Alltag - Alltäglichkeiten - Alltagstheorien
Editorial
Raymond Williams (1976), einer der Vordenker der Cultural Studies, gibt in Bezug auf die etymologische Herkunft des Begriffs Ordinary in seinen Keywords den Hinweis auf einen Begriffswechsel im 18. Jahrhundert: Damals wendete sich das Verständnis vom Alltag als einem allgemein geteilten Standard und einem eigenständigen Recht (Ordinat) hin zu etwas eher Unvorteilhaften, also jenen Personen ("the ordinary people <... as=""> a generalized body of Others (cf. MASSES and people)") (ebd.: 226), denen weniger Wert zugeschrieben wird als anderen. Allerdings war damit die ursprüngliche Bedeutung nicht vom Tisch, wie Joe Moran (2006) verdeutlicht, und daher schlussfolgert: Das Alltägliche kann beides meinen: "vulgar and uneducated masses or the decent and sensible majority" (ebd.: 17). Noch dazu ist Alltag, wie Moran die feministische Geographin Doreen Massey (1994) zitiert, auch die Situation, wenn ich an der Bushaltestelle sitze und der Bus nicht kommt.
Zwei doppeldeutige Spuren sind damit gelegt: Einerseits den Alltag in seiner Ambivalenz zwischen vulgär und besonders zu fassen wie zwischen banal und eigensinnig; und andererseits Alltag als Leben und Erleben in vorherrschenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen, also einer organisierten und institutionalisierten Welt. Doch diese Doppeldeutigkeit ist seither keineswegs geteilte Meinung. Vielmehr hat der Alltag bis heute für so manchen ein 'Gschmäckle'. Dem Alltag wird also im Sinne der ersten Spur immer wieder das Potenzial der Trivialität, der Routinisierung und eines prägenden Strukturkonservativismus zugeschrieben (Sherringham 2006: 23).
Klar ist, dass wir als Menschen essen, schlafen, atmen oder mit anderen in irgendeiner Weise zusammenleben (müssen). Diese Dimensionen des menschlichen Lebens erscheinen im Licht einer beruflichen oder wissenschaftlichen Spezialisierung, einer kulturellen Inszenierung oder einer politisch-öffentlichen Positionierung aber oft eher als die weniger attraktive Dimension. Insofern erscheint es auch nicht überraschend, dass für die Rede über das 'echte Leben' (art de vivre) das 'alltägliche' Leben als Kontrastfolie herhalten muss (vgl. ebd.: 23f.). Der Alltag auf der Flucht, der Alltag in Armut, der Alltag ohne Obdach, der Alltag der Reproduktions- und Sorgearbeit wird aus der Perspektive jener häufig abwertend beschrieben, deren Träger für sich eine privilegierte soziale und kulturelle Position in Anspruch nehmen (Williams 1988: 226; auch Moran 2006: 17). Dass dem nicht so sein muss, zeigen die Gegenbeispiele: Wenn sich der US-amerikanische Journalist Jack London als Armer verkleidet und mit Armen lebt, um im frühen 20. Jahrhundert im Londoner East End eine verdeckte Erhebung zu unternehmen, erhalten wir keine schönen, aber wertvolle Beschreibungen des Alltagslebens in Armut und von Subalternen, also des Alltags in einer durch massive Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse geprägten Gesellschaft.
Wer zur 'alltäglichen Masse' gehört und wer nicht, ist keine Frage der Selbstzuschreibung, sondern der Fremdzuschreibung. Diese Logik der Differenzierung schreibt sich in unser Denken und Agieren ein: Wer gehört zum 'Wir' und wer sind 'die Anderen', ist oft die erste Frage, die wir stellen. Differenzierter wird es dann, wenn wir uns im Alltag durch Abgrenzung vom konkreten Anderen unterscheiden, als 'durchschnittlichem Kollegen', als 'durchschnittlicher Schülerin', 'durchschnittlichem Wissenschaftler' oder als 'durchschnittlicher Handwerkerin'. Dass der Alltag beides meint, wird im Englischen noch deutlicher, wenn ordinary sowohl für das 'Alltägliche', das 'Gewöhnliche' das 'Durchschnittliche' wie auch als das eigene Recht, also das Eigensinnige stehen kann.
