Entsolidarisierung und ihr Widerspiel
Editorial
"Entsolidarisierung und ihr Widerspiel" nimmt eine während der Corona-Pandemie andauernde inflationäre Rede von der notwendigen "Solidarität aller" auf. Als ob nicht das Verfolgen "selbstsüchtiger Zwecke" (Hegel 1955: § 183) immer schon die ökonomische und politische Agenda bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften bestimmte; als ob nicht längst Hegemonie und (erkämpfte) Politiken von Interessen-Kompromiss durch eine neoliberale Klassenpolitik und autoritären Populismus zum Verschwinden gebracht wurden. Dass es sich bei den beliebten Solidaritäts-Appellen der Politik um eine ideologische Strategie der "Moralisierung" handelt, das sieht man schon an dem Gebrauch von Substantiv und Adjektiv: Der "Deutsche Ethikrat" gab zu Beginn der Pandemie die "Ad-Hoc-Empfehlung" einer Strategie zu folgen, die Bürgerinnen und Bürgern eine "solidarische Eigenverantwortung" zuschreibt. Die Leute sollen freiwillig die jeweiligen Maßnahmen von Infektionsschutz und social distancing praktizieren. "Solidarische Eigenverantwortung" wurde als ethisch legitim erachtet, weil der Schutz von Risikogruppen (in Ermangelung anderer Maßnahmen) durch individuellen Gesundheitsschutz gewährleistet werde müsse. In der Übersetzung: weil instrumentelle Politik (noch) nicht möglich sei, müssen Personen als Einzelne in die Pflicht genommen werden, die sie aber "freiwillig" zu erfüllen haben. Der Appell an Solidarität und Verantwortung erfolgte durchaus "im Schatten des Leviathans". Reichen Disziplin und "Eigenverantwortung" nicht aus, um fehlende instrumentelle Politik und (politisch verschuldete) Belastungsgrenzen von "relevanten Systemen" auszugleichen, folgen Drohszenarien, zusätzliche Verpflichtungen (inklusive Kaufzwänge von Masken und Tests), Verbote und angekündigte Sanktionen.
Der "Deutsche Ethikrat" stellte schon früh klar, dass es beim moralischen Appel an "Solidarität" nicht um Bedürfnisse und Interessen der Leute und um ihre gegenseitige Hilfe geht. "Solidarische Eigenverantwortung" beinhaltet für Bürger:innen die Verpflichtung, "Freiheit und Handlungsmöglichkeit im Sinne der Solidargemeinschaft auch für die Überwindung dieser schweren Krise" einzusetzen (Ad-Hoc-Empfehlung: 5f; unsere Hervorhebung). Das heißt, es geht nicht um eine pragmatische und solidarische Praxis der Leute untereinander, sondern um eine verpflichtende Verzichtsmoral, die ein "Großes und Ganzes", offen "Systeme" genannt (genauer: "relevante Systeme"), schützt und sichert, um sie in den bisherigen "Normalzustand" zurückzuversetzen. Die ideologische Strategie von Moralisierung und Personalisierung als Muster von Krisenlösung ohne strukturelle Veränderungen kam dem politischen Betrieb gerade recht. Wie die eingeübten Sicherheits- und Moralpaniken sind "Moral-Appelle" nützlich, um Konflikte als Norm-Abweichung oder Disziplinlosigkeit zu personalisieren und Interessenkonflikte in Konflikte um "individuelle Moral" zu verwandeln; besonders gefährlich werden sie aber in Zeiten realer Gefahr und allgemeiner Gesundheitsgefährdung.
