Alles im Griff - Prävention als Sozialtechnologie

Editorial

Die Sozialwissenschaften zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie ihre begrifflichen Werkzeuge ständig umkämpfen und weiterentwickeln. Dies ist durchaus erforderlich, und nur Neulinge sind davon gelegentlich verwirrt. Max Weber hat darauf hingewiesen, dass jede wissenschaftliche Erfüllung neue Fragen aufwerfe und also überboten werden will - und daher veraltet. Gerade das ist ja wissenschaftlicher Zweck und damit persönliches Schicksal aller, die sich damit befassen. Berücksichtigen wir weiterhin, dass jegliche Aussagen zum Sozialen politische Wertaussagen sind, so wird sehr schnell deutlich, warum wir etwa mit den zentralen Begriffen Staat, Nation, Gesellschaft, um nur einige herauszugreifen, so Unterschiedliches verbinden. Genau betrachtet scheint es überhaupt nur umkämpfte Begriffe zu geben.

Doch es gibt ja die Prävention. Und dieser Begriff hat - vielleicht noch neben "Gemeinschaft" - ein enorm weites Herz. Jeder darf ihn an sich drücken, und was so geliebt wird, braucht keine Kritik zu fürchten. Umkämpft werden kann er auch nicht - um was sollte gekämpft werden? Jeder darf ihn haben. Ist Prävention mithin ein "Mickey-Mouse-Konzept", das für das gute Gefühl sorgt, auf der Seite der Vernunft zu stehen, darüber hinaus jedoch ebenso inhaltsleer wie unkritikabel ist? Oder gibt es doch gesellschaftliche, politische und ökonomische Hintergründe, die das Interesse an (bestimmten Formen von) Prävention plausibel machen können?

Zunächst einmal ist Prävention ja nichts weiter als das lateinische Wort für "Vorbeugung", sofern sie als eine bewusste Handlung gefasst wird, die als eine auf die Zukunft bezogene Intervention und damit zugleich als Reaktion auf die Gegenwart beabsichtigt ist. Ein vermutetes, aber derzeit noch nicht virulentes, sondern zukünftiges Ereignis, das in einer unterstellten möglichen Kausalbeziehung zur Gegenwart steht, soll am Eintreten gehindert werden. Zumindest sollen die kontingenten Folgen dieses Eintretens im Vorfeld gestaltet und kanalisiert werden. Bezogen auf den erwünschten Zustand und seine Sicherung stellen diese potenziellen Ereignisse eine Gefahr bzw. ein Risiko dar. "Risiko" oder "Gefahr" sind in dieser Hinsicht komplementäre Begriffe zu "Prävention".

Deutlich ist dabei, dass der Erhalt des Status quo, d.h. der Stabilisierung der Gegenwart für den Präventionsbegriff zwar grundlegend ist. Dennoch kann Prävention, legitimiert als Verhinderung oder vorgelagerte Bearbeitung einer unerwünschten Zukunft, einen reaktiven Eingriff in die Bedingungen der Gegenwart darstellen. Präventionsstrategien beziehen sich mithin durchaus auf die bewusste und zielgerichtete Umgestaltung von Gegenwart und Zukunft.

Unter der etwas genaueren Betrachtung zeichnet sich ab, dass der Begriff der Prävention aus seiner scheinbaren wohlfeilen Neutralität befreit werden kann. Denn auch mit dem Omnibusbegriff der Prävention ist stets etwas Spezifisches und Interessengeleitetes gemeint. Auch Prävention durchläuft politisch motivierte Verschiebungen, die aufgezeigt und benannt werden können. So ist die Erstarkung des präventiven Akzents in der derzeitigen sozial- und kriminalpolitischen Diskussion eng an die Neuerstarkung eines politischen Konservativismus gebunden, der zu einer Wiederbelebung des Sozialdarwinismus auf höherem Niveau geführt hat und in die Vorherrschaft der Vorstellung vom homo oeconomicus einmündet. Dieser homo oeconomicus nun interpretiert Prävention zwar weiterhin als Gesellschaftspolitik. Mit diesem Kunstgriff gelingt es immerhin, die reine, klare und beliebte Gestalt dieses Begriffs zu erhalten. Prävention erscheint dann als Teil der institutionellen und leistungsgewährenden Aspekte des entwickelten Sozialstaates. Hinter dieser trügerischen Oberfläche jedoch entwickelt sich eine Prävention ganz anderer Art. Operierte die gute, reine und klare Prävention von einem quasi universellen und sozietär-gemeinschaftlichen Standpunkt aus, so hat sie sich heute zu einem partikular-gemeinschaftlichen, und, noch enger, zu einem Begriff verdünnt, der ausschließlich der individuellen Daseinsvorsorge zugerechnet wird und eher auf Risikominimierung für Einzelne abzielt. In dieser Entwicklung ist Prävention immer weniger in einer staatlichen und immer mehr in einer semistaatlichen oder privaten Form Praxis.

Ist diese individualistische Perspektive erst einmal gewonnen und Prävention zu einer Aufgabe des täglichen Lebens für jeden Einzelnen gemacht worden, so ist der Weg frei für den nächsten Schritt: die Einbeziehung des Bürgers in partnerschaftliche, ihn aktivierende Präventionsbemühungen vorzugsweise im lokalen Raum. Staatliche Präventionsbemühungen und private Daseinsvorsorge sind nun notwendig aufeinander angewiesene Verbündete.

