Verlust und Befreiung - Nach dem Umbruch im Osten
Editorial
Die politischen Veränderungen, die seit dem Herbst 1989 in Osteuropa vor sich gingen, können eine Zeitschrift, die den Untertitel "für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich" trägt, nicht unberührt lassen. Bei der Planung dieses Heftes im Januar '90 war uns, angesichts der Neuigkeiten im Osten klar, daß dieses Thema die Gefühle mobilisiert, politische Sozialisationen in Frage stellt und analytische Kategorien wieder einmal einer kritischen Prüfung unterziehen wird. Nein, hier konnte man nicht ohne Weiteres zur Tagesordnung übergehen. Nicht zuletzt, weil wir 1986 ein Heft zur Sozialpolitik in der DDR unter dem Titel "Im Osten nichts Neues?" herausgebracht haben und Neues gab es nach den Ereignissen des Jahres '89 schließlich vieles zu besprechen.
Unsere Diskussion reichte von der Auseinandersetzung um die Lafontainsche populistische Begrenzungs- und Sparpolitik gegenüber Aus- und Übersiedlern, über die Debatte der Chancen einer gesellschaftlichen Alternative zu realsozialistischer wie kapitalistischer Industriegesellschaft bis hin zur Reflexion über die Politik der Beschleunigung der Bundesregierung, die mit der Schnelligkeit des überlegenen Siegers einen historischen Augenblick nach dem anderen hinausposaunte. Einer selbstbestimmten demokratischen Entwicklung wurde durch dieses Tempo hüben wie drüben die Luft abgedreht.
Wenn schon überall in der politischen Landschaft keine Zeit mehr vorhanden war - wir wollten uns die Zeit zum Innehalten und Nachdenken nehmen. Aber selbst das fiel schwer, weil jeder gesprochene und geschriebene Satz in die Gefahr geriet, vor seiner Vorstellung schon von der Geschichte überholt zu sein.
Es war aber nicht nur der Zeitdruck, der uns Schwierigkeiten bereitete. Vor uns stand auch ein Wust von Themen und Fragen, indem alles miteinander verwoben und verknotet war: der deutsche Faschismus, die Geschichte zweier deutscher Staaten nach dem zweiten Weltkrieg, ihre jeweilige Bewältigung der faschistischen Erbschaft; die seit Jahren laufende Diskussion um gesellschaftlich-emanzipatorische Utopien und nicht zuletzt das Dilemma der sogenannten "nationalen Frage" unter deutschen Bedingungen. Wie sollte also unter solchen Voraussetzungen ein Themenheft zur DDR überhaupt gelingen?
Sollten wir nochmals Rückschau halten und - ausgehend von den herausbrechenden Widersprüchen - danach fragen, was denn nun der eigene Charakter dieser DDR-Gesellschaft gewesen ist? Sollten wir den Faden unserer Kontroverse in der Redaktion wieder aufnehmen, die angesichts der beiden Reisen der Redaktion 1985 (offizielles Besuchsprogramm und privater Besuch bei Oppositionellen) und des 1986 heraugegebenen Heftes entstanden war. Oder sollten wir nur thematisieren, welche sozialpolitischen Folgen die Befreiung der DDR-Gesellschaft vom "Monosubjekt SED-Staat" hier und dort zeigt? Oder wäre es angebracht, gemeinsam mit Aktivistinnen aus der DDR-Opposition, Geschichte aufzuarbeiten und miteinander zu diskutieren, was die Auslöser und Motive für die Überwindung der SED-Herrschaft gewesen sind, welche Perspektiven sich nach der Wende auftun und welche politisch wünschenswert wären?
Spannend wäre das insoweit gewesen, als in den Anfangsstunden der Befreiung auch von den Oppositionellen immer wieder auf "soziale Errungenschaften" verwiesen wurde, die es auf jeden Fall zu erhalten gelte. Auch in Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern der DDR wurde dies Argument immer wieder eingebracht, wenn auch mit kritischen Beiklängen, betrachten wir etwa Form und Inhalt der Erziehung in den Kinderversorgungseinrichtungen.
Diesen Diskussionsstrang gilt es aufzunehmen. Die reale politische Entwicklung in der DDR ist nämlich auch eine Anfrage an unsere eigenen sozialpolitischen Vorstellungen und an unseren Blick auf die DDR. Sind in sozialpolitischen Diskussionen hier der herrschaftlich-entmündigende Charakter der sozialen Garantien im SED-Staat nicht unterschätzt worden? Ist unsere Hoffnung, soziale Grundsicherungen könnten eine Basis bilden für die Befreiung der Menschen von Deklassierungsangst hin zu einer neuen Produktivität, hin zur Lust an sozialen und politischen Experimenten, nicht doch zu naiv?