Moralische Appelle funktionieren gut, gleich welche "Sekundärtugenden" sie "top down" propagieren. Denn in ihren Alltagen wissen die Leute aus Erfahrung recht genau, dass sie sich auf ihre Möglichkeiten verlassen müssen. Sie wissen, dass sie ihr "Leben selbst in die Hand nehmen" und zusammen mit anderen organisieren müssen, wenn auch unter nicht selbst gewählten Bedingungen mehr schlecht als recht. Dass die Vereinnahmung von Solidarität als eine Pflicht und Verzichtsmoral sich weitgehend ohne Konflikte, wenn auch nicht ohne einen Kampf um den Begriff durchsetzen konnte, ist einem weiteren geschuldet. Die Propagierung von "Solidarität" profitiert, ebenso wie die gerade aktuellen Beschwörungen von "Zusammenhalt" bzw. "Gesellschaftsspaltung vermeiden", von einer "alten" ideologischen Strategie, die die neoliberale Transformation und ihre Feindbildpropaganda begleitet hat: die Strategie, Begriffe von Befreiungs- und Protestbewegungen zu besetzen. Von daher ist daran zu erinnern, dass Versuche dieser Art wie auch gegenwärtige Strategien - einem möglichen Formwechsel zum Trotz - der Absicherung systemischer Legitimität wie Sicherung der Massenloyalität gelten. Vor knapp zwanzig Jahren hat Michael Hartmann in den Widersprüchen (Heft 93) in seinem Beitrag "Eliten und Demokratie" auf problematische Konstellationen in diesem Verhältnis aufmerksam gemacht: "Die enorme Konzentration von Produktivvermögen in den Händen weniger Promille der Bevölkerung, die Höhe der Vorstandsgehälter und vor allem diesen Personenkreis begünstigenden Steuerreformen zeigen nicht nur die enge Verknüpfung von Wirtschaftselite und Großbürgertum und deren enormen politischen Einfluss, sie lassen darüber hinaus auch allgemeine Schlussfolgerungen zum Verhältnis von Eliten und Demokratie zu. Zunächst kann man bei den maßgeblichen Eliten aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung, zum Teil auch Justiz und Medien, in allen großen Industriestaaten eine spürbare Intensivierung im Sinne von gegenseitigen Verpflichtungen konstatieren" (2004: 21f.) - Bei dieser Beschreibung fühlt man sich an das Konzept der rackets" von Horkheimer erinnert. - Unter den Bedingungen der Corona-Krise haben sich die angesprochenen Fragen von Legitimität und Loyalität u. E. in einer besonderen Dringlichkeit gestellt, da nicht nur die Frage von Lebensqualität, sondern die von Leben überhaupt auf die Tagesordnung geraten ist. Damit unterscheidet sich diese Krise auch wesentlich von der vorausgehenden, dem Platzen der "Blase" des Casinokapitalismus. Die Lösung dieser Krise ließ sich noch dadurch qualifizieren, dass die Frage gestellt wurde, wie es denn reiche Banker und Fondsmanager, deren magischer Geldbaum sich 2008 in Sägespäne verwandelte, es schafften, ihren Hals mithilfe von öffentlichen Geldern in unermesslicher Höhe zu retten, von denen die in der Sozialen Arbeit oder im Gesundheitsbereich Arbeitenden nur träumen können. Zudem, so die AutorInnen der Studie "The New Power Elite", stelle sich die Frage, warum demokratisch gewählte Regierungen es dem 1 Prozent - und dem mit noch geringeren Dezimalstellen - erlaubten wie ermöglichen, sich in der Krise noch weiter zu bereichern, statt pleite zu gehen. Weiter stellt sich die Frage, warum Wählerinnen und Wähler auf der ganzen Welt in folgenden Wahlen sich so verhielten, wie sie sich verhielten (Shipman/Edmunds/Turner 2018: IX).
Vor diesem Hintergrund ist es von besonderem Interesse, dass die jetzige Krisenregulierung cum grano salis gesprochen anders ausfällt, auch wenn man festhalten muss, dass die eingesetzten 1,5 Billionen EUR - anders als uns Politik und viele Medien glauben machen wollen - nicht viel Geld sind. Man muss nur bedenken, dass die "Unternehmenssteuerreform" der Regierung Schröder/Fischer seit ihrer Einführung jedes Jahr 75 Milliarden EUR verschlingt (so das Ergebnis der Berechnungen des IMK Düsseldorf), was multipliziert mit 20 genau diese 1,5 Billionen EUR ergibt.
