Zur alltäglichen Arbeit an den Grenzen von Zugehörigkeit

Editorial

Die Bedeutung von Migration und Flucht im gesellschaftshistorischen Kontext für Soziale Arbeit war bereits im Jahr 2016 Anlass für ein Themenheft der Widersprüche. Diese inhaltliche Auseinandersetzung folgte den turbulenten Entwicklungen des Jahres 2015, mit seinem "langen Sommer der Migration" (Heß et al 2017) und der daran anschließenden konflikthaften Dynamik, sowohl in der medialen bzw. politischen Debatte sowie im Alltag wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. Die Zeit des absoluten "Ausnahmezustands" scheint vorbei; zumindest, wenn man damit nicht die aktuellen Ausgangsbeschränkungen durch die Corona-Pandemie meint, von der insbesondere auch die Bewohner*innen von Sammelunterkünften oder Anker-Zentren in besonderem Maße betroffen sind, sondern die Provisorien, die 2015 in vielen deutschen Städten zur Erstversorgung der Ankommenden entstanden sind. Die Vielzahl an ehrenamtlichen Helfer*innen, die elementarste Grundbedürfnisse der Ankommenden versorgten, war nicht nur Zeichen von Solidarität und bürgerschaftlichem Engagement sondern ebenfalls eine - nicht selten mitleidsökonomisch organisierte - Kompensation wohlfahrtsstaatlicher Versorgungslücken, wie sie im Zuge neoliberaler Umbaumaßnahmen entstanden sind. Richtet man den Blick von den (Macht)Zentren des europäischen Nordens an die südlichen EU-Grenzen, auf die hoffnungslos überfüllten Lager sowie die Konflikte, die dort um diese Grenzen und ihre Überschreitung geführt werden, dann zeigt sich einmal mehr wie sehr der Schein trügt; der "Ausnahmezustand" ist eher aus unserem tagesaktuellen Blick verdrängt, als vorüber.

Was wir zudem in der Folgezeit erlebt haben, war keineswegs die Schließung sichtbar gewordener sozialpolitischer Versorgungslücken durch die Etablierung einer sozialen Infrastruktur.11 Vielmehr bestand die Antwort in einer scheinbar nicht abreißen wollenden Kette von (ausländerrechtlichen) Verschärfungen und Repressionen auf unterschiedlichen Ebenen, in deren Zuge gerade in Deutschland eine Vielzahl kleiner, jedoch mühsam erkämpfter, Verbesserungen für die Situation Geflüchteter wieder weitgehend zunichte gemacht wurde. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, bleibt der "Ausnahmezustand" bzw. die "Krise" weiterhin der Modus, aus dem heraus Migrations- und Gesellschaftspolitik betrieben wird. Dabei spitzen sich die Widersprüche zwischen den politischen Versuchen, migrantische Arbeitskraft, sofern es sich dabei um dringend benötigtes "Humankapital" handelt, möglichst effizient zu verwerten und Bestrebungen nach einer ebenso effektiven Abschottung gegenüber den "Ungewollten" zu. Dies zeigt sich in Versuchen der Herstellung einer "To-the-point- und Just-in-time-Migration" (Altenried et al 2017: 54), gekennzeichnet von einer Beschleunigung von Arbeitsmarktöffnung und Abschiebungen zugleich, was sich als Ausdruck einer "parallelen Logistifizierung" (ebd. 70; vgl. Bojadzijev 2019) von Migration verstehen lässt. Es zeigt sich jedoch auch in den Widersprüchen und Konflikten Europäischer Bürgerschaftsregime, die zwar europaweite Freizügigkeitsrechte für alle EU-Bürger*innen gewähren, soziale Schutzrechte, wie bspw. vor Ausbeutung oder in existentiell bedrohlichen Notlagen verweigern; hier zeigt sich Europa überdeutlich als "Borderland" (Balibar 2016).