Bei diesen ganzen Überlegungen stand auch immer die Frage im Raum: sollen Westlerinnen die Geschichte der Ostlerinnen interpretieren und deren Perspektiven ausbreiten? Sind wir bloß kritische linke Besserwisser und Kolonisatoren, die sich vor der Siegerpose der Herren Kohl, Hausmann und Waigel nur im Inhalt unterscheiden, aber ansonsten genauso die Enteignung von gemachter und erlittener Geschichte betreiben?
Was nun erscheint, ist die hoffentlich gelungene Mischung von Widersprüchen, die sich aus diesem Berg von Fragen, die ursprünglich nur getrennt zu stellen und zu beantworten waren, herauskristallisierte. Gehen wir also aus von unserem Heft "lm Osten nicht Neues?" vom April '86. Hauptidee des Heftkonzeptes war es, Einblicke hinter die Vorderbühne des "ersten Arbeiter- und Bauernstaates" auf deutschem Boden zu bekommen. Wie ist in dieser Gesellschaft das "Soziale" organisiert? Welche sozialen Garantien für die Bürger gibt es, wie regiert und erzieht der SED-Staat über diese Garantien seine Bürgerinnen? Wie erfahren die Bürgerinnen die Garantien und zu welchem Preis werden sie ihnen vom Staat gewährt? Gibt es also - so fragten wir damals - neben dem Propaganda-Wirtschafts- und Sozialstaat, der die Versorgung der Bürger planmäßig vollbringt, Nischen und Brüche, in denen die Subjekte, trotz betonierter Verhältnisse, sich emanzipatorisch verhalten können?
All diese Fragen stellen sich nun im Rückblick wieder und unsere damaligen Antworten stehen ebenfalls zur Disposition. Das vorliegende Heft ist also kein reines DDR-Heft und auch kein reines Sozialismusheft. Wir haben versucht, uns als Subjekte in unsere Diskussionen miteinzubeziehen. Einige aus der Redaktion haben unter dem Begriffspaar "Verlust und Befreiung" ihre Gedanken zu den Umbrüchen im Osten niedergeschrieben. Es sind persönliche Textfragmente, die die unterschiedlichen Sichtweisen, Empfindungen und Verarbeitungen widerspiegeln. Verlust heißt dabei nicht, daß wir mit den osteuropäischen Veränderungen etwas verloren hätten, was von uns positiv besetzt gewesen wäre. Befreiung heißt nicht, daß wir dem, was wir als vorläufiges Ergebnis sehen, zujubeln können. Die Texte sind also schlicht und einfach Versuche, die deutschdeutschen Prozesse politisch zu reflektieren - auch in Bezug auf die Folgen für eine künftige linke Politik.
Gewiß - der Umbruch in der DDR und die Wende zur jetzigen "BRD plus" verleiten zu schnellen historischen und begrifflichen Einschätzungen. Ob solche vielfach eilfertigen Bewertungen letztlich kurzatmig waren und den Ereignissen lediglich hinterhechten, ob sie sich dabei historisch und theoretisch auf problematische Quellen und Ableitungen beziehen, von denen es möglicherweise Abschied zu nehmen gilt, bedarf jetzt einer theoretischen Klärung.
Für den selbstreflexiven Prozeß der Linken, der nun eingeleitet werden muß - und wo es nicht mehr um Selbstvergewisserungen gehen sollte -, sei an ein Wort von Manès Sperber erinnert: "Man mag bezweifeln, ob sich die Linke ohne eschatologische Hoffnung halten kann, doch steht fest, daß sie nicht weiterleben wird, ohne gegen jede Mystifizierung zu kämpfen, die sie auf diesem Weg antrifft. Deshalb ist der Kampf der Linken für Freiheit immer von der Suche nach Wahrheit begleitet."
Timm Kunstreichs Artikel ist ein erster Schritt, die Vorgänge 1989/90 in der DDR, die "Umbrüche" und die "Wende" theoretisch zu bearbeiten. Mit dem "Rüstzeug der Alt-68er" - der Methodik des dialektischen Materialismus - analysiert er die Lage in der ehemaligen DDR und versucht die politische Entwicklung vom Mauerfall bis zur deutschen Vereinigung historisch auf den Begriff zu bringen. Die Orthodoxie des Marxismus hänge, so begründet Kunstreich sein Vorgehen, am Dogmatismus der kapitalistischen Verhältnisse (frei nach Rosa Luxemburg) und diese Orthodoxie behalte ihre Richtigkeit, solange der Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie - der Wert - von so weltumspannender Vitalität ist wie heute.