Die Besetzung des Begriffs "Solidarität", die damit einhergehende Neudefinition und Verwendung als politischer Kampfbegriff ab der Mitte der 1970er Jahre, daran ist zu erinnern, sollte die Macht der (wirklich gar nicht radikalen) Sozialdemokratie und der Gewerkschaften brechen, jene Macht, die zu einer anderen Verteilung der erarbeiten Ressourcen führen sollte, um damit "Chancengleichheit" herzustellen. Es war Mitte der 1970er Jahre die Spezialität von Heiner Geißler, über die Besetzung und Neudefinition des Begriffs "Solidarität" die politische Macht für die CDU und das Projekt des neoliberalen Umbaus des Sozialstaats zurückzugewinnen. Das "Begriffe besetzen", insbesondere den von "Solidarität" für eine "systematische Sozialismuskritik" zu vereinnahmen, richtete sich gegen "die Übermacht der Organisierten", sprich: die "Produzenten", definiert als Einheit von "Arbeit und Kapital" bzw. "Gewerkschaften und Arbeitgebern" (vgl. Geißler 1976: 16ff und viele weitere Stellen). So definierte "Produzenten" konnten so schon in den 1970ern als die wirklich "Unsolidarischen" kategorisiert werden, die "Neue Soziale Fragen" verursachen. Wobei festzuhalten ist, dass Versuche, Neuheiten in der Sozialen Frage zu bestimmen, daran scheitern, dass gesellschaftsimmanent es sich um die "alte" soziale Frage - als Folge von Strukturen und Politiken, die Ungleichheit wie Armut produzieren, handelt (vgl. Sünker 2020).
Mit der Besetzung des Begriffs Solidarität hat Geißler bereits Mitte der 1970er Jahre eine Diskurs- und Politik-Strategie etabliert, die es ermöglicht, Gesellschaft in zwei Kategorien von Leuten aufzuspalten. Gegeneinander in Stellung gebracht wurden Organisierte/Privilegierte (sprich "Produzenten" = "Arbeitnehmer und Arbeitgeber") und die "Unterprivilegierung der Nichtproduzenten" (sprich: Kinder, Jugendliche, nicht erwerbstätige Alte, Frauen). Als empirischen Beweis führte Geißler "Neue Soziale Fragen" an; sie zeigen sich als "Armut im Wohlfahrtsstaat". Damit waren gleich zwei weitere Besetzungen vorgenommen. Arme seien keineswegs die "Gammler, Penner und Tippelbrüder". Und es ist nicht die Stellung und der Status der "Lohnabhängigen", die arm machen; nein, die Merkmale der neuen Armut sind: "weibliches Geschlecht", "Alter", "Kinderreichtum". (Ebenda: 28ff.)
Solche "positiven" ideologische Strategien, die an bürgerliche Sekundärtugenden und christliche Tugendlehren appellieren (Orientierung an "höheren Werten", Verantwortung und Verzicht, Altruismus, Nächstenliebe, Mäßigung), hatten eine Hochkonjunktur bei der Vorbereitung und Durchsetzung der "geistig-moralischen Wende"; vor und kurz nach der Wahl des CDU-Kanzlers Helmut Kohl. In den damaligen Massenmedien, als Teil eines "Normen & Werte-Verbunds" (Cremer-Schäfer/Stehr 1990) wurden uns "Goldmaries" vorgeführt. (Cremer-Schäfer 1993) Wie im Märchen wissen sie sofort, wie sie zugunsten anderer und im Interesse des Großen und Ganzen mit Arbeitslosigkeit oder düsterer Zukunft umgehen. "Berufstätige Hausfrauen" geben selbstverständlich ihren Arbeitsplatz auf, um diesen keinem Mann wegzunehmen. Die bisher gutverdienenden Gastarbeiter, zahlen, das ist ja klar, ihre Vorteile zurück, indem sie freiwillig dahin ziehen, wo es Arbeitsplätze gibt. Junge Leute leben, in der Krise nach dem Motto "statt Traumtänzerei realistische Ansprüche", eine Selbstverständlichkeit.