Diese Entwicklungen lassen sich aus der Perspektive der Alltagspraxen von Migration als Aushandlungsprozesse um Partizipation und soziale Ausschließung betrachten (vgl. Bareis/Wagner 2019). Einerseits beinahe euphemistisch als Querschnittthema in der Sozialen Arbeit wie dem Gesundheitsbereich bezeichnet, bleiben andererseits die täglichen Konfliktbearbeitungsstrategien in diesen Spannungsfeldern und Widersprüchen tendenziell unsichtbar. Dieser Spur möchten wir folgen, wenn wir Alltagsakteur*innen danach fragen, welche Schwierigkeiten aus ihrer Perspektive mit ihren Migrations- und Fluchterfahrungen verbinden, mit welchen Strategien sie ihre Situationen bearbeiten und mit welchen (fehlenden) Ressourcen sie versuchen, sich gesellschaftliche Teilhabe zu organisieren.

Dieses Vorhaben hat gewisse Schwierigkeiten. So wird der hegemoniale Diskurs zum Thema Migration in der Regel von Außenstehenden "über" die Migrant*innen geführt, die sodann als (relativ) homogene Gruppe konstruiert werden. Die Bilder von Migrant*innen in der (medialen) Öffentlichkeit sind hierbei nach wie vor von hierarchisierenden und Ausschluss organisierenden Dichotomien gekennzeichnet: Man versucht klar zwischen "nützlicher" und "humanitärer" sowie "ungewollter" oder "gefährlicher" Migration zu unterscheiden. Als Diskursfigur taucht Migration somit auf in den Formen einer "nützlichen Ressource" (die gut ausgebildete Arbeitskraft), der "Gefahr und Bedrohung" ("Asylantenflut", "Messereinwanderung") oder dem wehrlosen "Opfer", sozusagen als "Fürsorgeobjekt" (vgl. Skiba 1969). Egal in welcher Form: Migrant*innen bekommen meist einen Objektstatus zugesprochen, ihre Handlungsfähigkeit damit unsichtbar gemacht.

Doch auch auf konkret materiellen Ebenen werden die Migrant*innen kategorisiert, abgewertet und abgewiesen. So werden gerade jenen Migrant*innen, die als "unerwünscht" klassifiziert werden, durch eine hochgradig ausdifferenzierte Statushierarchie des deutschen wie europäischen Migrations- bzw. Bürgerschafts-Regimes, Platzierungen zugewiesen, die besonders ressourcenarm und "unwirtlich" sind. Damit verbunden sind verweigerte Teilhaberechte und Unterstützungsangebote. Doch auch solche Situationen werden aktiv bearbeitet. In ihren Versuchen, sich als "Anteillose" einen "Anteil" zu organisieren (vgl. Rancière 2002), bearbeiten die Migrant*innen Situationen sozialer Ausschließung wie fehlenden und verweigerten Wohnraum, blockierte Zugänge zum legalen Arbeitsmarkt und Bildungsoptionen oder nicht vorgesehene politische Mitsprachemöglichkeiten. Dies ist keineswegs eine neue Erfahrung. Die Kämpfe der Migration um Partizipation und (Bürger*innen)Rechte in Auseinandersetzung mit dem deutschen bzw. europäischen Migrations- und Bürgerschafts-Regime besitzen eine eigene Geschichte, die viel zu selten wahrgenommen wird (vgl. dazu insbesondere Bojadzijev 2008; Karakayali 2008).

Deshalb fragen wir danach, wie sich der Alltag unter solchen Strukturierungen gestaltet. Mit welchen Schwierigkeiten sind die Migrant*innen, Geflüchteten und Illegalisierten konfrontiert? Inwiefern verweisen sie mit ihren Praxen der Bearbeitung dieser schwierigen Lebenssituationen auf gesellschaftliche Konflikte um Zugehörigkeit, Partizipation und Ausschließung? Welches politische und gesellschaftsverändernde Potential wird hierdurch sichtbar? Eine erneute Auseinandersetzung setzt somit einerseits daran an, die Spezifika des Verhältnisses sozialer Ausschließung und Situationen der Migration mit Bezug auf verschiedene Alltagskonflikte um gesellschaftliche Ressourcen herauszuarbeiten.

