Entbehrlich für die Arbeitsgesellschaft?

Arbeitslosigkeit und Ausgrenzungsrisiko in den neunziger Jahren

Allen Spekulationen über einen heranbrechenden Kapitalismus ohne Arbeit zum Trotz - die Erwerbsarbeit verschwindet nicht, sie strukturiert sich neu. Diese Neustrukturierung hat Konsequenzen für die Entwicklung der Arbeitsmärkte, für die Organisation und Gestaltung der Beschäftigungsverhältnisse und für die Formen der Arbeitslosigkeit. Diese Formveränderungen der Arbeitslosigkeit werden seit einigen Jahren in der politischen Öffentlichkeit und in den Sozialwissenschaften unter dem Begriff der Ausgrenzung diskutiert (vgl. Kronauer 1997). Der Ausgrenzungsbegriff signalisiert, daß sich seit einigen Jahren nicht nur die quantitativen Dimensionen der Arbeitslosigkeit, sondern auch deren gesellschaftliche Qualität verändert hat - die Arbeitslosigkeit droht die Gesellschaft zu spalten. Der vorliegende Beitrag arbeitet heraus, inwiefern sich Arbeitslosigkeit heute stärker als noch in den achtziger Jahren mit Ausgrenzungsrisiken verknüpft (I), welche Verlaufsformen von Ausgrenzung durch Arbeitsplatzverlust empirisch identifizierbar sind und wie Ausgrenzung von Arbeitslosen erlebt wird (II) und welche gesellschaftlichen Folgen die veränderte Qualität der Arbeitslosigkeit nach sich zieht (III).

1. Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung - die veränderte Qualität des Arbeitsplatzverlustes in den neunziger Jahren

Für die Mehrheit der Arbeitslosen stellt der Verlust des Arbeitsplatzes nach wie vor eine biographische Übergangsphase dar, die durch eine mehr oder weniger rasche Rückkehr ins Erwerbsleben beendet wird. Arbeitslosigkeit führt auch in den neunziger Jahren keineswegs zwangsläufig zu gesellschaftlicher Marginalisierung oder Ausgrenzung. Der Umstand, daß Arbeitslosigkeit transitorisch ist, also einen bestimmten Abschnitt im Lebenslauf markiert, ist historisch freilich nicht neu. Denn seit Beginn des Industriekapitalismus war der periodische Verlust des Arbeitsplatzes fester Bestandteil insbesondere von Arbeiterbiographien. Bemerkenswert ist im Rückblick vielmehr, in welchem Maße es den westeuropäischen Staaten in den dreißig glorreichen Jahren der Nachkriegsentwicklung gelungen war, das Ausmaß, die Dauerhaftigkeit und das Risiko der Arbeitslosigkeit gerade für die arbeitenden Klassen zu reduzieren.

Vor diesem gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund trat die Langzeitarbeitslosigkeit Anfang der achtziger Jahre als neue soziale Problemlage hervor. Spielte bis zu diesem Zeitpunkt der langfristige Verlust der Erwerbsarbeit in Westdeutschland nur eine geringe Rolle, verzeichnen wir seitdem dessen ungebrochenen Anstieg. Für eine wachsende Zahl von Erwerbspersonen beschränkte sich der Verlust der Erwerbsarbeit nun immer weniger auf kurze Perioden des Erwerbslebens. Die Arbeitslosigkeit begann sich in den Biographien bestimmter Gruppen der Erwerbsbevölkerung festzusetzen. In Zahlen: Der Anteil der Langzeitarbeitslosen am Bestand an Arbeitslosen hat sich in Westdeutschland zwischen 1980 (12.9%) und 1997 (34%) nahezu verdreifacht. Im September 1997 lag in Gesamtdeutschland die offizielle Zahl der länger als ein Jahr Arbeitslosen bei 1,5 Millionen, die extreme, zwei Jahre und länger anhaltende Arbeitslosigkeit bei offiziell ausgewiesenen 0,6 Millionen (vgl. ANBA 1998). Doch diese Kennziffern zur Dauer der Arbeitslosigkeit verbergen einen Gutteil des Problems. Denn wir wissen, daß das Ausmaß der Langzeitarbeitslosigkeit, vor allem der Arbeitslosigkeit über zwei Jahre, durch die Statistik der Bundesanstalt für Arbeit systematisch unterschätzt wird, seitdem seit Mitte der achtziger Jahre die Grundlagen für die Berechnung der Dauer der Arbeitslosigkeit mehrfach modifiziert wurden. Darauf verweisen beispielsweise zwei repräsentative Umfragen aus den Jahren 1988 (Mikrozensus) und 1989 (Infratest), die für die alten Bundesländer zu dem Ergebnis kamen, daß die Zahl der Arbeitslosen, die angaben, zwei Jahre und länger nicht mehr erwerbstätig gewesen zu sein, über 50% höher lag, als offiziell statistisch ausgewiesen (vgl. Rudolph 1992: 161). Eine Studie aus den neunziger Jahren zeigt auf der Datengrundlage des Sozioökonomischen Panels (SOEP), daß der Umfang der Langzeitarbeitslosigkeit von der amtlichen Statistik um gut 40% unterschätzt wird (Wagner 1995). Eine eigene Untersuchung, bei der wir uns in einer ausgewählten westdeutschen Region auf Datensätze stützen konnten, die von den Arbeitsämtern selbst erhoben wurden, bestätigte diese Diskrepanz zur offiziellen Statistik (vgl. Kronauer/Vogel/Gerlach 1993: 47ff.; vgl. auch Kronauer/Vogel 1998: 338f.). Wir können also davon ausgehen, daß die Realität der Langzeitarbeitslosigkeit weit tiefer in die Arbeitsgesellschaft der neunziger Jahre eingedrungen ist, als es in den Zahlen der Arbeitslosenstatistik zum Ausdruck kommt.