"Vorbilder" und nicht "Feinde von Gesellschaft und Staat" vorzuführen mag als nur ärgerlich angesehen werden. Die Propagierung von Sekundärtugenden wie "solidarische Eigenverantwortung" oder auch das Bild der "Goldmarie", die ganz natürlich und ohne Aufforderung Verzicht praktiziert, vermittelt auch ein Bild von Gesellschaft als Kampfplatz zwischen zwei Kategorien: zwischen den "Guten" mit der nützlichen (Arbeits)Moral und den notorischen "Störern", die nichts zur Lösung der Krise beitragen. Diese Form von Moralisierung ist ein selbstverständlicher Bestandteil von politischen "Krisenlösungen" geworden. Die in den USA seit John Kennedy beliebte Formel "Frage nicht was dein Land für dich tun kann, frage, was du für dein Land tun kannst" bringt es auf den Punkt. Angesichts der Formwechsel bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften und ihrer Integrationsversuche stellt diese Moralisierung immerhin eine nützliche Nach-Form der nationalsozialistischen Ideologie, "Du bist nichts, dein Volk ist alles" dar. Selbst wenn also mit Moral-Propagierung nicht das Armageddon beschworen wird, spielen diese moralisierenden Strategien der (strukturellen) Tendenz zu, Konflikte zu entpolitisieren, sie als ein soziales Problem zu definieren, das durch eine "Politik des Verhaltens" (vgl. Anhorn/Schimpf/Stehr 2018), durch Verzichtsmoralen und Selbstdisziplinierung zu lösen wäre. Davon hatten wir mehr als ein halbes Jahrhundert mehr als genug. Vor allem aber ändert es nichts an der Realität der bürgerlichen Gesellschaft, deren Beschreibung durch Hegel - allen varieties of capitalism zum Trotz - an Realitätshaltigkeit, vor allem angesichts einer Spaltung zwischen dem 1 Prozent einerseits und den 50 Prozent andererseits, nichts verloren hat: "Die bürgerliche Gesellschaft bietet in diesen Gegensätzen und ihrer Verwickelung das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens dar" (1955: §185).
Die seit fast einem halben Jahrhundert veröffentlichten WIDERSPRÜCHE haben sich zu einem Archiv der Analyse und Kritik dieser "langen Welle" von Ungleichheitsproduktion, Ausschlusspolitik und institutionalisierter Selektivität entwickelt, die wir in diesem Heft als Politik von "Entsolidarisierung" fassen. Das erste Jahrzehnt, Heft 1, 1981 beginnt mit dem Zusammenhang von "Hilfe und Herrschaft". Heft 2 bringt die "Operation '82" auf den Begriff "Sozial(Spar)Staat". Das Doppelheft 4/5 konkretisiert absehbare Folgen: "Spaltung der Gesellschaft. Packeis und Seelenwärme". 1983 thematisiert das neunte Heft "Ausländer. Sündenböcke werden gemacht"; Heft 33 klärt 1989 angesichts von Flüchtlingsströmen, Thatcherism, Falklandkrieg, Nationalismus und deutsch-deutscher Vereinigung über den "Moralisierungsdiskurs" und sein Objekt auf: "die Masse der Modernisierungsverlierer, verstärkt durch Neuankömmlinge neu hierarchisierte Armen- und Flüchtlingssektoren, Metropolen und Peripherien, glitzernde Modernisierungsgewinnler und Deregulierte, Prekäre und Ausgesteuerte" Widersprüche 33,1989: 5). Ende 1992, das Jahr, das wir als "Jahr der Pogrome" gegen Flüchtlinge und Fremde erinnern, analysierten Beiträge von Heft 45 die "Produktion von Rassismus". Ungleichheitsproduktion, Ausschlusspolitik, institutioneller Rassismus und die Verallgemeinerung des neorassistischen Ausleseprinzips auf Armut, Fremdheit und Devianz haben Inhalt, Kritik und Gegenstrategien für drei weitere Jahrzehnte bestimmt. Auf diese andauernde lange Welle der Selektion von Menschen und Kollektiven nach der Zuschreibung der "(Un)fähigkeit" von "Ihnen", ein für "Uns" nützliches (Arbeits)Leben zu führen, sich weder zur "Gefahr von Gesellschaft und Staat" noch zu einer riskanten "Belastungsexistenz" für "unsere (Solidar)Gemeinschaft" zu entwickeln, gilt es zu brechen.
