Familienunternehmen - zur neoliberalen (Neu)Ordnung der Familie

Editorial

Vor 20 Jahren war die Familie bereits einmal Themenschwerpunkt eines Widersprüche-Heftes. Unter dem Titel: Familie und "Familie" - Realität und Ideologie erschien im Dezember 1984 das Heft Nr. 13, und bereits nach dem Überfliegen der ersten vier Seiten wird der Leserin/dem Leser klar, worum es damals im Kern ging. Aus dem Redaktionsprotokoll mit der Überschrift: "Ein Gespenst geht um in der Linken - das Gespenst der Familie" erfahren wir folgendes: "Zu berichten ist hier von dem mühsamen Prozeß, in einer aufgeklärten Redaktion einer politischen Zeitschrift mit linkem Anspruch über die Familie anundfürsich zu einer Selbstverständigung zu gelangen, die über das Medium des gedruckten Wortes einer öffentlichen Kritik so einigermaßen standhalten kann." (S.3)

Dass der Prozess der Redaktion mit dem damaligen Durchschnittsalter von ca. 35 Jahren tatsächlich ein mühsamer war, belegen die folgenden Schlusssätze: "Wie die Glocken von der dem Redaktionsraum benachbarten Kirche in unsere Gesprächsarbeit penetrant unüberhörbar hineinschlagen, so scheint auch in unseren Köpfen das Familiengespenst wider alle Aufklärung unaufhörlich herumzupoltern. Das vorliegende Heft kann den Lärm vielleicht erklären, aber das Gespenst wird trotzdem weiterleben." (S.5)

Timm Kunstreich formulierte die Gemengelage von Realität und Ideologie, zu deren Entwirrung sich die Redaktion aufgemacht hatte, in seinem Beitrag: "Die heilige Familie" oder: Familien und "Familie" so: "Wenn wir also Bedürfnisse nach Sexualität, Intimität, Vertrauen, Bestätigung usw. haben, aber auch nach Essen, Schlagen, nach Gesprächen, oder aber auch nach Dominanz, Streit, körperlicher Gewalt und 'Psycho-Terror', bietet unsere Gesellschaftsform nur eine, allen Gesellschaftsmitgliedern zugängige Form an: die Familie. An dieser irritierenden Vielfalt von Zweck- und Sinnbestimmungen entzünden sich dann regelmäßig heiße Diskussionen und tiefgehende Meinungsverschiedenheiten. Es scheint fast so, als ob jeder seine Familienerfahrung für die einzig richtige hält. Ist Familie nun ‚emotionales Gegenmilieu' gegen die kalte technisierte Gesellschaft oder ‚Terrorzusammenhang' zur funktionale Zurichtung des Nachwuchses in einer auf Ausbeutung und Unterdrückung basierenden Gesellschaft? oder beides? - oder keines von beiden, sondern von jedem etwas? je nachdem?" (S.7)

Dieser komplizierten Frage gingen insgesamt zehn Beiträge nach, deren Themenschwerpunkte sich von der Aufdeckung familialer Empirie mit dem Ziel einer Kritik an gängiger Familien-Ideologie über die Befassung mit homosexuellen Partnerschaften und den in ihnen vorfindbaren Familienbildern (heute existieren sie legal, die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften) bis zur Diskussion der Abtreibungsregelung im § 218 aus frauenpolitischer Sicht und aus der Perspektive seiner familienpolitischen Indienstnahme durch die damalige CDU/CSU/FDP-Regierung erstreckten.

