Umbau des Sozialstaats
Editorial
1984 gab es schon einmal ein Heft der Widersprüche mit dem Titel "Umbau des Sozialstaates - die Debatte geht weiter". Diese Debatte kann getrost als eines der Dauerthemen betrachtet werden, die seit Beginn der 80er Jahre auf der gesellschaftspolitischen Tagesordnung stehen. 1984 stand eine Umbaudiskussion im Mittelpunkt des Heftes, wie sie von linken, grünen und alternativen Kritikern des Sozialstaates geführt wurde. Es ging in dieser Diskussion um Alternativen zur herrschenden Regulationsweise des Sozialen. Die sozialpolitischen Regulationsmechanismen waren mit verschiedenen Argumenten kritisiert worden; die zentrale Bezugsfigur war der "lebenslange, männliche Lohnarbeiter"; die im sozialen Sicherungssystem vorgesehenen Leistungs- und Hilfeformen waren als bürokratisch-kontrollierend und "expertokratisch"-entmündigend sowie als privatisierend kritisiert worden. Der damalige Streit ging auch darum, ob "ökologisch" überhaupt ein politischer Leitbegriff sein kann, der Kriterien zur emanzipatorischen Veränderung von Sozialpolitik liefern kann. Der Streit ging weiterhin darum, ob ein garantiertes Mindesteinkommen die materielle Basis für - wie man heute soziologisch-modern sagen würde - größere 'Optionalität' für Menschen in- und außerhalb der Erwerbsarbeit sein könnte: ist es ein sicherer Boden für "autonome Tätigkeiten"? Ist es ein Schutz vor der Erpreßbarkeit zu persönlich und oder gesellschaftspolitisch nicht wünschenswerten Arbeitsinhalten und -formen?
Denjenigen, die damals in- und außerhalb der Widersprüche an dieser Debatte beteiligt waren, war durchaus bewußt, daß sie auf einem gesellschaftlichen und politischen Hintergrund geführt wurde, der in eine andere Richtung verwies. In der bundesdeutschen Realgeschichte ging der Umbau des Sozialstaats "nach rechts" schon vonstatten. Die Ziele, die von neokonservativer und neoliberaler Seite damals formuliert worden waren, sind auch heute noch von Brisanz: das "Zeitregime" sollte im Sinne einer Flexibilisierung von Arbeitszeiten geändert werden, die den Einsatz der Arbeitskraft besser den Interessen des kapitalistischen Kommandos anpaßt; die Arbeits- und Sozialbeziehungen sollten von Hemmnissen befreit werden, die in gesetzlicher und tariflicher Regulierung dieser Beziehungen gesehen wurden; sozialstaatliche Garantien sollten stärker als bisher durch private und subsidiäre Netze ersetzt werden. Anknüpfend an Heft 12 geht es immer noch um folgendes: "Ihr hegemoniales Projekt besteht darin, das Schweigen des Privaten (wieder) herzustellen: Durch die Neulegitimation des alten Werte-Universums: individuelle Freiheit und Schuld, Versagen des Unwilligen, Naturzustand von Stärke versus Schwäche, sind Opfer zurecht Opfer, sind auszubürgern aus der "Gemeinschaft des Aufschwungs" (Niko Diemer, Widersprüche 12/1984, S. 6).