Insbesondere in Ostdeutschland hat sich die Langzeitarbeitslosigkeit im Zuge der tiefgreifenden Umgestaltung von Arbeitsmarkt und Beschäftigung binnen kurzer Zeit zu einem gewichtigen Strukturproblem des Erwerbssystems entwickelt (vgl. insgesamt Vogel 1999). Auf der Grundlage einer Auswertung des SOEP-Ost zeigt beispielsweise Lutz (1996), daß diejenigen, die im Transformationsprozeß einmal ihre Arbeit für einen längeren Zeitraum verloren haben, in starkem Maße Gefahr laufen, dauerhaft keinen Zugang zum Erwerbssystem mehr zu finden. Die Auswertungen zeigen, daß zwei Drittel der 1994 in den neuen Bundesländern registrierten Arbeitslosen seit der Wende 1990 keiner regulären Erwerbstätigkeit (am ersten Arbeitsmarkt) mehr nachgingen und ihre Arbeitslosigkeit bestenfalls durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Fortbildung unterbrechen konnten. In Ostdeutschland verdichtet sich daher das Bild einer mehr oder minder schrittweisen, aber zunehmend definitiven Aussteuerung eines großen Teils der Arbeitslosen aus dem Erwerbsleben (Lutz 1996: 159f). Die Umgestaltung des ostdeutschen Arbeitsmarktes produziert auf diese Weise eine Soziallage überzähliger Arbeitskräfte (vgl. Vogel 1999).