Während 1984 die Programmatik und Politik der "konservativen Wende", bezogen auf Familie, die Redaktion zu heftigem Widerspruch reizte, ist 20 Jahre später die "neoliberale Wende" und die ihr eigene Rekonstruktion der Bedeutung von Familie Gegenstand des Interesses einer deutlich älter gewordenen und in ihren privaten Familienangelegenheiten abgeklärteren Redaktion. Die Kontinuitäten beider politischer Ären sind offensichtlich; sie wurden auch nicht durch die zwischen der Spanne der 20 Jahre liegende "Wiedervereinigung" (in welche die Neuen Bundesländer ein im Verhältnis zur westdeutschen Tradition anderes Familienkonzept einbrachten) irritiert:

  1. Heute wie vor 20 Jahren entdecken politische Akteure die Familie (wieder) als Raum der Solidarität und Intimität gegenüber gesellschaftlichen Entsolidarisierungstendenzen (durch den Markt, seine Leistungs- und Konkurrenzprinzipien) und bewerben ihren unbezahlbaren Wert mit über weite Strecken symbolischer Politik. Demgegenüber wird real eine (Arbeitsmarkt- und Sozial)Politik exekutiert, die nicht nur die beklagte gesellschaftliche Entsolidarisierung aktiv mit betreibt, sondern auch die materiellen und infrastrukturellen Grundlagen gelebter Familiensolidarität nicht ausreichend zur Verfügung stellt.
  2. Die geschlechterspezifische Arbeitsteilung ist gestern und heute hinsichtlich der Zuordnung der Frauen zur Familie(narbeit) ungebrochen und sowohl im "Drei-Phasen-Modell" der konservativen als auch im "Vereinbarkeitsmodell" der neoliberalen Wendepolitik fest verankert. Mütter sind im Zentrum von Familienpolitik, trotz medienwirksamer Väterkampagnen.

Deutliche Akzentverschiebungen im Vergleich der beiden Wende-Ären lassen sich unterhalb der Kontinuitäten ausmachen:

