Am Ende Inklusion? Reform der Kinder- und Jugendhilfe
Editorial
Die große Koalition aus CDU/CSU und SPD hat fast vier Jahre lang mehr schlecht als recht den hegemonialen Konsens neoliberaler Krisen-Bearbeitung verwaltet, die Konservativen mit dem Schwerpunkt auf der berühmt-berüchtigten "Schwarzen Null", die Sozialdemokraten durften mit dem Mindestlohn den Niedriglohnsektor stabilisieren. Lange Zeit schien vergessen, dass im Koalitionsvertrag auch eine Reform des SGB VIII verabredet war. Vergleichbar der Geheimniskrämerei um TTIP kursierten 2016 eine ganze Reihe unterschiedlicher "geheimer" Entwürfe, die die Fachwelt in Aufregung und in Bewegung setzten. Der letzte Entwurf des sog. "Kinder- und Jugend-Stärkungs-Gesetzes ist am 22. September von der Tagesordnung des Bundesrats genommen worden. Deshalb geht es in diesem Heft nicht um einzelne Paragrafen einer möglichen "Reform", sondern vielmehr um die Konflikte und Widersprüche der aktuellen Regulierung des gesellschaftlichen Feldes der Kinder- und Jugendhilfe, einschließlich der Familienförderung.
"Dieser Entwurf reißt aber selbst die Verbandsexperten nicht mehr vom Hocker. Die Reformluft hat sich vollends verflüchtigt. Wenn wir den Referentenentwurf unter die Lupe nehmen, so nicht in der Absicht einzelne Paragrafen zu kritisieren. Es geht uns um die Tendenzen, die in diesem Gesetz angelegt sind. Statt sich an den Interessen der Kinder und Jugendlichen zu orientieren, wird das Jugendhilfegesetz technokratisch durchstrukturiert, wird der disziplinierende Charakter offensichtlich" (Editorial zu Heft 19 des Informationsdienstes Sozialarbeit vom Februar 1978: 3). Die erstaunliche Aktualität dieses Zitates macht deutlich, dass die Grundfrage dieses gesetzlichen Regelungsbereichs weiterhin umstritten ist: die eigenständigen Rechte von Kindern und Jugendlichen. Ähnliche Kritiken lassen sich zu allen 22 Novellierungsentwürfen finden, die es bis zum Inkrafttreten des Kinder-und Jugendhilfegesetzes von 1989/1990 gab. In Heft 34 dieser Zeitschrift (März 1990) kritisierten wir nicht nur die Familienlustigkeit und die Ausweitung (subtilerer) Kontrolle durch ambulante Maßnahmen unter dem Deckmantel von Prävention, sondern vor allem das Fehlen "eigenständiger Rechte von Kindern und Jugendlichen, die nicht aus den Rechten der Eltern, der Erwachsenen generell bzw. deren Institutionen (Schule, Heime usw.) abgeleitet sind" (Editorial Heft 34,19 190: 5; vgl. dazu Heft 38 vom April 1991: Kinder? Kinder!).
Auch dieses Gesetz wurde in den letzten 25 Jahren mehrfach ergänzt und erweitert. In diesen Novellierungen wird ein schleichender, aber sehr wirksamer Gestaltwandel des gesamten Feldes deutlich. Nach der überraschenden Verabschiedung des Gesetzes
Drei Entwicklungen führten vor allem seit dem Beginn des neuen Jahrtausends zu Einem grundlegenden Gestaltswandel. Mit der Einführung der Entgeltfinanzierung für den gesamten Bereich der Hilfen zur Erziehung 1999 begann die Umkehrung dieses Verhältnisses von Regel und Ausnahme. Es stellte sich schnell heraus, dass die "Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsvereinbarungen nach §§ 78a ff. SGB VIII" so etwas wie die Erlaubnis zum Gelddrucken waren. Die Ausgaben in diesem Bereich stiegen überproportional an und verdoppelten sich beinahe im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends. Dies obwohl z.B. in der Sozialpädagogischen Familienhilfe trotz gestiegener Fallzahlen durch pro Fall reduziertem Stundenumfang insgesamt nicht mehr Fachleistungsstunden aufgewendet wurden. Durch die fast panische Reaktion auf (angeblich steigende) Kindeswohlgefährdungen erhielten die Hilfen zur Erziehung noch mal eine zusätzliche Dynamik. Diese zumindest zu verlangsamen, d.h. mindestens die Steigerungsraten zu verringern, ist ein zentrales Ziel der bisherigen Novellierungsvorlagen.