Heute stehen wir innerhalb einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der diese Hegemonie sich weitgehend verfestigt hat. Verstärkt sind nationale Töne hinzugekommen, worauf nicht nur das militärische Wort "Standort"-Debatte hinweist, sondern es geht der herrschenden Politik derzeit wirklich darum, als "nationaler Wettbewerbsstaat" die Rahmenbedingungen für ökonomische Interessen zu optimieren. Die daraus ableitbaren politischen Ziele sind sich in ihrem konservativen Charakter trotz Ende des realen Sozialismus und der "Epochenwende" gleichgeblieben: Es sind im wesentlichen die, die schon in den 80er Jahren formuliert worden waren. Zum Teil scheint jedoch, zumindest was Deutschland angeht, der "Umbau" des Ostens auch willkommener Anlaß für "nachholende Deregulierungen" zu sein. Außerdem kann heute der Deregulierungsbedarf noch besser als in den 80er Jahren als wirtschaftliche und soziale Notwendigkeit einer modernen, "schlanken Produktion" verkauft werden. Da der "Geist" von Politik, Interessenverbänden und Teilen der Bevölkerung doch etwas träge scheint, verlangen die Arbeitgeber eine "mentale Innovation" (Murmann), die - wiederum im Unterschied zu den 80er Jahren - mehr ökonomisch interessierten Klartext redet. Selbst Norbert Blüm, jahrelang Minister zur Übersetzung neokonservativen Gedankenguts in zwischenmenschliche Allgemeinplätze, stellt fest, daß die "Krise in erster Linie eine mentale Krise ist" und bietet als "neue" Grundregel seiner Sozialstaatsarchitektur die "Vorfahrtsregel" an: "Vorfahrt für die kleinere Gemeinschaft". Dem "Trend zur Globalisierung" muß zwecks Erhaltung des Gleichgewichts der Rückzug in "kleinere Gemeinschaften" entgegengehalten werden.
Die gesellschaftliche Landschaft, in der über die Umbaupläne gestritten wird, ist eine, die von vermehrten sozialen Spaltungen und Polarisierungen durchzogen ist.
Einige der Umbaupläne, die z.T. schon den Status des Plans überwunden haben, setzen ganz auf diese sozialen Spaltungen und sozialen Ungleichheiten:
- mit der Pflegeversicherung wird das "Halbe-Halbe-Prinzip" der Sozialversicherung aufgegeben;
- das Bedarfsprinzip in der Sozialhilfe ist bald nichts mehr als eine Erinnerung; statt-dessen ist moralisch und finanzpolitisch motivierte "Deckelung" angesagt;
- Arbeitsmarktpolitik wirkt immer mehr selektiv: Qualifizierung soll es nur noch für die geben, bei denen sich die Investitionen lohnen - für den Rest gibt es Ausmusterung, Billigjobs und Zwangsmaßnahmen im Angebot;
- es werden immer neue "Abstandsgebote" zwischen Löhnen, AFG-Leistungen und Sozialhilfe bei gleichzeitiger Einführung von Einstiegslöhnen und staatlich verordneter Arbeitspflicht erfunden; letztlich soll damit die Erpreßbarkeit von Arbeitnehmerinnen und Erwerbslosen wieder erhöht werden; statt Entkoppelung von Arbeit und Einkommen ist eine verstärkte Verkoppelung "in";
- durch die Kürzung von Lohnersatzleistungen werden Kosten der Massenarbeitslosigkeit auf die Kommunen abgewälzt;
- die institutionelle Organisation sozialer Sicherungs- und Hilfesysteme steht unter dem Diktat der Kostensenkung und soll unter Zuhilfenahme betriebswirtschaftlicher Rationalitätskriterien zur modernen "Dienstleistung" umgebaut werden.
Das Dilemma, in dem sich die befinden, die diesen Umbauplänen nicht nur die alte Architektur entgegensetzen wollen, ist nur allzu deutlich. Denn zum einen ist die eingangs angeführte Sozialstaatskritik "von links" ja nicht falsch geworden, wobei erschwerend hinzukommt, daß alle "alternativen" Sozialpolitikentwürfe gezwungen sind, sich mit der Tatsache der Vielfalt subjektiver Lebenswünsche auseinanderzusetzen, die nicht einfach unter das Diktat einer wie "gut" auch immer gemeinten "Normalität" gepreßt werden können. Zum anderen scheinen die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sich "Solidarität" gegen den neoliberalen Umbau herstellen ließe, noch schwieriger zu sein, weil es eben auch viele Profiteure oder "Zufriedene" in dieser Entwicklung gibt bzw. soziale Ungleichheit bei vielen nicht mehr unter die Kategorie "gesellschaftlich und politisch veränderbar" fällt.