Niko Diemer stellt sich der Frage, was, nach dem Sturz des "realen Sozialismus" eigentlich noch links ist? Er begibt sich mit dieser Frage auf den Weg durch das Dickicht von Irritationen, Verlusten und Befreiungen, die die DDR-Erfahrung verursacht hat und registriert dabei eine Zeit der Desillusionierung ebenso wie die schmerzhafte Einsicht, daß "Zusammenbrüche" Menschen konservativer machen. Trotzdem sucht Diemer nach Antworten, was Links sein und linke Politik eigentlich noch für Inhalte haben kann.
Friedel Schütte interviewt Wolfgang Feurich zu den Spuren und Erfahrungen, die der "Aufbruch '89" in der DDR-Gesellschaft hinterlassen hat. Feurich gesteht zu, daß die Wünsche und Träume der Bürgerbewegungen nicht aufgegangen sind. Trotzdem bleibt, daß die Bürgerbewegungen eine verkrustete Gesellschaft aufgebrochen haben. Allerdings muß nach dem Verlust an Utopien auch Trauerarbeit geleistet werden. Die Chancen für die Linke in Ost und West sieht Feurich darin, daß sie sich nach vorne orientiert, sich wegbewegt von einer Theoretisierung der Probleme und sich stattdessen den Utopiepotentialen zuwendet, die dort liegen, wo es konkret um Menschen geht, in der praktischen Arbeit.
Niko Diemer skizziert fragmentarisch die Auswirkungen der DDR-Erfahrungen auf eine alternative Sozialpolitik. Er gibt dabei zu bedenken, ob die Idee einer alternativen Sozialpolitik, die auf befreite Produktivität, auf Garantien egalitärer und materieller Sicherheit setzte, nicht doch zu naiv gewesen ist. Die DDR-Erfahrung legte nahe, so Diemer, die erlebte Qualität von Sicherheiten wichtiger zu nehmen als die materielle Quantität.
Hildegard Maria Nickel konstatiert bei Ost- und West-Frauen eine vereinte Uneinigkeit. Ost-Frauen auf der einen Seite, West-Frauen auf der anderen Seite, so wird es vorerst bleiben, meint Nickel, weil der tiefe Graben dazwischen nicht unsichtbar gemacht werden kann. Aber weder sind DDR-Frauen nur der reine Zugewinn für die bundesdeutsche Frauenbewegung, noch sind sie - wie ihnen oft unterstellt wird - die verklemmten, männerfixierten, unemanzipatorischen, unerotischen Muttis mit Berufserfahrung und Doppelqualifikation. Was sie gemeinsam haben, ist das Patriarchat und eine Fülle von Problemen, globaler und eher "privater" Art.
Peter Krahulec beschreibt die Probleme und Perspektiven sozialer Arbeit in den fünf neuen Bundesländern. In Anlehnung an Adornos Aufsatz "Erziehung nach Auschwitz" stellt Krahulec auch eine "realsozialistische Wüstenei" fest, für die die Fluchtburg Wandlitz steht. Dieser "zweite Zivilisationsbruch" bedeutet, daß fast jede und jeder zu Opfern und Tätern des SED-Systems gehörte - Krahulec veranschaulicht das für den Bildungs-, Erziehungs- und Wissenschaftsbereich. Es darf hier kein Verschweigen der Vergangenheit geben, aber: Menschen kann man nicht umtauschen. Diese unverwechselbaren Menschen stecken, so Krahulec, auch in einer Menge von sozialen Schwierigkeiten, für die es einen eminenten Bedarf an professioneller Sozialarbeit gibt. Allerdings: der Zunahme sozialer Probleme in den neuen Bundesländern steht eine geradezu katastrophale personelle Ausstattung im Sozial- und Gesundheitswesen gegenüber.
Hans-Dieter Bamberg befaßt sich schließlich mit der Frage, ob ein Sozialstaat Deutschland gelingt? Voran stellt er seinen Ausführungen die Prämissen eines Sozialstaates. Er analysiert, warum die Integration der DDR eine politische und wirtschaftliche Herausforderung ist, zumal der Sozialstaat der vorherigen BRD auch in keiner guten Verfassung war. Vor diesem Hintergrund zeigt Bamberg Perspektiven für den Abbau des sozialen und demokratischen Staats auf. Gleichfalls sieht er aber auch Perspektiven für den Erhalt und die Verbesserung des Sozialstaats.