Alltag und Alltäglichkeit sind nur in ihrer Mehrdeutigkeit, Ambiguität und Ambivalenz zu haben. Das findet nicht zuletzt darin seine Begründung, dass der Alltag keinen "soziologische
Damit scheint aber zum einen ein alltagstheoretischer Reflexionshorizont auf, der verdeutlicht, dass mit dem Blick auf Alltag und Alltäglichkeit über gesellschaftliche Konstellationen und ihre Dynamiken wie Ausschließungslogiken aufgeklärt werden kann. Alltagstheorie und Alltagsverstand sind nicht dasselbe. Und alltagstheoretische Reflexionen klären über die Einflussmächtigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse und ihre Gestalt(ung) auf. Sie machen die (Praxis-)Logik des Alltagsverstandes verstehbar, also der Reflexion und Analyse zugänglich. In diesem Sinn lenkt eine alltagstheoretische Reflexion "die Erforschung gesellschaftlicher Verhältnisse zurück auf die Alltagswelten, in die die Erfahrungen der Menschen eingebettet sind", wie Dorothy Smith (1987/1998: 67) formuliert; oder in den Worten von Henri Lefebvre (1977): "Keine Erkenntnis der (globalen) Gesellschaft ohne kritische Erkenntnis des Alltagslebens, so wie es sich - mit seiner Organisation und seiner Privation, mit der Organisation seiner Privation - inmitten dieser Gesellschaft und ihrer Geschichte festsetzt. Keine Erkenntnis der Alltäglichkeit ohne kritische Erkenntnis der (gesamten) Gesellschaft" (ebd.: 110.) Das markiert die oben eröffnete zweite Spur, dem Verhältnis zwischen Alltag und Institutionalisierung resp. (Infra-)Struktur.
Wie bereits deutlich wurde, war vom Alltag historisch schon häufig(er) die Rede. Doch nach der alltagstheoretischen Hochkonjunktur in den 1970er und 1980er Jahren trat eine Ruhephase ein, fast ein alltagstheoretischer Stillstand oder auch eine weitgehende De-Thematisierung von Alltag. Spätestens um den Jahrtausendwechsel gerieten der Alltag und die Alltäglichkeit vermeintlich in akademische Vergessenheit. Allerdings tauchten auch neue Begriffe auf: Die feministische Theorie beschäftigt sich mit Reproduktionsarbeit und care, die kritische Stadtsoziologie findet über die englische Übersetzung von Lefebvres Production de l'espace (1991) einen neuen Zugang zum 'städtischen Alltag'. Jüngere Arbeiten im Feld der feministischen Erkenntnistheorie (Mendel 2015) oder der Stadtforschung (Vogelpohl 2012) schließen hier in direkter oder loser Korrespondenz an. Diese explizit alltagstheoretischen Auseinandersetzungen gehen aber an der deutschsprachigen Soziologie, Erziehungswissenschaft oder der Sozialpädagogik/Sozialen Arbeit hierzulande bislang weitgehend vorbei.
Schauen wir exemplarisch auf die Auseinandersetzungen um Alltag in der Sozialpädagogik und der Sozialen Arbeit der vergangenen Jahre, fällt auf, dass die explizit alltagstheoretischen Studien aus anderen Disziplinen nur sehr vereinzelt rezipiert werden. Weiterhin zeigt sich, dass das Phänomen des Alltags und der Alltäglichkeit in anderer, eher verdinglichten Art und Weise Einzug in Fachdebatten gefunden hat, wie die Konzepte der 'Lebensweltorientierung' oder der 'Sozialraumorientierung' verdeutlichen können. Eine systematische und kritische Auseinandersetzung mit Alltag ist damit aber selten verbunden. Alltag und Alltäglichkeit haben sich als Gegenstand der Auseinandersetzung seit den 1970er Jahren also verselbstständigt. Von Alltag und Alltäglichkeit als explizitem Gegenstand ist zugleich in Fachkonzepten, wie der Lebensweltorientierung, fast nicht mehr die Rede. Solche 'Verselbständigungen' der Alltagsperspektive haben die De-Thematisierung von Alltag als (gesellschafts-)theoretische Dimension mit vorangetrieben.
Die Gleichzeitigkeit von Verselbständigung und De-Thematisierung, etwa im Feld der Sozialen Arbeit, ist Anlass für dieses Heft und dafür, gerade auch Autor*innen aus unterschiedlichen Forschungsfeldern und mit unterschiedlichen Perspektiven einzuladen, um mitgenommen zu werden in die Theoretisierung, Beobachtung und Analyse von Alltag in der Gegenwartsgesellschaft.
Ein interdisziplinärer Blick ist begründet, denn die alltagstheoretischen Auseinandersetzungen seit den 1970er Jahren haben die Dynamik innerhalb der Sozialen Arbeit hin zu einer 'Verselbstverständlichung' bei gleichzeitiger alltagstheoretischer De-Thematisierung mitbefördert. Dies lässt sich nicht nur an den sozialpädagogischen Arbeiten von Hans Thiersch zur Alltags- und Lebensweltorientierung zeigen, wo der letztgenannte Fokus im Laufe der Jahre den erstgenannten überschrieben hat, sondern auch an Arbeiten, wie denen von Peter Alheit, der bereits am Ende seiner Reflexionen zum Alltagsleben vor allem eine biographietheoretische Perspektive stark machte, die seitdem seine alltagstheoretische Grundierung eher wieder verschattet. Daher waren die alltagstheoretischen Schwächen gegenwärtiger Handlungs- wie Forschungsansätze der Redaktion eine weitere Motivation für das vorliegende Heft.