Kurzum, nicht nur die quantitative Dimension der Arbeitslosigkeit hat sich in den neunziger Jahren verändert, sondern auch die Qualität des Arbeitsplatzverlustes. Die Gefahr der Ausgrenzung durch einen dauerhaft blockierten Zugang zu Erwerbsarbeit wächst. Eine neue soziale Spaltungslinie zwischen denen, die Zugang zur Erwerbsarbeit haben und denen, denen dieser Zugang weitgehend versperrt bleibt, bricht auf. Was sind die Ursachen? Eine zentrale Ursache ist der technologische Wandel, der alle Branchen der Wirtschaft durchzieht, und der die Arbeitswelt grundlegend zu Lasten bestimmter Beschäftigtengruppen, in erster Linie der ungelernten Arbeitskräfte, verändert. Diese technologisch bedingte Umgestaltung der Arbeitswelt führt zu einer Professionalisierung der Erwerbsarbeit, d.h. der Zutritt zum Erwerbsleben erfordert in immer stärkeren Maße beruffachliche Qualifikationen. Diese Entwicklung korrespondiert mit dem Niedergang eines bestimmten (industriellen) Tätigkeitstyps - des un- oder angelernten Arbeiters. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes Hamburg hat sich das Arbeitsplatzpotential für ungelernte Arbeitskräfte in Hamburg zwischen 1979 und 1995 mehr als halbiert (vgl. Wohlfahrt 1997) - ein bundesweiter Trend. Mit dieser Entwicklung ist ein weiterer Ursachenkomplex sehr eng verknüpft: die arbeitsorganisatorische Neugestaltung des Erwerbslebens. Das tariflich gesicherte, unbefristete Vollzeitarbeitsverhältnis verliert im Zuge dieser Entwicklung an Bedeutung, im Gegenzug gewinnen atypische Formen der Beschäftigung an Relevanz. Der Zuwachs an befristeter und geringfügiger Beschäftigung ist hier ebenso zu nennen wie der Boom der Zeitarbeit und die Entwicklung der sogenannten Scheinselbständigkeit. Zwar gehen diese Beschäftigungsformen nicht notwendigerweise mit einem mittel- bis langfristigen Risiko der Ausgrenzung oder Marginalisierung am Arbeitsmarkt einher, aber diese Formen der Teilhabe am Erwerbsleben machen anfällig für diese Risiken. Schließlich ist in diesem Zusammenhang die politisch-institutionelle Steuerung des Wandels der Arbeitswelt zu nennen. Den Interventionen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik kommt bei der Regulierung und Organisation des Zugangs zum Erwerbsarbeitssystem eine Schlüsselstellung zu. Sie steuern maßgeblich das Verhältnis von Einbindung in und Ausschluß von Erwerbsarbeit. Die Arbeits- und Sozialämter sind in diesem Prozeß zentrale Instanzen, die darüber bestimmen, welche Personengruppen welchen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen zugewiesen werden bzw. welche Personengruppen überhaupt noch (integrative) Angebote erhalten und welche nicht. Sie verfahren dabei nach dem Muster integrativer Selektion (Vogel 1999), d.h. integrative Arbeitsmarktpolitik setzt differenzierte und vor allem differenzierende bzw. selektive Angebote voraus. Arbeitsmarktpolitik, verstanden als ein Prozeß integrativer Selektion, prägt und formiert die erwerbsbiographischen Passagen und Übergänge zwischen Arbeitslosigkeit und Erwerbstätigkeit.

Wie schlagen sich nun die veränderten technologischen, qualifikatorischen und organisatorischen Rahmenbedingungen des Erwerbslebens und ihre politische Bearbeitung durch die Institutionen des Wohlfahrtsstaates am Arbeitsmarkt nieder? Wer ist von langfristiger Arbeitslosigkeit betroffen und läuft Gefahr, aus dem Erwerbsarbeitssystem ausgegrenzt zu werden? Welche Verlaufsformen der Ausgrenzung durch den Verlust der Erwerbsarbeit können wir dabei typischerweise unterscheiden?

2. Verlaufsformen der Ausgrenzung durch Langzeitarbeitslosigkeit

Die Gefahr, dauerhaft in Arbeitslosigkeit zu verbleiben und das Risiko der Ausgrenzung sind sozial ungleich verteilt. Unter Ausgrenzungsdruck stehen in erster Linie Erwerbspersonen, die entweder keine berufliche Qualifikation vorzuweisen haben, oder die zuletzt als Fachkräfte in absteigenden Branchen der Industrie, des Handwerks oder Handels tätig waren. Als verschärfende Faktoren treten gesundheitliche Einschränkungen und das Alter hinzu. Aktuelle Analysen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung weisen darauf hin, daß 1997 im Westen fast jede vierte und im Osten bereits mehr als die Hälfte aller Personen ohne Berufsabschluß arbeitslos waren (Engelbrech 1999:3; vgl. auch Reinberg/Rauch 1998).

Doch wie verlaufen Ausgrenzungsprozesse durch (Langzeit-)Arbeitslosigkeit? Im Rahmen einer empirischen Studie haben wir in offenen Interviews Erwerbsbiographien von langzeitarbeitslosen Frauen und Männern rekonstruiert. Auf der Basis dieser Erhebung können wir vier unterschiedliche Verlaufstypen der Ausgrenzung am Arbeitsmarkt unterscheiden: a) den plötzlichen Ausschluß von Erwerbsarbeit nach einer bis dahin stabilen Erwerbsbiographie; b) die allmähliche Ausgliederung aus Erwerbsarbeit, nachdem sich eine ehemals stabile Erwerbsbiographie destabilisierte; c) den Abbruch einer seit jeher instabilen Erwerbsbiographie und schließlich d) den von vorneherein versperrten Zugang zu Erwerbsarbeit, der einen Einstieg in eine Erwerbsbiographie verhindert hat. (1)