Das Heft wendet sich daher mit zwei Analysen und Argumentationssträngen gegen die ideologische Strategie der Vereinnahmung und Besetzung von "befreienden Begriffen" (wobei bezeichnenderweise die derzeitigen Vereinnahmungen von "Solidarität" und "Freiheit" an "Gleichheit" so gar nicht interessiert scheinen). Das Ideologische und Polarisierende der Strategie wird zum einen mit dem vorhandenen Gegenwissen über Ausschluss-Tendenzen, institutionellen Selektivitäten und Klassenbildungen sowie Politiken der Produktion von Ungleichheit herausgearbeitet. Der andere Strang kritisiert Strategien der Vereinnahmung von Begriffen als eine Enteignung von Emanzipations- und Befreiungsbewegungen und, nicht zu vergessen, als Ausnutzen von Alltagspraktiken. Die Bearbeitung der Konflikte um Teilnahme an Gesellschaft und das Erbringen von Sorgearbeit bringt Umrisse der Formen von solidarischen Praktiken zur Sprache, die in Zukunft gegen diese Erfahrungen nötig und, eine entsprechende soziale Infrastruktur vorausgesetzt, möglich sein werden.
Denn "Solidarisierung als Lernprozess" gedacht bzw. konzipiert, bedarf entschieden einer Vorstellung, wie Michael Vester betont, der Möglichkeit der Aufhebung von wesentlichen Grundmustern kapitalismuskonformen Verhaltens, insbesondere der Prinzipien der Konkurrenz und Askese (vgl. Vester 1971: 143). Verbinden muss sich dies, wie er mit Bezug auf Studien von E. P. Thompson und Raymond Williams betont, mit kulturrevolutionären Ideen bezüglich alternativer Gesellschaftsbilder und sozialer Beziehungen (vgl. ebd.: 145). Eingebunden darin ist die Möglichkeit von zyklischen "Klassen-Lernprozessen" (ebd.: 148), in die auch immer intergenerationelle Beziehungen eingelassen sind (vgl. ebd.: 149).
Dem entspricht auch, was Barrington Moore über Bedingungen grundlegender gesellschaftlicher Veränderungsprozesse bzw. deren Voraussetzungen formuliert hat: "Die wirklich umstürzlerische Form der Kritik (wie wir sie im Übrigen bereits im 11. Jahrhundert bei den Häretikern in Südfrankreich finden, d. Red.) beginnt, sobald das Volk fragt, ob eine bestimmte soziale Funktion überhaupt ausgeübt werden muss, ob die menschliche Gesellschaft nicht ohne Könige, Priester, Kapitalisten oder selbst revolutionäre Bürokraten auskommen könnte" (Moore 1982: 671) - und dies nachdem im bisherigen geschichtlichen Prozess "Zwang, Betrug und Gewalt eine überwältigende Rolle" (ebd.: 668) spielten, so dass es an der Zeit ist, emanzipatorische gesellschaftliche Veränderungen in den Blick zu nehmen und zu realisieren.
Diese Aufgabe ist alt, denn bereits 1832 hat Heinrich Heine Zusammenhänge, Aufgabe wie Perspektive - dabei auch ein altes Bild aufnehmend - anschaulich und treffend beschrieben: "Wenn wir es dahin bringen, dass die große Menge die Gegenwart versteht, so lassen die Völker sich nicht mehr von den Lohnschreibern der Aristokratie zu Hass und Krieg verhetzen, das große Völkerbündnis, die Heilige Allianz der Nationen, kommt zustande, wir brauchen aus wechselseitigem Misstrauen keine stehenden Heere von vielen hunderttausend Mördern mehr zu füttern, wir benutzen zum Flug ihre Schwerter und Rosse, und wir erlangen Friede und Wohlstand und Freiheit" (1972: 358f.).
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Die Beschwörung von "Zusammenhalt", der man in diesen Zeiten permanent begegnet, bildet den Ausgangspunkt für die Analyse von Martin Kronauer zu wesentlichen Qualitäten der widersprüchlichen Grundlagen des Zusammenlebens in kapitalistischen Gesellschaften. Dass die Qualität gesellschaftlichen Zusammenlebens zunehmend aus dem Blick geriet, ist das Ergebnis eines politischen "Kriegs gegen die Gesellschaft" als politisches Gemeinwesen, der in den 1970er Jahren einsetzte. Der Beitrag rückt Gesellschaft als politisches Gemeinwesen wieder ins Zentrum, diskutiert neuartige Überlagerungen von Klassenungleichheiten und Teilhabeungleichheiten im Zuge des Auseinanderdriftens der Gesellschaft, Möglichkeiten der Gegenwehr werden abschließend erörtert.
