arbeitssuchend", "arbeitslos", "erwerbslos" etc. in den Augen der Statistik heißt und benennt, wie groß die "Arbeitsplatzlücke" ist.
Mit der Zukunft bzw. Krise der Erwerbsarbeit beschäftigt sich Susan Geideck in ihrem Beitrag. Die Autorin untersucht die aktuell allseits anvisierten elektronischen Märkte auf das ihnen innewohnende Rationalisierungskonzept und dessen Folgen hin: Die mit den elektronischen Märkten propagierte und forcierte Tendenz zur 'Selbstbedienung' vom heimischen Bildschirm aus bedeutet eine 'Verschiebung' bisher in der 'Erwerbssphäre' ausgeübter Tätigkeiten in die 'Privatsphäre' und damit ihr Herausfallen aus dem Arbeitsmarkt.
Ob und wie die "Arbeitsplatzlücke" geschlossen werden kann bzw. soll, darüber gibt es breite Kontroversen. Ist Vollbeschäftigung noch als politisches Ziel formulierbar? Oder kann es nur um eine "Vollbeschäftigung neuen Typs" gehen, da der Produktivitätsfortschritt zu Jobless Growth führt? Diese Debatte beleuchtet Anneliese Braun unter dem Blickwinkel einer "Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit", einem Blickwinkel, der versucht, ökonomistischen und ökologisch wie sozial unverträglichen Kurzschlüssen zu entgehen.
Daß Arbeiten und Tätigsein gesellschaftlich und historisch zu einem dominanten Begriff von Lohnarbeit verkürzt worden ist, bildet auch den Hintergrund von Rolf Schwendters Notaten zu Arbeit und Tätigkeit. Neben der Reflektion verschiedener Begriffe von Arbeiten in älterer und jüngerer Geschichte geht es ihm um die Frage, welche sozialen Bedingungen für die einzelnen Menschen erfüllt sein müssen, damit über unbezahlte Arbeit und Tätigkeit überhaupt sinnvoll geredet werden kann.
Im Manifest der "Glücklichen Arbeitslosen" wird mit dem Verweis auf Gesellschaften in anderen Kontinenten der Versuch unternommen, dort einen 'glücklicheren' Umgang mit Arbeit und Arbeitslosigkeit zu identifizieren. Der Bericht von Ernst Herb, schweizer Journalist in Kairo, über die Bedeutung von Arbeit in Ägypten und in islamisch geprägten Gesellschaften zeigt, wie 'westlich-glückliche' Blicke auf diese Realitäten in der Gefahr von Romantisierung stehen. Gordian Troellers Beitrag zu Armut und Kinderarbeit weitet den Blick auf globale Zusammenhänge. Mit Fakten und Skizzen berichtet er über Arbeitsverhältnisse von Kindern in den verschiedensten Kulturen. Er zeigt auf, wie überall dort, wo Armut Kinder zur Arbeit zwingt, das vom westlichen Denken geprägte Bild des unschuldigen und unmündigen Kindes, das behütet und erzogen werden muß, ad absurdum geführt wird. Die Armen greifen zur Selbsthilfe und versuchen, im Rückgriff auf eigenständige Kulturtraditionen Alternativen zum dominierenden westlichen Entwicklungsmodell zu leben.
Diese Diskussion wird übrigens auch von Michael Lindenbergs Rezension zu dem Buch "Arbeitende Kinder stärken" von Liebel, Overwien und Recknagel aufgegriffen. In einer weiteren Rezension zum Schwerpunkt bespricht Wolfgang Völker den von Lutz Finkeldey herausgegebenen Band "Tausch statt Kaufrausch" zur Theorie und Praxis der Tauschringe.
Die Redaktion