Der kontraktuelle Sozialstaat
Editorial
There was a young lady of Riga who rode with a smile on a tiger. They returned from that ride with the lady inside. And a smile on the face of the tiger.
Die ersten kräftigen Wogen der Diskussionen und Auseinandersetzungen um die Neue Steuerung in den Bereichen der Sozialen Arbeit scheinen sich zu glätten. Dem einen ist dies natürlichen politkonjunkturellen Abnutzungs- resp. Abschaukelungsprozessen geschuldet, dem anderen ist dies mehr dem breiten Strand institutioneller oder professioneller Resistenz und Subversion zuzurechnen, an dem schlussendlich noch jede Welle irgendwie versickerte. Beruhigende Nachrichten machen die Runde: Trotz KGSt (Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung) und Bertelsmann-Stiftung sei noch kein einziges Jugendamt voll neu gesteuert, gebe es erhebliche Variationen im Implementationsgrad ökonomischer Steuerungsmechanismen, stelle sich die alltägliche Handlungspraxis trotz des neuen Jargons gegenwärtig kaum anders dar als vor der Ära Neuer Steuerung. War also die ganze Aufregung umsonst? Alles halb so schlimm? Die Befürchtungen im Hinblick auf die Erodierung des öffentlichen Dienstleistungssektors durch marktförmige Steuerungsmodi nur ein typisch linker Alarmismus?
Jeder Koch weiß, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird. Letztendlich aber hat immer jemand die Suppe auszulöffeln, und sei sie noch so abgestanden. Geht man davon aus, dass der Sozialstaat, seine Institutionen und Einrichtungen keine Maschine sind, so ist es nicht verwunderlich, dass die technokratischen Pläne einer Umsteuerung (sic!) von der jeweils vorfindlichen institutionellen Struktur, von professionellen Konzepten, Ethiken, Identitäten und (fach-)politischen Strategien moderiert und modifiziert werden. Je nach gegebenen Kräfteverhältnissen provozieren solche top-down-Strategien - und seien sie noch so aufwendig als Organisationsentwicklung, Leitbilddiskussion, Produktzirkel etc. drapiert - ein breites Spektrum an Verhaltensweisen auf Seiten der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, das von Resignation, innerer Kündigung, subkutanen Unterlaufensstrategien bis hin zu Kritik und fachpolitischem offenen Widerstand reicht. Aber auf der anderen Seite des Reaktionsspektrums finden wir auch Anpassung, offene Akzeptanz, Hoffnungen auf eine Aufwertung marginaler gesellschaftlicher Handlungsbereiche, oder aber Karriereaspiranten, die mittels der Adaption der scheinbar unumgänglichen Handlungs-, Denk- und Redeweisen privatwirtschaftlichen Managements gerne bereit sind, den Tiger zu reiten (vgl. Schnurr 1998).
In den Versuchen zur Neu-Steuerung des Sozialbereichs hatte der Begriff der "Dienstleistung" für die Ebene der Professionellen eine zentrale Position eingenommen. Das Verhältnis von Sozialarbeitern und Klienten sollte der im privatwirtschaftlichen Sektor vorherrschenden Beziehungsstruktur von Dienstleistungsanbietern und "Kunden" nachempfunden werden. Obwohl allen Beteiligten klar war, dass der Rede vom Klienten als "Kunden" aufgrund der diesen qualifizierenden, aber gleichwohl fehlenden Mittel im Sozialstaat - wenn überhaupt - nur symbolischer Wert zugemessen werden konnte, kommt in der im Kundenbegriff stets latent mittransportierten Vorstellung vom "König" der Warenbeziehung der Wunsch zum Ausdruck, das Verhältnis von Sozialarbeiter und Klient symbolisch zu reformulieren. Hatte schon die Lebensweltorientierung die starke Stellung des Subjekts betont, so reicht der Dienstleistungsbegriff darüber hinaus, indem strukturell dem nachfragenden Subjekt das Primat zuerkannt wird. Indem der einzelne abhängige Klient in Analogie zum Markt als individuell nachfragender Kunde reformuliert wird, auf den sich die Leistung der Professionellen dienend, d.h. nachgeordnet bezieht, schien es möglich zu werden, den Bereich Sozialer Arbeit vom Schmuddelkinderimage zu emanzipieren und gesellschaftlich aufzuwerten.