Andererseits geht es um eine Auseinandersetzung mit migrantischer (Alltags)Praxis zur Organisation eines "Anteils" sowie Forderungen sowie Erfindungen von Formen der Zugehörigkeit, obwohl man eigentlich nicht "zählt". Viele dieser Aktivitäten, die man mit Manuela Bojadzijev und Claudia Liebelt auch als migrantische Praxis von Bürgerschaft (vgl. Bojadzijev/Liebelt 2014) bezeichnen kann, finden notwendiger Weise "unter dem Radar" öffentlicher Wahrnehmbarkeit statt. Gleichzeitig finden sich vielfältige Formen der Selbstorganisation und manche Formen versuchen auch bewusst Öffentlichkeit herzustellen und Ansprüche auf politische Selbstrepräsentation zu artikulieren.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Mouna Maaroufi richtet in ihrem Beitrag den Blick auf die Infrastrukturen der Arbeitsmarktintegration für Geflüchtete und zeigt darin eingelagerte Differenzierungslogiken entlang wirtschaftlicher Kriterien auf. Im Sinne einer logistifizierten Verwertung migrantischer Arbeitskraft kanalisieren Programme die Arbeitskraft von Geflüchteten primär auf sogenannte "Mangelberufe", was aus Sicht der Geflüchteten meistens als Abwertung vorhandener Wissens- und Kompetenzbestände erfahren wird. Maaroufi sieht die Perspektive der Migration als konstitutiv für die Umsetzung von Arbeitsmarktpolitiken an. Durch alltägliche Kämpfe der Migrant*innen wird die alltägliche Praxis der "Integrationspolitiken" ausgehandelt und es zeigen sich auch Formen der Verweigerung gegenüber einer kapitalistischen und rassistischen Regulation von Arbeit und Bildung.

Ausgehend von der Wohnungslosigkeit von Unionsbürger*innen in Deutschland macht sich Marie-Therese Haj Ahmad in ihrem Beitrag - wie sie es selbst formuliert - "auf die Suche nach Europa". Diese Suche nimmt sie - mittels ethnographisch gewonnener Erkenntnisse und unter Einnahme einer Subjektperspektive - in der Auseinandersetzung mit konkreten Praktiken der Migration im Feld der Wohnungslosenhilfe auf. Dabei arbeitet sie unter Fokussierung auf die Bereiche Wohnen und medizinische Versorgung spezifische Kämpfe um Zugehörigkeit, Partizipation und Ausschließung heraus. Die Praktiken von Unionsbürger*innen zur Überwindung ihrer Situation der Obdachlosigkeit werden durch ihre Fallstudie als Formen "visionärer" Aushandlung einer europäischen Idee mit Gleichheitsversprechen sichtbar.

Ein anderes spezifisches Arrangement - der polnischen Live-In-Szene im Bereich der häuslichen Pflege - analysiert Agnieszka Satola. Diese spezielle Form der verberuflichten Sorgearbeit basiert in Deutschland zum überwiegenden Teil auf der Beschäftigung von Migrant*innen. Dessen Rahmenbedingungen verbleiben - aufgrund der zeitlichen Entgrenzung des Arbeitsalltags in der besonderen "Live-In" Situation - der Autorin zufolge in allen bekannten Erscheinungsformen irregulär. Der Blick der Autorin auf die Organisationspraktiken der Arbeiter*innen ermöglicht, diese Arrangements in ihrer Widersprüchlichkeit zwischen Ausbeutung und Handlungsfähigkeit in den Blick zu nehmen. Dabei betont sie die Bedeutung (meist informell bleibender) Formen der Selbstorganisation der überwiegend weiblichen Pflegekräfte, was sie im Beitrag auch anhand entsprechender Facebook-Seiten aufzeigt.

Welche Formen die kollektiven Kämpfe um gesellschaftliche Teilhabe einnehmen können, erläutert Ilker Atac in seinem Beitrag. So analysiert er verschiedene Protestformen als mehrfach emanzipatorisch: Indem sie Begegnungsräume schaffen, die eine gemeinsame Mobilisierung gegen ausschließende Politiken ermöglichen, sind sie durch die Produktion von Sichtbarkeit konkreter Ort politischer Aktionen. Andererseits überschreiten sie mit ihren kollektiv hervorgebrachten Forderungen den spezifischen Ort und fordern bestehende Politik heraus. Dabei ermöglichen die in diesem Initiativen gefundenen Verbindungen von Migrant*innen und Solidaritätsinitiativen nach Einschätzung des Autors die Überschreitung von binären Logiken einer konventionellen Staatsbürgerschaft.