Gesellschaftspolitisch relevante Elemente im Kontext der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse, die durch extreme Ungleichheit und Ungerechtigkeit bestimmt werden - die Bedeutung von Steuerpolitik betonend -, beleuchtet der Beitrag von Dierk Hirschel. Konkretisiert wird dies an Politiken eines verschärften Um- und Abbaus des Sozialstaates im Rahmen der neoliberalen Konterrevolution sowie eine darin eingelassene umfangreiche steuerpolitische Reichtumspflege, was wiederum zur Frage realer politischer Alternativen in der Bundesrepublik führt.
Scharfe gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse werden von Heinz Sünker sektoral in ihren klassenspezifischen Grundlagen und Folgen diskutiert, wenn er von der bildungspolitischen Produktion von 'Bildungsapartheid' handelt. Interessant ist dies heute, da man permanent mit der Rede von der Solidarität mit den nachwachsenden Generationen konfrontiert wird. Gefährdet wird durch den Mangel an Solidarität - im mehrgliedrigen Schulsystem als Bildungsverhinderungssystem - nicht nur die Bildung aller, sondern auch die Möglichkeit der Demokratisierung unserer Gesellschaft.
Für eine Care Revolution plädiert Gabriele Winker, um jenen kostengünstig verringerten, politisch erzeugten Lücken in der Daseinsvorsorge eine qualitativ gehaltvolle Alternative entgegenzusetzen. Um die Realitätshaltigkeit dieser Perspektive zu prüfen, konfrontiert die Autorin den neoliberalen Hintergrund herrschender Politik mit der Motivation derer, die versuchen, sich Caring Communities als Räume bedürfnisgemäßen und solidarischen Handelns anzueignen.
Der Beitrag von Serhat Karakayli begreift Solidarität als voraussetzungsvollen, im Fall von (internationalen) Interessenkonflikten von Herrschaftsunterworfenen als einen "unwahrscheinlichen Akt" von Widerständigkeit; als historisches Ereignis jedoch keine Unmöglichkeit. Fragen der Ähnlichkeit, der Reichweite von Solidarität, der Macht-Asymmetrie zwischen Ungleichen und die Art und Weise wie sie heute von Ehrenamtlichen der Geflüchteten-Hilfen bearbeitet werden verweisen sowohl auf ein "Solidaritätsproblem" wie auf kollektive Lernprozesse. Diese entstehen nicht "spontan", vielmehr in der Auseinandersetzung mit (auch wohlfahrtsstaatlich) etablierten Grenzen für Solidarität mit "Fremden". Arbeit mit Geflüchteten, die in eine soziale Bewegung eingebettet ist, lässt eine Form notwendiger "aggregierter Sozialität" sichtbar werden, die etablierte Solidar-Institutionen überschreitet.
Helga Cremer-Schäfer versteht Entsolidarisierung als einen Vorgang gradueller sozialer Ausschließung. Sie fragt, weshalb ausgerechnet rechtlose, bekanntermaßen (rassistisch, aufgrund von Geschlechtszuordnung, Religion, Behinderung, Alter, sexueller Identität oder ethnischer Herkunft) diskriminierte Personen bzw. Kollektive kontinuierlich privilegiert werden, wenn es um die Zuschreibung von "Gefährlichkeit", von "Kriminalität" oder von Mängeln an "Gemeinschaftsfähigkeit" geht. Am Beispiel der Konjunkturen von Fremden- und Armenfeindlichkeit seit Ende der 1960er Jahre wird deutlich, dass "Rationalisierungen" von wirtschaftlich und politisch organisierter sozialer Ausschließung nicht nur auf kulturell abgesicherte Stereotype bzw. Etiketten zurückgreifen kann. Das herrschende identifizierende Denken, das "Ticket-Denken", ermöglicht, dass gegen arme Leute, rechtlose Flüchtende, verachtete Fremde, von institutionellem Rassismus Betroffene (gleich welcher Geschlechtszugehörigkeit) "Ausschließung ohne Schuldgefühl" praktiziert werden kann: Techniken, die die (bürgerlichen) Ideen von Freiheit, Gleichheit vor dem Recht, Meritokratie (mit einem Minimum an Solidarität mit Schwachen und Diskriminierten) nachhaltig neutralisieren, werden beständig modernisiert.