Stand zunächst im Hinblick auf die Handlungsspielräume der Profession die Kritik der - aus systematischen Gründen kaum möglichen - sortenreinen Implementation ökonomischer Kategorien des privatwirtschaftlichen Sektors - "Kunde", "Dienstleistung(sunternehmen)", "Produkt", "output" etc. - in den öffentlichen Sektor als Kampf um hegemoniale Positionen im Sozialstaat im Vordergrund, so scheint sich nach dem Abebben dieser spitzen Wellen nun am Festlandssockel des Sozialstaates eine breite Dünung aufzubauen, die weit kräftiger und nachhaltiger, und damit konsequenzenreicher zu sein vermag: der Aufstieg des professionellen Managements in den Organisationen der Sozialen Arbeit.
Ein zentraler Ansatzpunkt des in fast allen kapitalistischen Ländern der Welt zu findenden "New Public Management" samt seinem deutschen Derivat "Neue Steuerung" war neben der Umsteuerung staatlicher Einrichtungen "Von der Eingriffsbehörde zum modernen Dienstleistungsunternehmen" (KGSt) die Auslagerung staatlicher Dienstleistungen in einen Markt konkurrierender Anbieter. Über die Aushandlung von Verträgen soll der Leistungsanbieter an die Vorgaben staatlicher Auftragserteilung gebunden, somit die funktionale Erfüllung sozialstaatlicher Regulierungsleistungen auch im nichtstaatlichen Erbringungskontext gesichert werden. Unter Konkurrenzbedingungen ergibt sich daraus in der Perspektive der Leistungsanbieter nach außen hin die Notwendigkeit kontinuierlicher Marktbeobachtung und kompetitiver Aushandlung von Kontrakten, nach innen eine Restrukturierung der Organisation im Sinne einer auf die verhandelten Leistungsmerkmale - und nur diese! - effizient ausgerichteten Einrichtung. Dass dies nicht ohne spezialistische Kenntnisse bezüglich komplexer Marktsituationen, komplizierter Aushandlungsprozeduren und marktstrategischer Analysen und Kalkulationen erreicht werden kann, liegt auf der Hand. Die Konsequenz ist die Herausbildung spezialistischer organisationeller Teilfunktionen, die von Personengruppen, die als Management bezeichnet werden können, ausgefüllt werden.
Die Differenzierung und Spaltung von ausführender Sozialarbeit und sich tendenziell betriebswirtschaftlich professionalisierendem Management zeichnet sich in allen Ländern mit New Public Management ab bzw. ist dort, wo es mit Konsequenz durchgesetzt wurde, bereits Realität (vgl. Fabricant/Burghardt 1992; Harris 1996; sowie die Aufsätze in diesem Heft). Die Konsequenzen für die Soziale Arbeit, insbesondere dort, wo sie professionell auszufüllende Ermessenspielräume reklamiert, sind noch nicht vollständig abzusehen. In den in diesem Heft publizierten Beiträgen wird deutlich, dass es nicht nur die kontraktualistische Restrukturierung sozialer Dienstleistungen, nicht nur die organisationelle Spaltung von Professionellen und Management - unter Dominanz der letzteren, und damit eines neuen Typus von Kontrolle - ist, die zur Beunruhigung Anlass gibt, sondern ganz wesentlich die managerielle Reformulierung zentraler Kategorien, Relevanzsysteme, Wertorientierungen wie des politischen Selbstverständnisses der Sozialen Arbeit.