In den Auseinandersetzungen um den Weg vom Kinder-und Jugendhilfegesetz zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (das eher ein "Schutzgesetz" in traditionellem Sinne ist) kommt es zu schwierigen, manchmal überraschenden Frontbildungen. So werden die Familienorientierung und die Elternrechte auf einmal auch von denen verteidigt, die sie bei Inkrafttreten des KJHG scharf kritisiert hatten; so sehen sich die kritischen Kräfte, die seit den siebziger Jahren eine Gemeinwesen- bzw. Sozialraumorientierung gefordert und vielfach auch umgesetzt hatten, im Geruch, den "neoliberalen Sparern" auf den Leim zu gehen. Die kontroversen Diskussionen in der Zeitschrift "neue praxis" in den letzten Jahren bildet diese Debatte sehr differenziert ab. In diesem Heft wollen wir deshalb nicht die mittlerweile bekannten Position verdoppeln, sondern den angedeuteten Gestaltwandel der Umkehrung von Regel und Ausnahme nachgehen, dessen Kennzeichen nicht zuletzt Klinifizierung und Bürokratisierung anstelle von Partizipation sind.
Der aktuelle Diskurs ist dadurch gekennzeichnet, dass er die professionspolitischen Eigeninteressen der Sozialen Arbeit in den Vordergrund stellt (siehe Berliner Papier: http.fluechtlinssozialarbeit.de) und zugleich einen immer größeren institutionellen bzw. organisatorischen Überhang produziert, der die immer schon bestehende Selbstreferenz der Institutionen weiter verstärkt: Die Formierung eines "Care-industriellen Komplexes" setzt auf die immer detailliertere Einzelfallfixierung ("sozialpädagogische Diagnosen") mit entsprechender immer stärkerer Spezialisierung (Ausdifferenzierung der gesamten Stufenleiter nach §§ 28-35 SGB VIII). Was fast völlig fehlt, ist die systematische und eigenständige Wahrnehmung der Lebenssituation der AdressatInnen bzw. NutzerInnen. Zwischen einer wohlfeilen Beschwörung von zunehmender Verarmung (Hilft dagegen sozialpädagogische Familienhilfe?) und einer zunehmenden psychiatrischen Dominanz (über Lebensärgernisse und Katastrophen wird zunehmend im psychiatrischen Jargon des IDC 10 verhandelt) hat sich entweder eine Verächtlichmachung der Fastfood verschlingenden, Fernseh- bzw. Smartphone-süchtigen Unterschicht breitgemacht und/oder eine zunehmende Zuschreibung von Selbstverantwortung für das eigene Elend professionelle Weihen erhalten: Noch nie gab es so viele Einstellungen von Hilfen zur Erziehung wegen angeblich mangelnder Mitwirkung.
Da stellt sich die Frage: "Wem hilft die Kinder- und Jugendhilfe?" Gegebene Antworten und aktuelle Kontroversen dazu haben wir in Heft 129 (2013) vorgestellt und untersucht. Speziell auf die Heimerziehung haben wir in Heft 131 (2014) die Kontinuitäten und Brüche der bisherigen Antworten diskutiert.
