Dialogisches Handeln und Forschen
Editorial
Der brasilianische Befreiungspädagoge Paulo Freire (1921-1997) gilt als Vorreiter einer emanzipatorischen Pädagogik. Zeitlebens analysierte er die Beziehungen zwischen Herrschenden und Unterdrückten. Er war überzeugt, dass eine emanzipatorische Pädagogik Macht- und Herrschaftsverhältnisse transformieren könne. Sein Wirken und Werk erfährt bis heute weltweite Anerkennung und Resonanz. Zentrale Konzepte wie die "Kultur des Schweigens" oder die "Bewusstseinsbildung als Praxis der Freiheit" geben auch heute noch wichtige Impulse für eine dialogische Pädagogik und politische Reflexion im globalen Kontext. Sich der Schwierigkeit von Veränderung bewusst, begriff er Geschichte stets als Zeit der Möglichkeiten und verweigerte sich einem deterministischen Weltbild. Früh warnte Freire vor den Gefahren einer fatalistischen Ideologie, die uns glauben machen möchte, dass wir nichts gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit tun können; außer uns ihr anzupassen.
Das vorliegende Heft nimmt Freires frühe Kritik der neoliberalen Ideologie in den Blick und unternimmt den Versuch, seine theoretischen und praktischen Ansätze sowie seine unzähligen Erfahrungen vor dem Hintergrund der Globalisierung und Digitalisierung neu zu bewerten.
Nach einer emphatischen Rezeption von Freires "Pädagogik der Unterdrückten" (1970) in der BRD, nachvollziehbar in der Publikation "Die Methode Paulo Freire. Pädagogik der Dritten Welt"
Die Paulo-Freire-Kooperation (PFK e.V.) unternahm im Herbst 2018 das Wagnis, mit einer Konferenz zum Thema "Dialogisches Denken und Bildung als Praxis der Freiheit. Mit Freire den Herausforderungen einer inklusiven Gesellschaft begegnen", den Einfluss seiner Pädagogik in der deutschen Bildungslandschaft zu bilanzieren und alte wie neue Interessierte zusammen zu bringen. Über hundert Teilnehmende aus aller Welt trafen sich für drei Tage an der Universität Hamburg. Die Beiträge der Tagung sind in einem Band
Und nicht zuletzt ist auch dieses Heft der Widersprüche angestoßen worden von den Debatten, die auf der Tagung geführt worden sind.
Der Themenkomplex Sprache, Denken, Praxis wird in diesem Heft weiter ausgefächert. Mit seiner Pädagogik der Unterdrückten hat Freire 1968 (vor 50 Jahren) eine tiefgreifende Untersuchung der gesellschaftlichen Verhältnisse vorgelegt, innerhalb derer - mithilfe der Alphabetisierung - ein Prozess politischer Bewusstwerdung möglich wurde. Die kolonisierten Gedankenwelten von den ideologischen Setzungen zu befreien, ist ein stetiger Prozess. Es ging und es geht noch immer um die Eroberung eigenständiger Sichtweisen und der selbständigen Gestaltung der Lebenswelten, in der Auseinandersetzung mit den politischen und ökonomischen Kräften.
Heutige Gegner von politisch agierender Bildung sind das weltweite Finanzkapital und die globalen Konzerne, vor allem die der digitalen Technik. Gespeist von den Ideen und Mythen des Neoliberalismus (von Hayek, Milton Friedman et al.) geht es um die totale Unterwerfung aller menschlichen Bedürfnisse und Gedanken unter die Interessen des Profits. Als neues Glaubenssystem durchdringt es mittlerweile alle Lebenswelten und hat weltweit alle anderen existierenden Glaubenssysteme überflügelt - und ergötzt sich dabei am Kampf der alten Konfessionen untereinander.
Das Korrektiv liegt in der Aufdeckung, Bewusstmachung und Verweigerung dieses Glaubenssystems und in der Rückbesinnung auf das, was den Menschen von Anfang und der Wiege an auszeichnet: die Kooperation. Das ist das Zusammenwirken konkreter Menschen, die mit einander kommunizieren, auch streiten, aber in gegenseitiger Anerkennung.