Wieder einmal ist es zur Einschätzung unserer eigenen - wenngleich institutionell und strukturell durchaus differenten - Situation hilfreich, den Blick über's Wasser - dieses Mal des englischen Kanals und der unermesslichen Weiten des pazifischen Ozeans - gleiten zu lassen und die Analysen und Erfahrungen unserer KollegInnen aus Großbritannien, Neuseeland und Australien in ihren Auseinandersetzungen mit den im Vergleich zu unseren Bedingungen weitaus rigider und mit großer Härte durchgesetzten Politiken der Minimalisierung des Wohlfahrtsstaates zur Kenntnis zu nehmen. Dies wäre eine Voraussetzung dafür, der sich abzeichnenden großen Welle des Managerialismus einige politische Wellenbrecher entgegensetzen zu können.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Vicky White rekonstruiert das Verhältnis von Management und Profession im Hinblick auf professionelle Ermessensspielräume. Dabei wird deutlich, dass im Rahmen der kontraktuellen Restrukturierung der Leistungsseite Sozialer Dienste der Anspruch auf die detaillierte Kontrolle sozialarbeiterischer Tätigkeit systematisch umgesetzt wird. Durch produkt- und verfahrensbezogene Kategorisierungen und Definitionen sozialarbeiterischer Tätigkeit werden die Handlungsspielräume von Professionellen auch auf der Ausführungsebene grundlegend eingeschränkt. In der in diesem Aufsatz aufgezeigten verstärkten Subsumtion Sozialer Arbeit unter managerielle Kontrollregime wird die auch hierzulande im Rahmen theoretischer Auseinandersetzungen über den gesellschaftlichen Status der Sozialer Arbeit grassierende Rede von der 'Autonomie' dieses Handlungssystems grundlegend konterkariert.
Wie in kaum einem anderen Land der Erde wurde in Neuseeland in den beiden vergangenen Jahrzehnten eine radikale Abkehr von einem umfassenden wohlfahrtsstaatlichen Modell hin zu einem auf die Bedarfe der 'wirklich Bedürftigen' ausgerichteten minimalistischen 'Wohlfahrtsstaat' durchgesetzt. Grant Duncan und Jill Worrall machen vor dem von ihnen explizierten Hintergrund der politisch-ökonomischen Umsteuerung des Wohlfahrtsstaates deutlich, auf welche Weise in einer Verschränkung von bürokratischen und manageriellen Prinzipien neue Herrschaftsverhältnisse im Feld der Sozialen Arbeit etabliert werden können. Längere Passagen können als eindrucksvolle Beispiele zu den Ausführungen von Vicky White gelesen werden. Auch hier sind es die managerialistischen Kategorien, Indikatoren und Kennziffern, die die alltägliche Arbeit von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern formieren und in ihrem professionellen Gehalt bedrohen.
Der zentrale Mechanismus des New Public Management, die Aufspaltung von Anbieter und Abnahmeseite und ihre Wiederverkoppelung durch Vertragswerke, die in kompetitiven Verhandlungen vereinbart werden, steht im Zentrum der Untersuchung von Michael Muetzelfeldt. In Ansehung des unerbittlich durchgeführten Kontraktualismus im australischen Bundesstaat Victoria geht er den Konsequenzen dieser Spaltung für die öffentlichen und die freien, nicht regierungsgebundenen Formen der sozialen Dienstleistungserbringung nach. Er zeigt, dass sich die behaupteten Effizienzsteigerungen durch kontraktualistische Formen der Dienstleistungsproduktion nicht nachweisen lassen, sondern dieser Weg im Gegenteil zu einer Erosion politischer Auseinandersetzungen über öffentlich zu erbringende Leistungen beiträgt - woran deutlich wird, dass die Strategie der Kostensenkung einen hohen politischen Preis hat.
Die Redaktion
Literatur
- Fabricant, Michael B.; Burghardt, Steve 1992: The Welfare State Crisis and the Transformation of Social Service Work. Sharpe, Armonk/NY
- Harris, John 1996: Soziale Arbeit als Business: Märkte, Manager und Konsumenten in der britischen Sozialarbeit. In: Widersprüche 59, S. 31-43
- Schnurr, Stefan 1998: Jugendamtsakteure im Steuerungsdiskurs. In: neue praxis 4, S. 362-382