Mit den Beiträgen dieses Heftes wollen wir die mittlerweile fast 100-jährige Frage weiter befördern, wie Kinder und Jugendliche ihr "Recht auf den heutigen Tag" (Janusz Korczak) tatsächlich realisieren können, d.h. wie ein anderer, ein alternativer Gestaltwandel dieses gesellschaftlichen Feldes aussehen könnte.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Den Einstieg in diese Debatte gestaltet Karin Böllert, als versierte Wissenschaftlerin zugleich Vorsitzende der AGJ, die noch einmal deutlich machte, welche Fragen geklärt und beantwortet werden müssen, wenn ein Kinder- und Jugendrecht realisiert werden soll, das nun mit der Metapher "Inklusion" ernst macht.
Wichtige Aspekte davon führt Heinz Müller weiter, wenn er fragt, ob wir überhaupt eine SGB VIII-Reform brauchen. Die Antwort könne nur positiv sein, wenn mit einer reformierten Kinder- und Jugendhilfe neue Instrumente zur Armutsprävention und ernst gemeinte Inklusion entwickelt werden.
Hans Thiersch trauert der gescheiterten Reform nicht nach. Im Gespräch mit Karl August Chassé kritisiert er die deutliche Tendenz in den Novellierungsentwürfen, Hilfebedürftigkeit klassifikatorisch festzulegen. Das erscheint ihm fatal, stattdessen müsse sich die Jugendhilfe auf den Kern des KJHG konzentrieren, den Hilfeplan als kommunikative gemeinschaftliche Verhandlung anzulegen. Die Gesellschaft braucht insgesamt eine übergreifende Kinder- und Jugendpolitik. Die Jugendhilfe muss viel stärker deutlich machen, was sie mit angemessenen Ressourcen leisten könnte. Alltagsbildung als eigensinniger Bereich wird in diesem Zusammenhang immer wichtiger.
Dass dieser Alltag für eine zunehmende Zahl von Kindern und Jugendlichen und deren Familien durch Armut und dadurch bedingte Ausschließung von gesellschaftlichen Zugängen geprägt wird, darauf geht Karl August Chassé in seinem Beitrag ein. Er fragt, ob darin nicht eine weitere, besondere Kindeswohlgefährdung liege.
Kolja Fuchslocher und Holger Ziegler kritisieren die regressiven Tendenzen in der Reformdiskussion. Am Beispiel der Teilhabekategorie machen sie deutlich, dass dieser progressiv notierte Begriff durchaus den Einstieg in eine regressive Umdefinition bieten kann und fragen nach den Bedingungen einer Partizipation, die Teilhabe und Selbstbestimmung als Aspekte sozialer und politischer Gerechtigkeit praktiziert.
Dass unter dem Deckmantel des "Kinderschutzes" bzw. der "Kindeswohlgefährdung" neue Formen der Ausschließung statt Inklusion zunehmend an Gewicht gewinnen und damit zum "Gravitationszentrum" des gesamten Feldes werden, darauf gehen die nächsten beiden Beiträge ein.
Bettina Hünersdorf kritisiert das damit zusammen gehende Zerreißen sozialer Beziehungen insbesondere in prekären Lebenslagen und das Verkennen der Bedeutung struktureller Ungleichheitslagen.
Johannes Richter diskutiert das Verhältnis von Kinderschutz und Kinderrechten an fünf zentralen Aspekten, die sich um die Konzeptualisierung von Kindheit und Teilhabe drehen. Die darin enthaltenen Spannungsverhältnisse lassen sich nicht einfach auflösen, aber sie lassen sich kritisch reflektieren und so bearbeitbar machen.
Im abschließenden Beitrag konkretisiert Timm Kunstreich seine Notate zur Heimerziehung aus Heft 129 zu einem Plädoyer zur Abschaffung eben in dieser Form institutionalisierte Ausschließung. Damit verbindet er den Vorschlag, von einem Kinder-und Jugendhilferecht zu einem Kinder- und Jugendrecht überzugehen, das eigenständige Rechte und entsprechende materielle Berechtigungen vorsieht.
Die Redaktion