Es geht hier und heute um die Gestaltung einer Politischen Alphabetisierung, in der wir unsere 'generativen Themen' im Spannungsfeld von Denken, Sprache und Handlungsfeldern (Wirklichkeit) neu bestimmen. Im Dialog und in kritischer Auseinandersetzung werden gesellschaftliche Antagonismen als Gegensätze analysiert, die durch die Struktur des Systems bedingt sind, aber politisch gestaltbar bleiben. Die sog. Sozialen Medien müssen als unkontrollierbare Instanzen kritisch hinterfragt und in öffentlich und demokratische Kontrolle überführt werden. Auch die uns digital fertig gelieferten Weltsichten der Medien, sind zu dekodieren und das will gelernt und gelehrt sein. Selbstregulierte Formen der Vernetzung und der Kooperation sollten untersucht und gefördert werden (Betriebsräte, Gewerkschaften, Genossenschaften, Bürgerinitiativen etc.). Im Sinne Freires "das eigene Wort" erarbeiten, im kritischen Denken und Entwerfen von Handlungsschritten mit anderen. Als lebendige Inszenierung sozialer Konflikte, als provokante performance im öffentlichen Raum, als bunter Protest oder militanter Streik.
Das zentrale Thema Sprache und die Arbeit an den Begrifflichkeiten, mit denen wir die Welt erfassen, wird in verschiedenen Beiträgen bearbeitet, wie in der Analyse linguistischer Aspekte bei Paulo Freire und Judith Butler sowie der Untersuchung der Einflüsse von Karl Mannheim auf das Denken von Freire - und von uns allen - , sowie der Kritik von Siegfried Landshut an grundlegenden Annahmen Mannheims.
Freires Denken bündelt die humanistische Tradition und positioniert sie neu im Kampf um friedliche Formen eines inklusiven Zusammenlebens mit der Teilhabe aller an den Ressourcen - global, regional, lokal, eingebunden in die Auseinandersetzungen um 'gender', 'class' und Rassismus.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Der Beitrag von Heinz-Peter thematisiert zwei zentrale Begriffe des Freire'schen Denkens, Zorn und Hoffnung. Er parallelisiert sie mit den gleichfalls eschatologischen Konzepten "denúncio" und "anúncio". Ersteres, die Anklage, wird als Ergebnis von Untersuchungen im unterdrückerischen Umfeld interpretiert, die produktive Wendung des Zornes. Letzteres, die Hoffnung auf eine andere Welt, gibt Freire die im christlichen Glauben wurzelnden Gewissheit um die Möglichkeit von mehr Menschwerdung in Bildung und Gesellschaft. In einer ersten Annäherung an das Thema präsentiert Heinz - Peter Gerhardt Materialien in denen zornige Anklage und Hoffnung Wirklichkeit geworden sein könnten. In einer zweiten Annährung zeigt er Risse im Bildungssystem auf, die Widerstandmöglichkeiten beinhalten. Im Schlussteil entwickelt Gerhardt normative Leitlinien einer befreien Bildungsarbeit in unserer Gesellschaft.
Jutta Lütjen schreibt über Anthropologische Grundannahmen im Werk von Paulo Freire. In Theorie und Praxis wird Pädagogik prinzipiell von der philosophischen Deutung der menschlichen Existenz geprägt, die sich richtungsweisend in Bezug auf Ziele, Methoden und Techniken auswirkt. Infolge sind Erziehung und Bildung nach Freire niemals neutral, sondern ein Instrument entweder zur Domestizierung oder Befreiung des Menschen.
Entsprechend wurde auch Freires befreiende Pädagogik durch ein grundlegendes Menschenbild initiiert, wenngleich er dieses selbst nie explizit als eine zusammenhängende Anthropologie verfasst hat. In diesem Artikel nun soll dargestellt werden, wie eine Anthropologie Freires wohl ausgesehen haben könnte.
Arnold Köpcke-Duttler zeigt in seinem einleitenden Teil die Freire und Gustavo Gutiérrez gemeinsame Proklamation der Annäherung an das irdische Reich Gottes. Die befreiende Praxis widerstehe Systemen der Unterdrückung und Ausbeutung der Armen. Der zweite Teil umreißt Gutiérrez' Aufruf, Befreiung heiße Bekehrung zum Nächsten, Gotteserkenntnis heiße, den Armen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Von diesen Grundzügen aus wird der Bogen der umfassenden Befreiung ausgespannt zu der Kinderrechtskonvention und zu der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Der abschließende Teil nimmt die Herausforderung einer "Politik der Befreiung" (Enrique Dussel) auf.
Lange hieß es überwiegend und manchmal hört man es heute noch: Paulo Freire ist gut für die Dritte Welt, aber er passt nicht in unsere Erste Welt. Michael May und Timm Kunstreich halten das für eine Ausrede, um sich vor den radikalen, d.h. an die Wurzeln gehenden Konsequenzen zu drücken. Insbesondere das professionelle Selbstverständnis wird herausgefordert. Das Handlungskonzept von Kodierung und Dekodierung steht im deutlichen Gegensatz zur Praxis klinischer Diagnostik. bzw. im Konflikt mit derartigen Objektivierungen. Die beiden Autoren haben ihre jahrzehntelange Erfahrung in der Umsetzung der "problemformulierenden Methodik" in Ihrem Text zu einem Ansatz partizipativem Handelns gebündelt, um zu zeigen, dass Paulo Freire außerordentlich aktuell ist.