Verstärkt wurde dies durch die Beobachtung, dass in einem ganz anderen Bereich in den letzten Jahren deutlich wurde, welche Aufklärungskraft alltagsbezogene Reflexionen entwickeln können. Vor allem im literarischen Feld haben gegenwartsanalytische und zeitdiagnostische Alltagsbeobachtungen seit einigen Jahren eine verblüffende Konjunktur, wie die Beispiele von Eribon, Ernaux, Louis im französischsprachigen Raum oder die jüngsten deutschsprachigen Arbeiten von Mayr, Baron, Acar, Oskamp oder Güngör illustrieren. Diese Arbeiten rücken den Alltag von Menschen in einer Weise in den Blick, die nahe legen, dass sich die Autor:innen mit alltagstheoretischen Reflexionen auseinandergesetzt haben. Mit ihren Arbeiten sensibilisieren diese Autor:innen schließlich in eindrucksvoller Weise für die "Erfahrungen der Menschen" und deren Koordinierung und Ko-Determinierung durch gesellschaftliche Verhältnisse (Dorothy Smith). Diese Sensibilisierung wieder in die gesellschaftstheoretischen und gegenwartsanalytischen Auseinandersetzungen in das akademische Feld zurückzutragen, war somit eine weitere Motivation für die Initiierung des vorliegenden Schwerpunktheftes der WIDERSPRÜCHE. Mit diesem möchte die Redaktion das Potenzial von alltagstheoretischen Perspektiven für die gegenwärtigen Auseinandersetzungen ausleuchten und diskutieren. Es geht also um nicht weniger als die gesellschaftstheoretischen und -analytischen Möglichkeiten einer Reflexion von Alltagspraxis und Alltäglichkeit - gerade auch, aber nicht nur, in institutionalisierten Kontexten.
Denn, um die zweite Spur der Ambivalenz oder Widersprüchlichkeit von Alltag noch mal aufzugreifen: Alltag ist zeitlich und räumlich formatiert, aber nicht determiniert (Massey, Lefebvre, Hall). Dementsprechend können herrschende Diskurse oder 'Parteien', die um Hegemonie kämpfen, Erzählweisen über den Alltag nahelegen oder funktionalisieren. Die theoretische Wahrnehmung und Analyse des Alltags kann durch zwei Setzungen präzisiert werden. Und durch diese Setzungen erkennen wir in den Beiträgen dieses Bandes etwas: 1. Keine Institutionalisierung findet im alltags-luftleeren Raum statt. Jede Institutionalisierung strukturiert räumlich und zeitlich Settings und Interpretationen von Alltag und diese Strukturierung ist machtförmig; 2. Jeder Alltag bewegt sich notwendig, weil er nie ganz in der Strukturierung aufgeht. Der Alltag als Leben und Erleben in, mit und häufig auch gegen gesellschaftlich bereitgestellte Infrastruktur, respektive geplanter und gebauter Umwelt und institutionell organisierter Verwaltung bringt eigene Ermächtigungen und Logiken hervor. Der Alltag liefert nicht die Antworten, aber ohne den konkreten und abstrakten, analytischen Blick auf den Alltag münden die Antworten im besten Fall in Utopie, im schlechten Fall in Sozialtechnokratie.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Mit einem rekonstruktiven Blick auf die alltagstheoretischen Vergewisserungen der vergangenen 1960er bis 1970 Jahre, vor allem in der Soziologie und der Erziehungswissenschaft bzw. insbesondere der Sozialpädagogik/Sozialen Arbeit, eröffnen Ellen Bareis und Fabian Kessl den Schwerpunkt.
Im Anschluss leuchtet Brigitte Bargetz im Rahmen ihrer Überlegungen die Möglichkeit aus, das Politische alltagstheoretisch zu denken. In Rückgriff auf die Überlegungen von Henri Lefbevre, Agnes Heller und Lawrence Grossberg entwickelt sie dazu die Grundlinien einer politischen Theorie des Alltags. Damit legt sie nicht weniger als einen theorie-konzeptionellen Vorschlag zu einer Konkretisierung materialistischer politischer Theorie vor. Eine Theorie, in der Alltag eben als eine "gesellschaftstheoretische Denkfigur" (Bargetz) verstanden wird, mit der es möglich wird, "Gesellschaft' zu erkennen" (Lefebvre).