  1. Hinsichtlich der Positionierung von Familie im Dreiecks-Verhältnis Staat-Markt-Familie kommt mit der Beschneidung sozialstaatlicher Errungenschaften eine massive Privatisierung sozialer Risiken in den politisch definierten und gesteuerten Aufgabenbereich der Familien. Des weiteren greift der Staat im Kontext der "Zukunft der Arbeit" auf Familie als Reservoir für künftig kostenlos zu erbringende (Dienst)leistungen zu. Auf der anderen Seite wird Familie zunehmend nach den gängigen Marktprinzipien als Lebensbereich bewertet, in den es sich mit Gewinnerwartung zu investieren lohnt.
  2. Debatten um Familie als gesellschaftliches und damit hergestelltes Konstrukt sind out. Das "Gespenst Familie", an dessen Sinnhaftigkeit und Legitimität man sich abzuarbeiten hatte, ist verblasst. Einstige Grundsatzstreitigkeiten fristen nur mehr eine randständige Existenz. Statt dessen ist Familie in, insbesondere bei jungen Menschen - dies belegen die regelmäßig durchgeführten Jugendstudien. Sie wird im gelebten Alltag durch ihre Mitglieder vom Ideologieverdacht freigesprochen. Viele Weisen, wie Familie gelebt wird und werden kann, existieren nebeneinander und legitimieren somit das Paradigma von der individuell und eigenverantwortlichen Lebensgestaltung. Dies zu erforschen ist nunmehr zentraler Gegenstand des sozialwissenschaftlichen Interesses statt sich über die "Funktion von Familie im Spätkapitalismus" zu streiten.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Das "Familienthema" wird eingeleitet mit einem grundlegenden Beitrag von Martina Richter: "Zur (Neu)Ordnung des Familialen", in welchem die Familie als Bestandteil sozialer Ordnung vor dem Hintergrund der gegenwärtigen neoliberalen Restrukturierung des Sozialstaats in den Blick genommen wird. Zur Deutung aktueller Transformationen von Gesellschaftlichkeit knüpft Martina Richter an die im Kontext der Analysen von Gouvernementalitäten stehende genealogische Untersuchung des französischen Philosophen Jacques Donzelot ("Die Ordnung der Familie") an. Sein Untersuchungsgegenstand ist die Familie als Ort, an dem sich gesellschaftliche Ordnung in ihren Prägungen und Machtstrategien abbildet und die untrennbar mit der Entstehung des Sozialstaatlichen verbunden ist. Mit dem Beleg, "wie 'Familie' zunehmend in eine individuelle Eigenverantwortung gerät, die im Zuge des Rückbaus wohlfahrtsstaatlicher Arrangements Problemlagen an ihre Mitglieder überantwortet", leitet Richters Beitrag über zu dem von Barbara Stauber und Jutta Goltz. Die Autorinnen zeigen in ihrem Beitrag "Konflikt, Kontinuität und doing gender - Familienbeziehungen jungen Frauen und Männer im Übergang" im Rahmen eines europäischen Forschungsprojektes, welche Anforderungen die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen an die Familienmitglieder stellen. Besonderes Augenmerk richten sie auf die Phase des Übergangs zwischen Schule und Beruf (traditionell die Phase des Überganges zwischen Jugend und Erwachsen Werden). Dabei evaluieren sie unterschiedliche Unterstützungserfahrungen durch Mütter und Väter, die in drei zentrale Muster des Umgangs mit Konflikten eingebettet sind. Barbara Rose knüpft mit dem Beitrag "Sich Sorgen Gestern Heute und Morgen" an den Tatbestand des doing gender an, indem sie die gegenwärtig geführte Care-Debatte aufgreift und an diese empirische sowie sozial- und arbeitsmarktpolitische Fakten anlegt, um die Orte des Sorgens, welche nach wie vor "den Frauen gehören", zu identifizieren. Vor diesem Hintergrund rekapituliert sie den feministischen Diskurs um Care und fragt, welche Perspektiven dieser für eine Anerkennung von Care als gesellschaftlich notwendiger, als Gattungstätigkeit bieten kann. Ein Beispiel für die derzeitige Neu-Verortung von Familie zwischen Staat und Markt demonstriert Frank Burmeister in seinem Beitrag: "Gesteuert - Versteuert - Übersteuert - Ausgesteuert. Vom Einzug der Neuen Steuerung in die Kindertagesbetreuung mithilfe des Gutschein-Systems in Hamburg". Der Beitrag belegt auf exemplarische Weise, was geschieht, wenn betriebswirtschaftliche Prinzipien greifen, wenn Adressaten (hier: Sorgeberechtigte) zu Kunden werden und soziale Einrichtungen (hier: Kindertagesstätten) sich zu konkurrierenden Unternehmen auf einem Markt wandeln. Abgesehen vom bürokratischen Aufwand, den ein solcher "System-Wandel" mit sich bringt, bedeutet die implantierte Marktlogik, dass Zugänge zur Betreuung und die Frage nach ihrer Qualität abhängig gemacht werden von der Kaufkraft der Erziehenden. Von hier ist es nur folgerichtig, familiale Lebensformen hinsichtlich klassenspezifischer Differenzierungen in der Gesellschaft zu betrachten. Dies tut Helga Cremer-Schäfer, die vergleichend auf jüngere "Ergebnisse" der Armutsforschung eingeht und feststellt, dass eine klassenspezifische Orientierung fast gänzlich aus der Perspektive der Forschung über Armut geraten ist - zugunsten einer Perspektive, die dem "Trend der Individualisierung" entspricht. Das "Familienthema" schließt mit einem Beitrag aus den USA ab. Cindi Katz thematisiert unter der Überschrift "Der Terror des Wachsamkeitswahn. Sicherheit und Kinderschutzindustrie in den Vorstädten" den Zusammenhang zwischen dem offiziellen Regieren mittels Kriminalität und dem Boom der Kinderschutz- und Eigenheimüberwachungs-Industrie. An eindrücklichen Beispielen schildert sie den Grad des "Wachsamkeitswahns", des "heimlichen Terrors", der Bespitzelung und Überwachung z.B. von Hausbediensteten und kindermädchen. Sie vertritt die These, dass die enorme Nutzung all dieser Technologien gedeutet werden kann als "Wiederauferstehung des Staates in seiner miniaturisierten und privatisierten Form. Wenn der post-fordistische <...> Staat hinsichtlich seiner Leistungen im Bereich sozialer Reproduktion ausgehöhlt worden ist, ist er in einer domestizierten Form zurückgekehrt - unter unsere Betten."

Die Redaktion