Geschlechterverhältnis und Reproduktion

Editorial

Warum der andere Blick? Schon beim Widersprüche-Titel "Sozialistische Politik im Bereich Bildung, Gesundheit und Soziales", stutzt das feministisch geschärfte Auge. Beim näheren Hinsehen bestätigt das Editorial auf der zweiten Umschlagseite, daß unter den dort genannten gesellschaftlichen Widersprüchen ein zentraler fehlt: das Geschlechterverhältnis.

In den Diskussionen der Widersprüche-Gesamtredaktion um das Verhältnis von Produktion und (professionalisierter) Reproduktion, um den "Sozialstaat" im weitesten Sinne, um soziale Alternativen zu Spaltung und Ausgrenzung, um andere Lebens- und Arbeitsentwürfe reiht sich das Geschlechterverhältnis offensichtlich nicht zwanglos ein, sondern drängt sich in besonderer Weise auf.

Eine materielle Begründung dafür ist leicht zu finden. Es ist die herrschende Organisation der geschlechtlichen Arbeitsteilung, die das soziale Verhältnis der Geschlechter zueinander strukturiert, die als sexistische den unterschiedlichen Zugang der Geschlechter zu den materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen bestimmt und die vielschichtig die Bereiche Bildung, Gesundheit und Soziales prägt. Zugleich ist es der Bereich der privaten, nicht-professionalisierten Reproduktion, der für die soziale Wirklichkeit von Frauen eine spezifische Bedeutung hat und ihnen in ihrer Diskussion über den Arbeitsbegriff, über ein garantiertes Grundeinkommen, über Bildung und Gesundheit oder auch abstrakt über "die Transformation von Gesellschaft" einen anderen Blick aufzwingt. Denn was auf der Basis herrschender geschlechtlicher Arbeitsteilung für das eine Geschlecht Emanzipation bzw. Befreiung von Herrschaft bedeuten kann, muß für das andere noch lange nicht gelten (und umgekehrt).

In diesem Kontext begannen in der Redaktion Diskussionen um die notwendige "Neu-Bestimmung" des Geschlechterverhältnisses. Eine Neu-Bestimmung, die die theoretischen Entwürfe der Frauenforschung zum Verhältnis von Produktion und Reproduktion, zur geschlechtlichen Arbeitsteilung, zum Arbeitsbegriff berücksichtigt und die Ansätze veränderter Alltagspraxis von Frauen und Männern aufnimmt. In den Diskussionen wurde wiederholt der Anspruch erhoben, einen "feministischen Blick" auf die gesellschaftlichen Bereiche der Bildung, des Gesundheits- und Sozialwesens zu werfen, der klären hilft, was sich seit den Anfängen der Frauenbewegung entwickelt hat, was weiter vorwärts treibt und was stagniert. In diesem Spannungsfeld liegen alle Beiträge des Heftes, deren spezifischer Ausschnitt nicht nur Ergebnisse der Frauenforschung reproduziert, sondern die Frage zuspitzt, inwieweit feministisches Denken und feministische Praxis gesellschaftlich tragfähig und eingelöst wurden.

Nun, auch den feministischen Blick auf soziale Wirklichkeit als einzig Gültigen gibt es nicht. Das wird in den Beiträgen ebenso deutlich wie auch die neue Frauenbewegung ein einzig gültiges emanzipatorisches Projekt nicht zu bieten hat.

Eine Denkbewegung hierzu läßt sich am ehesten so polarisieren. Einmal ist das weibliche Geschlecht qua seiner Körpernatur und daran geknüpften Fähigkeiten (Körper als Produktivkraft, Gebären und Nähren) das schon immer "Positiv-Andere", - ausgegrenzt und unterdrückt durch männliche Herrschaft. Oder, in der alltäglichen Praxis von Frauen, in ihren Auseinandersetzungen um veränderte Lebens- und Arbeitsentwürfe, in ihren Forderungen um gleiche Rechte formiert(e) sich das möglich Positiv-Andere und nahm und nimmt Gestalt an. Ein Prozess, der ein weibliches Selbstbewußtsein konstitutiert, um mit Barbara Sichtermann (1981) zu sprechen, das in formalen Gleichheitsforderungen nicht aufgeht. "Gleiche Rechte - weibliche Utopie" versteht sie als "dialektische Klammer", in der wir uns zu bewegen haben.

Die neue Frauenbewegung trat mit einer radikalen Patriarchats- und Herrschaftskritik an die Öffentlichkeit, Frauen setzten sich selbst als die Subjekte ihres Denken und Handelns. Das "Private ist politisch" wurde verstanden als Kritik an der patriarchalen Kleinfamilie, an sexueller Gewalt und Unterdrückung, an der vielfältigen Arbeit, die Frauen als unbezahlte in dieser Privatheit leisten. Die Forderung nach Selbstbestimung von Frauen über ihren Körper und ihr Leben war das bewegende Moment.

Die neue Frauenbewegung hat Lebenschancen für Frauen erkämpft und ermöglicht, die das traditionelle Geschlechterverhältnis zumindest hat brüchig werden lassen. Lebensentwürfe von Frauen haben sich ausdifferenziert. Frauen leben als Single, als Familienfrau, als Alleinerziehende, Frauen leben mit Frauen.