Das vorliegende Heft macht nun den Versuch, sich mit einzelnen Aspekten des laufenden Umbauprozesses bzw. der Diskussion darüber auseinanderzusetzen. Was fehlt, sind Versuche, die Facetten des Umbaus - zu dem sicherlich auch die in den beiden letzten Heften eröffnete Dienstleistungsdiskussion zählt - zusammenzudenken: wie zeigen sich in ihnen Entwicklungen, die das Etikett der "postfordistischen" Gesellschaftsformation nicht nur lesen, sondern auch "schmecken" lassen, was sich dahinter verbirgt. Dies ist durchaus als Einladung, sich an diesem Diskussionsprozeß zu beteiligen, zu verstehen.
Zu den Artikeln im einzelnen:
Andrea Weinert betrachtet in ihrem Text die Seite gesellschaftlicher Entwicklung, über die meist vornehm geschwiegen wird: die Entwicklung des Reichtums in diesem Land, dem Sozialleistungen offensichtlich "zu teuer" sind bzw. dessen Mehrheitspolitiker Fragen der Umverteilung von oben nach unten aus ihrem politischen Vokabular gestrichen haben.
Volker Busch-Geertsema beleuchtet eine soziale Polarisierung, an deren Ausbau viele gut verdienen: die ungleichen Chancen auf dem Wohnungsmarkt. Er zeigt, daß Wohnungsnot in Deutschland im Wohnungswohlstand stattfindet, daß staatliche Wohnungspolitik einen großen Anteil daran hat, daß sich - im Unterschied zur These vom Ende der Wohnungsknappheit und Mietpreissteigerungen - die Chancen von Menschen mit niedrigen Einkommen, eine bezahlbare Wohnung zu bekommen, verschlechtert haben und macht Vorschläge zu einer sozialpolitischen Reform der Wohnungs(bau)politik.
Johannes Steffen und Gerhard Bäcker setzen sich mit einem im letzten Jahr in die Debatte geworfenen Wundermittel auseinander, dem "Bürgergeld" bzw. der negativen Einkommenssteuer. Diese Konzepte versprechen Entbürokratisierung der sozialen Sicherung, Arbeit und Einkommen. Steffen und Bäcker entdecken in ihnen jedoch vorrangig Interessen an Niedriglohnökonomie und Deregulierung. Dabei können sie auch zeigen, wie wenig manche Politiker davon verstehen, worüber sie reden: von Sozialhilfe z.B.
Andreas Schaarschuch setzt sich ebenfalls mit Versuchen auseinander, über ein garantiertes Mindesteinkommen soziale Ausgrenzung zu überwinden. Auch er warnt davor, solche Konzepte zu blauäugig zu "benutzen": ohne damit verbundene soziale und politische Teilhaberechte können sie leicht dazu führen, die Ausgrenzung einer "underclass" zu stabilisieren. Dieser Auseinandersetzung müssen sich alle stellen, die wissen, daß Existenzsicherung nicht länger patriarchalisch über Beteiligung an Erwerbsarbeit und allein daraus abgeleitete Ansprüche möglich ist.
Formen der Mindestsicherung wie Sozialhilfe spielen auch in Wolfgang Völkers Beitrag eine Rolle. Er versucht, den aktuellen Boom der "dynamischen Armutsforschung" zu verstehen, betrachtet die Begriffsverwirrung von "Armut" und "Sozialhilfe" sowie die Verwertbarkeit dieser Wissenschaft von ihrer politisch interessierten Seite her.
Zur Pflegeversicherung, dem jüngsten Kind des sozialstaatlichen Kompromisses, bietet das Heft zwei Beitrage. Beide legen ganz bewußt ihren Schwerpunkt nicht auf das, was in der öffentlichen Auseinandersetzung mit Pflegeversicherung assoziiert wurde: Wie kriegen die Arbeitgeber "ihren" Anteil an der Finanzierung zurück (Feiertag? Urlaub?...). Berthold Dietz und Andreas Jürgens beziehen sich in ihren Texten ausdrücklich auf die Qualität der Pflege, die denen geboten wird, die sie brauchen. Sie sind sich einig, daß die Pflegeversicherung den Pflegebedürftigen die Möglichkeit nimmt, über professionelle Hilfen selbst zu entscheiden. Statt Selbstbestimmung sehen die Autoren Medizinisierung von Pflege, Ermächtigung der Krankenkassen und Aufbau eines Pflegemarktes, auf dem das Angebot die Nachfrage bestimmt.
Die Redaktion