Die "Miniaturen" greifen den Zusammenhang der Durchsetzung von "Neoliberalismus als Ausschließungsregime" (Christine Resch und Heinz Steinert) und dessen Moralisierungs-, sprich Ideologie-Bedarf auf: Mit Heinrich Heine erinnern wir daran, dass Moral-Forderungen vornehmlich auf die "Rettung" eines uns übergeordneten Großen und Ganzen zielen. Reinhard Kreissl stellt dar, dass die nachträgliche Skandalisierung von Hedge-Fond Betreibern als "Heuschrecken" keineswegs einem "ordentlichen" Kapitalismus den Weg bereitet; es wird nur die populistische Strategie wiederholt, die Feinde "unten" und "oben" konstruiert.
Im Forum befragt Martina Pistor den Diskurs um Sterbehilfe, ob und wie die Ambivalenz von Selbstbestimmung und Hilfe durch Institutionalisierungen bearbeitet werden könne. Ihr Weg besteht darin weitere Fragen zu stellen.
Die Rezensionen von in diesem Heft verbindet mit dem Heftschwerpunkt, dass sie in Bezug auf "Wohnen" und die Bildung von "Gegenöffentlichkeit" Alltagsstrategien der Leute und antirassistische Bewegungen aufgreifen, die "von unten" herrschenden Tendenzen von Endsolidarisierung entgegenarbeiten.
Literatur
Anhorn, Roland/Schimpf, Elke/Stehr, Johannes 2018: Politik der Verhältnisse - Politik des Verhaltens: Einleitende Anmerkungen zum Thema des Bundeskongresses Soziale Arbeit 2015. In: Roland Anhorn: Politik der Verhältnisse - Politik des Verhaltens. Widersprüche der Gestaltung Sozialer Arbeit:1-17
Cremer-Schäfer, Helga 1993: Die Entdeckung der Goldmarie im öffentlichen Moral-Diskurs der 1980er Jahre. In: Detlev Frehsee, Gabi Löschper, Karl F. Schumann: Strafrecht, soziale Kontrolle, soziale Disziplinierung. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Bd. 15, 1993: 139-149
Cremer-Schäfer, Helga/Stehr, Johannes 1990: Der Normen & Werte-Verbund. Strafrecht, Medien und herrschende Moral. In: Kriminologisches Journal 22. Jg.:90-104
Deutscher Ethikrat 2020: Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. AD-HOC-Empfehlung. Berlin (https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deu...)
Geissler, Heiner 1976: Die Neue Soziale Frage. Analysen und Dokumente. Freiburg
Hartmann, Michael 2004: Eliten und Demokratie. In: Widersprüche 24 (Heft 93): 13-28
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1955: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hamburg
Moore, Barrington 1982: Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand. Frankfurt/M.
Heine, Heinrich 1972: Französische Zustände. Vorrede. In: Ders.: Werke und Briefe in zehn Bänden, hrsg. von Hans Kaufmann. Bd. 4. Berlin und Weimar: 368-383
Shipman, Alan/Edmunds, June/Turner, Bryan S.: The New Power Elite. Inequality, Politics and Greed. London
Sünker, Heinz 2020: Die "neue" Soziale Frage ist die "alte" Soziale Frage. In: Stefan Paulus et al. (Hrsg.): Mechanismen der Sozialen Frage. Berlin: 265-274
Vester, Michael 1971: Solidarisierung als historischer Lernprozess. Zukunftsperspektiven systemverändernder Praxis im neueren Kapitalismus. In: Diethart Kerbs (Hrsg.): Die hedonistische Linke. Neuwied/Berlin: 143-198
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