Diese Lebensentwürfe zielen nicht (mehr) auf eine "optimale Vereinbarkeit von Familienarbeit und Berufsarbeit", in der Sexualität und Liebe "partnerschaftlich" auszuhandeln ist, wie es die modernisierte, konservative Ideologie darstellt und vertritt. Dieses Lebens- und Arbeitskonzept, wird derzeit als "das" emanzipatorische begriffen und für alle Frauen normativ gesetzt und proklamiert. An ihm orientiert sich auch offizielles politisches Handeln, etwa in der Sozialpolitik oder bei den angebotenen Teilzeitarbeitsplätzen.

Näher betrachtet reproduziert diese Ideologie, was Frauen - seit Beginn der Industrialisierung - schon immer getan haben: sie haben sich zwischen Berufs- und Hausarbeit organisiert, in historischen Phasen und je nach sozio-ökonomischer Lebenslage unterschiedlich ausgeprägt.

Dieses Modell, das für einen Großteil der Frauen auch ihre Realität ausmacht, stellt die herrschende Organisation der geschlechtlichen Arbeitsteilung kaum infrage und die Familie bleibt hier das zentrale Bezugsmoment für emotionale, materielle und soziale Versorgung.

So ist es dann - nach vielen Jahren Frauenbewegung und Frauenforschung - auch nicht zufällig, daß trotz der unterschiedlichen Fragestellungen und Schwerpunktsetzungen in den Beiträgen in diesem Heft das Moment der herrschenden geschlechtlichen Arbeitsteilung, daran geknüpfte unterschiedliche materielle, soziale und kulturelle Lebenschancen für Frauen immer wieder durchscheint.

Christel Eckarts Beitrag beschäftigt sich explizit mit dem Verhältnis von Produktion und (privater) Reproduktion als materielle Basis für das Geschlechterverhältnis. Sie thematisiert Frauen als "Grenzgängerinnen" zwischen Produktion und Reproduktion und die daran geknüpften emanzipativen Potentiale. Sie verweist auf deren Verlust durch ökonomistisch verkürzte Emanzipationsentwürfe, die sich einseitig an Berufsarbeit orientieren, und diskutiert die Ambivalenzen der damit für Frauen einhergehenden "Individualisierungsprozesse".

Barbara Riedmüller begründet in ihrem Artikel, wie die "doppelte Arbeitsorientierung" der Frauen die Diskriminierung ihrer sozialen Sicherung bestimmt. Ihr spezifisches Augenmerk richtet sich auf den "Familienstatus" der Frau, der als gesellschaftlicher Maßstab für die soziale Sicherung aller Frauen gesetzt wird. Diese Form der "Familiensubsidiarität" wird in ihrer sozialpolitischen Bedeutung und historischen Entwicklung untersucht. Barbara Riedmüller betont die Notwendigkeit einer Sozialpolitik, die an den Lebensentwürfen von Frauen orientiert ist.

Dörthe Jung und Christine Schön diskutieren darüber was das Selbstverständnis einer feministischen Bildungsarbeit ausmacht. Das Gespräch verdeutlicht die Unterschiede der feministischen Bildungsarbeit im Vergleich zur Frauenbildung in den eher traditionellen Einrichtungen der Erwachsenenbildung und zur sozialistischen Bildungsarbeit. Desweiteren gibt es einen Einblick in die Arbeit der Frankfurter Frauenschule als einem autonomen Frauenbildungsprojekt.

Uta Enders-Dragässer zeigt, daß die Intention der koedukativen Schule, die Gleichstellung der Geschlechter, nicht bzw. nur scheinbar realisiert wurde. Ihr Beitrag verdeutlicht einen notwendigen "Perspektivwechsel" für die pädagogische Praxis, wie er sich erst langsam durchsetzt. Die schulische Benachteiligung von Mädchen und Frauen wird traditionellerweise vor dem Hintergrund einer "defizitären" Weiblichkeit interpretiert, welche vermeintlich nur "kompensiert" werden muß. Es gilt den Anspruch, die soziale Wirklichkeit von Mädchen und Frauen, ihren weiblichen Lebenszusammenhang zum Ausgangspunkt pädagogischer Arbeit und Forschung zu machen.

Christiana Klose beschäftigt sich mit der Arbeit in dem zehn Jahre schon bestehenden Frankfurter Mädchentreff. Der Tatsache, daß auch "Jugendarbeit Jungenarbeit" geblieben ist, stellt sie ausdrücklich Ansätze feministischer Mädchenarbeit entgegen und verweist auf denselben Perspektivenwechsel: vom Defizite kompensierenden Blick hin zur wirklichen Berücksichtigung sozialer Realität von Mädchen.

Birgit Jansen greift das Geschlechterverhältnis an seiner vermittelsten, nicht weniger sichtbaren Stelle auf, an der Krankheit von Frauen als "physischer Konstituierung sozialer Unerträglichkeiten". Es geht nicht darum, im Leiden nur die widerständige (Re-)aktionsform herauszuarbeiten, sondern den theoretischen und empirischen Horizont noch um eine andere Dimension zu erweitern: der Pathologisierung entgehen Frauen nur, wenn sie Krankheit nicht nur als Körpersprache, sondern als Handlungsalternative - unter anderen - erfahren und begreifen können, und wenn sie Krankheit nicht widerspruchslos als schicksalhaften Ausweg oder schuldbeladene Katharsis anerkennen.

Frankfurt, im Mai 1987