Alexander Harder greift mit der methodologischen Perspektive der Konjunkturanalyse einen Ansatz auf, den die kritischen Cultural Studies in der Studie "Policing the Crisis" von 1978 entwickelt haben und der in der Folge insbesondere von Stuart Hall und John Clarke weitergedacht wurde. Das interdisziplinäre und europäische Forschungsprojekt "Cultures of Rejection" (Ablehnungskulturen) schließt an diese Kombination aus Gesellschaftsanalyse und Alltagskultur an, um die aktuellen Konjunkturen von "autoritärem Populismus" (Hall) im Kontext von Krise und Transformation zu ergründen. Harder gibt in seinem Beitrag Einblicke in erste vorläufige Erkenntnisse aus semi-strukturierten Feldinterviews im Rahmen des Projekts mit Erwerbstätigen in Einzelhandel und Logistik.
Die umkämpfte Alltagsökonomie steht im Mittelpunkt der Ausführungen von Richard Bärnthaler, Andreas Novy und Leonhard Plank. Als Wirtschaftswissenschaftler, die sich im Kontext des Foundational Economy Colletive verorten, untersuchen sie in ihrem Beitrag basierend auf Nancy Frasers Konzept der Kämpfe um Grenzziehungen die historisch umkämpften und im Wandel befindlichen Versorgungsleistungen der Ökonomie des Alltagslebens. Am Beispiel Wien gehen sie den vergangenen und gegenwärtigen gesellschaftliche Auseinandersetzungen darüber nach, wer welche Alltagsgüter und -leistungen für wen bereitstellt werden sollen. Ein Ausblick auf "eine zukunftsfähige Ökonomie des Alltagslebens im 21. Jahrhundert" schließt ihren Beitrag.
Im Rahmen ihrer ethnographischen Untersuchungen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit stieß Kathrin Schulze immer wieder auf antiziganistische Stereotypisierungen. Diese Beobachtung nahm sie zum Anlass, diese Differenzierungs- und Klassifizierungspraxis im situativen Vollzug des sozialpädagogischen Alltags in den Jugendzentren zu untersuchen. Dabei kann sie herausarbeiten, wie und in welcher Form sich antiziganistische Vorstellungen und Wahrnehmungen vor dem Hintergrund der Kulturgeschichte der europäischen Moderne alltäglich reproduzieren.
Ebenfalls ethnographisch, aber in Orientierung an der institutional ethnography von Dorothy Smith, geht Marion Ott in ihrem Beitrag der Institutionalisierung präventiver Logik im sozialpädagogischen und pädiatrischen Alltag nach: Am Beispiel stationärer Mutter-Kind-Einrichtungen in der Kinder- und Jugendhilfe und der kindermedizinischen Entwicklungsdiagnostik kann sie so herausarbeiten, wie der dortige institutionalisierte Alltag mit gesellschaftlichen Verhältnissen verknüpft ist bzw. diese Verhältnisse den institutionalisierten Alltag hervorbringen.
Einzelne, ganz unterschiedliche Miniaturen über Alltag und aus dem gegenwärtigen Alltag bilden den Abschluss des vorliegenden WIDERSPRÜCHE-Schwerpunkts "Alltag - Alltäglichkeit - Alltagstheorien".
Literatur
Alheit, Peter 1983: Alltagsleben. Frankfurt a.M./New York
Lefebvre, Henri 1977: Kritik des Alltagslebens. Bd. 2. München
Lefebvre, Henri 1991: The Production of Space. Oxford/Cambridge
Massey, Doreen 1994: Space, place, and gender. Minneapolis
Mendel, Iris 2015: WiderStandPunkte. Umkämpftes Wissen, feministische Wissenschaftskritik und kritische Sozialwissenschaften. Münster: Westfälisches Dampfboot
Moran, Joe 2006: Reading the Everyday Life, London & New York
Smith, Dorothy 1987/1998: Die Alltagswelt als Problematik erforschen. In: dies. (1998): Der aktive Text: eine Soziologie für Frauen. Hamburg: Argument, S. 39-76 Sherringham, Michael 2006: Everyday Life. Theories and Practices from Surrealism to the Present, Oxford Vogelpohl, Anne 2012: Urbanes Alltagsleben. Zum Paradox von Differenzierung und Homogenisierung in Stadtquartieren. Wiesbaden Wiliams, Raymond 1976: Keywords: A Vocabulary of Culture and Society. London Jahoda, Marie/Larzarsfeld, Paul F./Zeisel, Hans 1933/1975. Die Arbeitslosen von Marienthal. Frankfurt a.M.
Die Redaktion