Damit ist die 'neue' Prävention prinzipiell entdifferenziert. Es wird nicht mehr unterschieden zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention, sondern es kommt zu umfassenderen kategorialen Unterscheidungen nach situativen und personalen bzw. sozialen Gesichtspunkten. Dies geht mit einer rasanten Entstaatlichung der Prävention einher. Zudem hat sie sich auf diesem Weg funktional verselbstständigt. Prävention wird zu einem eigenen Gut mit eigener Logik und nach außen abgegrenzten Institutionen und Aufgaben. Um diesen Begriff bildet sich ein eigenes gesellschaftliches Subsystem heraus. Denn nicht nur die Bürger sind erfolgreich präventionsaktiviert worden. Die präventive Wende zum Individuellen hat auch die staatlichen und subsidiären Träger der Sozialpolitik und der Kriminalpolitik erreicht, die auf einer zunehmend marktwirtschaftlich orientierten Arbeitsgrundlage davon leben, den Begriff der Prävention in neue Kategorien zu überführen, die sich in Stellenpläne und Mittelzuweisungen umsetzen lassen. Sie nutzen Prävention als Rohstoff für ihre Arbeit. Dabei ermöglicht die funktionale Autonomisierung der Prävention eine Flexibilisierung und organisatorische Variabilität, die weit über den Handlungsrahmen von Polizei, Strafrecht und Sozialrecht hinausgeht und die "Sorge für sich" in ihre strategischen Überlegungen mit einbezieht.

Zusammengefasst scheinen uns daher zumindest sechs Momente des Präventionsdiskurses von wesentlicher Bedeutung zu sein:

  1. der Wandel von einer "reaktiv-limitierenden" zu einer "proaktiv-gestaltenden" Form der Prävention;
  2. der Wandel des Sicherheitsbegriffs bzw. der Frage danach, was wie gesichert werden soll;
  3. der Wandel von einem universellen, sozietär-gemeinschaftlichen Paradigma der
  4. das Verhältnis von Sicherheitsbemühungen und Freiheitsrechten;
  5. die tendenzielle Verschiebung von einer positionalen zu einer dispositionalen (präventiven) Regulation, wobei die präventiven Interventionen aus den gesellschaftlichen und politischen Positionen hergeleitet werden (z.B. "underclass");
  6. die Entwicklung von staatlichen oder semistaatlichen "multi-" oder "inter-agency"-Kooperationen, die "partnerschaftlich" und "aktivierend" private Dienste und Organisationen sowie "den Bürger" in die jeweiligen Präventionsbemühungen einbinden sollen.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Holger Ziegler beginnt in seinem Aufsatz mit einer Bestimmung des Präventionsbegriffs und einem Angebot zur Kategorisierung von Präventionsstrategien. Im Kontext der Krise des fordistischen Entwicklungsmodells lautet seine These, dass die Präventionsstrategien auf der Basis eines sozialstaatlich generierten verallgemeinerten Normalitätsmodells zunehmend in den Hintergrund treten. Hierbei entsteht allerdings kein herrschaftliches Vakuum, sondern eine Verstärkung von Strategien, die sich an partikularen, lokalidiosynkratischen Ordnungsvorstellungen und ökonomischen Erwägungen vor dem Hintergrund sektoraler Hegemonien orientieren.

Tony Fitzpatrick diskutiert die neuen Formen von Kriminalisierung und sozialem Ausschluss auf der Basis der Metamorphose des Staates zu einem postsozialen Sicherheitsstaat. Hierbei fasst er die aktuellen sozial- und strafpolitischen Strategien in Begriffen einer gleichzeitigen Integration und Teilung auf der Ebene des Lokalen, mit denen auf die De-Stabilisierung von Zeit und Raum durch die globalisierten Märkte reagiert wird. Unter Bezug auf die Arbeiten Zygmunt Baumans führt Fitzpatrick die Dimensionen von Globalisierung, Sozial- und Kriminalpolitik zusammen und bietet vor dem Hintergrund scheinbar widersprüchlicher Prozesse der "De-Bourgeoisifizierung" und Polarisierung eine eigene Taxonomie des (Post-)Sozialen an, die als mögliche Plattform weiterer Theoretisierungen dienen könnte.

Christof Beckmann setzt sich kritisch mit der in letzter Zeit in modernisierungstheoretischen Schriften verbreiteten These vom Verlust der kontrollierenden Funktionen sozialer Arbeit auseinander. Dabei werden die entsprechenden Argumente im Hinblick auf ihre theoretischen Grundannahmen dargestellt und aus regulationstheoretischer Perspektive dahingehend bewertet, dass sich zwar in einigen Bereichen sozialer Arbeit weichere, "präventive" Formen der Kontrolle zu etablieren beginnen, dass aber in anderen Bereichen Kontrollformen Einzug halten, die wegen ihrer zunehmenden Verortung innerhalb sicherheits- und ordnungspolitischer Kontexte eher als direktiv und interventionistisch zu charakterisieren sind.

Die Redaktion