Geschichte und Reproduktionsberufe

Editorial

Daß die sog. Historikerdebatte derart intensiv, und zwar über die angesprochenen Fachkreise hinaus, die bundesrepublikanische Öffentlichkeit beherrschte, verweist auf die Brisanz des Politischen der Vergangenheit in der Gegenwart. "Das Vergehen der Vergangenheit" (Nolte), oder als Variante in Form des "Zweierlei Untergang" (Hillgruber) dargestellt - all jene mehr oder weniger nicht neuen Argumente bestätigen den Eindruck, daß die aktive 'Entsorgung' der deutschen Geschichte eine Zäsur in der Nachkriegsentwicklung bedeutet. Die Bundesrepublik entläßt offensichtlich zwei historisch wirkungsmächtige Generationen. Nach der Generation der Väter, die sich - wie die Exponenten des Historikerstreits allesamt kurz vor dem Pensionsalter stehend - einen politischen Abgang von der wissenschaftlichen Bühne rechts verschaffen, drängt die 68er-Generation in die politische Verantwortung, die in der Mitte der Gesellschaft ihre vermeintliche Hegemonie sucht und auf dem Weg dorthin das erträumte andere 'Modell Deutschland' sowie die Erziehung zu kritischer Identität aus dem aufklärerisch-antiautoritären Horizont verlor. Ernüchternd kann festgestellt werden: das 68er-Projekt ist politisch abgeschrieben. Derweil die Mythen Urstände zelebrieren, rückt die Suche nach der nationalen Identität auf die Agenda des neokonservativen Projekts.

Die zweite Republik hat ihr Gesicht verändert - nicht erst in diesen Monaten. Obschon die gesellschaftliche Einflußnahme der antiautoritären Bewegung die politische Kultur der sozialliberalen Etappe deutscher Nachkriegsgeschichte nachhaltig beeinflußte und namentlich die demokratische Haltung außerhalb der Parlamente stärkte, ihr kulturübergreifender Einfluß ist seit der schmerzhaften Erfahrung von Bitburg im Mai 1986 verwirkt, sieht man von einzelnen 'aufrechten Gängen' einmal ab. Die Neue Linke liegt darnieder!

Inwieweit der Historikerstreit als "postive Bilanz" (Wehler) Bestand hat, steht und fällt nicht zuletzt damit, welchen Verlauf die Diskussion weiterhin nimmt und wer die Kontroverse fernerhin sucht. Politologen, Theologen, Soziologen - Staatsrechtler, Juristen und Mediziner entziehen sich derweil einer Bilanzierung ihrer Vergangenheit, obschon ein Rapport aus den Machtzentralen des Behemoth nicht nur ihrem Image zuträglich wäre, sondern auch ihrem ehedem 'privilegierten' Einblick ex post Rechnung tragen und den Horizont der 'dunklen' Vergangenheit in Richtung Aufklärung verschieben würde. Die kritische Medizin meldet sich zu Wort - Juristen und Psychologen beginnen die Diskussion - andere Professionen werden folgen müssen.

Der Blick auf die profunde, 120 Titel umfassende Auswahlbibliographie von Frank Sygusch (in: Gerstenberger/Schmidt (Hg.), Normalität oder Normalisierung? - Geschichtswerkstätten u. Faschismusanalyse, Münster 1987, S. 212 - 220/Stand: Juli '87) zeigt die Beschränkung der 'Historikerdebatte' auf eine kleine akademische Elite. Daß jenseits ihres medialen Erfolgs und der methodologischen Grenzziehungen im akademischen Alltag die Kultur des kollektiven Erinnerns eher ein Schattendasein führte, ist ein Mangel, den aufzuheben dieser Schwerpunkt der WIDERSPRÜCHE beansprucht.

Der Konflikt um die Vergangenheit, die nicht vergehen will, wird fortwähren. Vieles ist noch unbenannt und ruht vergraben in den Archiven. Solange der Zustand der Anomie andauert, provoziert das Erklären des Nationalsozialismus die informierte Öffentlichkeit in dem Maße, wie die zeitliche Entfernung von Nationalsozialismus die Historisierung zwar begünstigt, eine umfassende Interpretation dennoch ausbleiben wird. Zweifelsohne steht zuviel politisches Kapital auf dem Spiel, wenn es am Vorabend eines "europäischen Projekts" darum geht, die Bilanzsumme zu ermitteln. Ist die faschistische Epoche abgetragen - eingeordnet, gelingt der Sprung auf die vorderen Plätze um so trefflicher.