Den Blick auf kollektive Strategien ergänzen Maria Diedrich und Torsten Bewernitz durch eine historische Aufarbeitung der sogenannten "wilden Streiks" in Mannheim um 1973. Diese vorrangig von migrantischen Beschäftigten betriebenen Arbeitsniederlegungen zielten auf die Bearbeitung von rassistischen Hierarchisierungen der Arbeits- und Lebensbedingungen, die wiederum - so die Analyse- auch für die begrenzte Reichweite dieser Proteste mit verantwortlich waren. Auch dass diese nur begrenzt Einzug ins kollektive Gedächtnis der Gewerkschaften und Aktivist*innen gefunden haben, sei als Effekt einer stark institutionalisierten und regulierten Arbeiterbewegung in Deutschland zu verstehen.

Nachdem in den Beiträgen einerseits die individuellen und anderseits die kollektiven Praktiken von Migrant*innen zur Bearbeitung von blockierter gesellschaftlicher Partizipation in den Blick genommen wurden, lenkt Helga Cremer-Schäfer denn Blick auf die Wissensproduktion - auch gerade durch (bestimmte) Teile der Sozialwissenschaften - die diese Verobjektivierungen und Ausschließungsprozesse mit hervorbringen. In ihrem Beitrag entzaubert sie die Statistiken zur "Ausländerkriminalität" als Legitimationswissenschaften, die ihre Praxis der Messung verdecken und demnach angemessener als Indikatoren für institutionellen Rassismus zu verstehen seien.

Literatur

Altenried, M.; Bojadžijev, M.; Höfler, L.; Mezzadra, S.; Wallis, M. (Hg.) 2017: Logistische Grenzlandschaften. Das Regime mobiler Arbeit nach dem Sommer der Migration

Balibar, É. 2016: Europa: Krise und Ende? Münster

Bareis, Ellen; Wagner, Thomas 2019: Umkämpfte Arbeit am Gemeinwesen. Praxen der Migration und Praxen der Sozialen Arbeit. Eine Verhältnisbestimmung. In: Resch, Chr.; Wagner, T. (Hg.): Migration als soziale Praxis. Kämpfe um Autonomie und repressive Erfahrungen. Münster, S. 56-74

Bojadžijev, M. 2008: Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. Münster

Bojadžijev, M. 2019: Die Logistik der Migration. Ethnographische und epistemische Perspektiven. In: Johler, R.; Lange, J. (Hg.): Konfliktfeld Fluchtmigration. Historische und ethnographische Perspektiven. Bielefeld: transkript, S. 31-48

Bojadžijev, M und Claudia L 2014: Cosmopolitics, oder: Migration als soziale Bewegung: Von Bürgerschaft und Kosmopolitismus im globalen Arbeitsmarkt. In: Nieswand, B. und H. Drotbohm (Hg.) Kultur, Gesellschaft, Migration. Die reflexive Wende in der Migrationsforschung. Wiesbaden, S. 325-346

Hess, S.; Kasparek, B.; Kron, St.; Rodatz, M.; Schwertl, M.; Sontowski, S. 2017 (Hg.): Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III. Hamburg

Karakayali, S. 2008: Gespenster der Migration. Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld

Rancière, J. 2002: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt am Main

Skiba, E.-G. 1969: Der Sozialarbeiter in der gegenwärtigen Gesellschaft. Empirische Untersuchungen zum sozialen Fremdbild des Fürsorgers. Weinheim; Berlin; Basel

Die Redaktion

Gerade in Spanien und Italien kann man sich bereits heute fragen, wie viele Menschen tatsächlich an akuter Covid-19 sterben oder nicht doch an den Folgen eines chronischen neoliberalen Sparmantras, das dort eben auch nicht vor der öffentlichen gesundheitlichen Versorgung Halt gemacht hat.