2.1 Plötzlicher Ausschluß von Erwerbsarbeit nach stabiler Erwerbsbiographie

Im ersten Verlaufstyp sind ausschließlich langzeitarbeitslose Männer vertreten. Sie sind alle älter als 45 Jahre und haben zum Teil mit erheblichen gesundheitlichen Belastungen zu kämpfen. Ihre Erwerbsbiographie ist davon geprägt, daß sie über lange Jahre in einem Betrieb, meist im industriellen Bereich, tätig waren und dort betriebs- und branchenspezifische Anlernqualifikationen erworben haben. Die große Mehrheit von ihnen hat keinen Beruf erlernt. Da ihr Tätigkeitsbereich überwiegend in niedergehenden Industriebranchen lag, ging der Arbeitsplatz in der Regel im Zuge des Stellenabbaus oder einer Betriebsschließung verloren. Nach dem Verlust dieses Arbeitsplatzes, den sie über lange Jahre innehatten und der ihre Erwerbsbiographie maßgeblich prägte, fanden sie als ungelernte Arbeitskräfte keine Neuanstellung mehr.

Ihre Lebenssituation ist durch Vereinzelung und Einsamkeit geprägt. Familiäre Bindungen spielen eine untergeordnete Rolle. Diese Arbeitslosen leben häufig alleine bzw. sind alleinstehend. Mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes schwanden rasch ihre sozialen Kontakte. Aus dem öffentlichen Raum haben sie sich in die eigenen vier Wände zurückgezogen. In öffentlichen Einrichtungen im Wohnquartier, die sich in ihrem Angebot häufig an Arbeitslose richten, trifft man sie nicht an. Auch ihre Arbeitssuche haben sie nach einer Geschichte des Scheiterns aufgegeben. In ihrem Rückzug vom Arbeitsmarkt wurden diese Langzeitarbeitslosen von seiten der Arbeits- und Sozialverwaltung geradezu bestärkt. Von Beginn ihrer Arbeitslosigkeit an wurden ihnen keine unterstützende oder eingliedernde Maßnahmen mehr angeboten. Im Gegenteil: Das Arbeitsamt betrachtet sie mit wohlwollendem Desinteresse als aussichtslose Fälle, die dem Sozialamt zur weiteren Versorgung überwiesen werden. Dementsprechend hat sich unter diesen Arbeitslosen ein Bewußtsein sozialer Marginalität, Nutzlosigkeit und Überflüssigkeit herausgebildet - ein Bewußtsein, das sie beschämt und unter dem sie in extremer Weise leiden.

2.2 Allmähliche Ausgliederung aus Erwerbsarbeit nach Destabilisierung der Erwerbsbiographie

Im zweiten Verlaufstyp finden wir Männer und Frauen in der Altersgruppe zwischen 40 und 55 Jahren. Deren Erwerbsbiographie ist durch eine mehr oder weniger langen Prozeß der Destabilisierung und Prekarisierung geprägt. Diesen Destabilisierungsprozeß charakterisiert, daß auf den Verlust einer stabilen (d.h. länger als vier Jahre währenden) Beschäftigung immer kurzfristigere Beschäftigungsphasen folgten und sich in ihrer Erwerbsbiographie ein stetiges Wechselspiel von Arbeitslosigkeit und Erwerbstätigkeit aufbaute. Als besonders problematisch erwies sich für diese Arbeitslosen, daß sie gezwungen waren, von Beschäftigungsphase zu Beschäftigungsphase Zugeständnisse an die Arbeitsinhalte (Qualifikationsverlust), an die Beschäftigungsform (Befristung) und an die Entlohung zu machen. Das Wechselspiel von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit setzte eine Spirale beruflicher Dequalifizierung und sozialer Deklassierung in Gang, die schließlich in dauerhafter Arbeitslosigkeit endete. Ihre Bereitschaft, Zugeständnisse an die Arbeitsmarktlage zu machen und bei der Arbeitssuche flexibel zu agieren, zahlte sich nicht aus. Diese Arbeitslosen verfügen zum Teil über betriebsspezifische Anlernqualifikationen, in der Mehrheit über Fachqualifikationen, die jedoch im Abstiegsprozeß verloren gegangen sind. In der Phase stabiler Beschäftigung waren sie schwerpunktmäßig im verarbeitenden Gewerbe und im Handel beschäftigt.

Insgesamt erleben sie ihre Erwerbsbiographie als drastischen Abstiegsprozeß in finanzieller, beruflicher und sozialer Hinsicht. Für die Mehrheit dieser Arbeitslosen kommt negativ hinzu, daß mit dem Verdrängtwerden aus dem Erwerbsleben auch familiäre sowie quartiersbezoge