Nichts belegt dies nachdrücklicher als der anhaltende theoretische Disput über die Kontinuitäten in der deutschen Geschichte seit der 48er-Revolution. Die historiographische Beweisführung entlang der Kontinuitäts-Diskontinuitäts-Problematik, welche alte Gewißheiten aufkündigt und neue postuliert, beherrscht den Konflikt zwischen Sozial- und 'Alltagsgeschichte'. Wenngleich beiden die ablehnende Haltung der politikwissenschaftlichen Rezeption des deutschen Faschismus gemeinsam ist, entzweit sie der methodologische Zugriff auf den Nationalsozialismus. Wie das NS-Herrschaftssystem funktionierte, Administration, Wirtschaft und Militär durchdrang, bzw. wie es in die sozialen Räume der NS-Gesellschaft einwirkte, determiniert die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Folgt die vermeintlich 'große Fragestellung' dem Max Weberschen Blick, so konzentriert sich 'Geschichte von unten' auf den Aspekt der "Massenbasis" (Bloch) sowie der "Ästhetisierung der Politik" (Benjamin) in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus.

Der Schwerpunkt "Aufarbeitung der Vergangenheit - Soziale Reproduktion im Nationalsozialismus" - orientiert sich nicht an dieser methodischen Konzeption von Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte. Der Forschungs- und Diskussionsstand in den unterschiedlichen Reproduktionstätigkeiten ist zu unterschiedlich, gleichwohl klingt die Frage danach in allen Beiträgen an. In der Medizin ist die Diskussion zäh, in den Erziehungswissenschaften ist sie schon eher eine Selbstverständlichkeit, aber dafür immer noch mit geringem Ertrag: 'wissenschaftliche' und 'politische' Gehalte sind eng verzahnt. Beide Diskussionen stehen damit im Gegensatz zu der viel jüngeren Sozialen Arbeit, deren Praxisorientierung einen alltagsgeschichtlichen Zugang ermöglicht.

Renate Jäckle erinnert ausgehend vom 'Historikerstreit' an die Bewältigung der Vergangenheit im Bereich der Medizin. Mit Blick auf die Kontinuitäten in der Geschichte der Standes- und Gesundheitspolitik spürt sie den "Reinwaschungen eines Berufsstandes" nach, der bis auf den heutigen Tag wenig Interesse zeigt, das Thema Medizin und Nationalsozialismus in angemessener Form anzugehen.

Auf die Kontroverse zwischen Gamm und Tenorth im letzten Jahr zurückgreifend, unternehmen Sabine Jungk und Friedel Schütte den Versuch, den durch M. Broszat ausgelösten Historisierungsaufruf in den Erziehungswissenschaften an ausgewählten Forschungsergebnissen zu überprüfen.

Das widerständige Verhalten der Lehrerinnen und Lehrer zwischen 1933 - 1945 steht im Zentrum des von Lutz van Dick vorgetragenen Forschungsberichts. Anhand von diachronen Interviews wird im Kontext von Alltagsgeschichte der soziale Raum NS-Erziehungswesen unter Rückgriff auf ein Phasenmodell rekonstruiert.

Stefan Schnurrs Aufsatz zur Entwicklung der Sozialen Arbeit im Nationalsozialismus konstatiert nach 1933 den "Umbau des Sozialstaates", der vom Wohlfahrtsstaat Weimarer Prägung zum 'Erziehungsstaat' umfunktioniert wurde. Die "faschistische Lösung", - so das Fazit -, basierte neben der 'Entverantwortlichung des Staats' sowie der 'Entgrenzung der Sozialkontrolle' in der 'Steigerung der Kontroll-, Selektions- und Repressionspotentiale', die geradewegs zur 'Ausmerze' des sog. unwürdigen Lebens führte.

Essen, im März 1988