Paulo Freire schuf mit seiner "Pädagogik der Unterdrückten" Methoden und Praxen, die es ermöglichen sollten, dass Unterdrückte und Ausgebeutete sich ihrer selbst bewusst wurden und den Mut fanden sich gegen ihre Unterdrückung zu wehren. Eine sich politisch konzipierende soziale Arbeit, die sich ihres Anspruchs Menschenrechtsprofession zu sein und sich ihren Gründungsmythen der Gerechtigkeit, der Freiheit und eines "Guten Lebens" aller Menschen verpflichtet fühlt, kann sich am Neulesen von Freires Gedanken in einer Zeit orientieren, die von ihr angesichts sozialer Verwerfungen eigentlich politische Positionen fordert, die sie aber offenkundig aufgegeben hat. Das beinhaltet nach Ronald Lutz auch einen kritischen Blick auf ihre Ökonomisierung und ihre Einbindung in eine neoliberale Neuerfindung des Sozialen.
Dietlinde Gipser erörtert in ihrem Beitrag die Methoden des Theater der Unterdrückten - Theater der Befreiung von Augusta Boal als eine mögliche praktische Umsetzung des Konzeptes von Paulo Freire. Sie formuliert 12 Thesen zum Einsatz des Theaters im und als Bildungsprozess. Sie schildert ihre langjährigen Erfahrungen mit dem TdU und erläutert anhand von Beispielen seine Bedeutung für eine emanzipatorische Forschung und für die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen.
Dirk Oesselmann berichtet über Schulparlamente in Brasilien. Sie wurden in den 1990 und 2000er Jahren zu einem wichtigen Arbeitsfeld, um den Ansatz und das Anliegen Paulo Freires verstärkt in das Bildungssystem zu tragen und weiterzuführen. Der Beitrag beruht auf Erfahrungen eines langjährigen Projekts im Amazonasgebiet, angesiedelt an der Universidade da Amazônia und unterstützt von UNICEF und dem Paulo-Freire-Institut in São Paulo. Deutlich wird, dass es dabei um mehr als Demokratielernen geht, sondern um eine veränderte Perspektive auf Bildung: Schule als Teil von Stadtteilentwicklung sowie Bildung als politische Teilhabe sind dabei zentrale Stichworte.
HP Gerhardt und Philipp Andrae nehmen die aktuelle politische Situation in Brasilien in den Blick und berichten über die jüngsten bildungspolitischen Auseinandersetzungen in dem politisch und sozial gespaltenen Land. Im Mittelpunkt steht der Versuch der Regierung Bolsonaro ein Exempel an dem renommierten und weltweit anerkannten Pädagogen Paulo Freire zu statuieren und damit eine neue, neoliberale Ägide in der brasilianischen Bildungspolitik einzuleiten.
Manfred Peters liefert eine Analyse: Paulo Freire (1921-1997) und Judith Butler (* 1956) haben beide ihre Zeit geprägt und prägen weiterhin unsere Gesellschaft. Freire wird weltweit als der bedeutendste Pädagoge (oder besser Andragoge) des 20. Jahrhunderts betrachtet, Butler zählt zu den einflussreichsten Denkerinnen der Gegenwart. Obschon sie sich nur indirekt mit dem Phänomen Sprache beschäftigt haben bzw. beschäftigen, geben sie auch den Linguisten wertvolle Anregungen. Freires Sprachmodell ist eindeutig handlungsorientiert; bei Butler steht der performative Aspekt im Vordergrund.
Heiner Zillmer untersucht den Zusammenhang zwischen Denken, Sprache und Wirklichkeit, mit dem sich Paulo Freire sehr intensiv auseinandergesetzt hat. Karl Mannheim hat im Rückgriff auf Marx und dessen Maxime 'das Sein bestimmt das Bewußtsein' das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis in seinem Werk Ideologie und Utopie eingehend untersucht. Siegfried Landshut, einer der wichtigsten politischen Denker, der lange Zeit unbeachtet geblieben war, hat den Ansatz von Mannheim kritisiert und festgestellt, dass die theoretischen Ableitungen von Mannheim dazu führen können, dass der Kampf um die soziale Vorherrschaft total wird, die Rivalität politischer Gegner zur Todfeindschaft und die Brutalität des reinen Machtkampfes gerechtfertigt werden. Landshut plädiert für einen Begriff von Politik, der dem von Freire nahe kommt und mit dem demokratische Prozesse gefördert werden können.
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