Soziale Arbeit und Menschenrechte

Editorial

Seit Mitte der neunziger Jahre wird die Bedeutung der Menschenrechte für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit mit wachsender Intensität und Aufmerksamkeit diskutiert. Auf internationaler Ebene hat inzwischen die Funktionsbestimmung von Sozialer Arbeit als "Menschenrechtsprofession" viel Zustimmung bekommen. In der Bundesrepublik wird ihr dagegen eher mit Skepsis begegnet. Dessen ungeachtet gibt es inzwischen in Berlin einen FH-Masterstudiengang "Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession", dessen AbsolventInnen bereits in verschiedenen Praxisfeldern tätig sind.

Die WIDERSPRÜCHE beteiligen sich seit je an der Auseinandersetzung über die gesellschaftlichen Funktionen der Sozialen Arbeit und über Orientierungen und Positionierungen der in ihr arbeitenden Frauen und Männer (vgl. in jüngster Zeit vor allem die Hefte 100 und 101). Der Diskurs über Soziale Arbeit und Menschenrechte gehört zu den Orientierungsversuchen, die einen Weg aus der ökonomischen und ordnungspolitischen Steuerung der Sozialen Arbeit suchen und ist Teil aller jener historischen und aktuellen Bestrebungen, die diesen Bereich gesellschaftlicher Arbeit nicht den jeweils dominanten Macht-Interessen überlassen wollen. Insofern sind die widersprüche ein Ort auch für diesen Diskurs.

In der Auseinandersetzung über die Definition Sozialer Arbeit als "Menschenrechtsprofession" geht es unter anderem um folgende Fragen:

  • Ist der Begriff der "Profession" geeignet zur Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion Sozialer Arbeit?
  • Bezieht er ihre rechtliche Verfassung, ihre institutionellen und organisatorischen Materialisierungen, ihre ordnungs- und finanzpolitischen Abhängigkeiten mit ein?
  • Oder bezieht er sich nur auf die in der Sozialen Arbeit tätigen Professionellen und ihre Organisationsformen (Berufsverbände, Gewerkschaften, Informelle Netzwerke)?
  • Sind die "Professionellen" alle in der Sozialen Arbeit einer Erwerbsarbeit nachgehenden Fachkräfte: SozialarbeiterInnen, MedizinerInnen, PsychologInnen, Verwaltungsfachleute, JuristInnen, TheologInnen, BetriebswirtschaftlerInnen, um nur die wichtigsten zu nennen, oder sind es nur die an Fachhochschulen ausgebildeten und staatlich anerkannten SozialarbeiterInnen (deutsches Modell) und die an Universitäten ausgebildeten Diplom-PädagogInnen?

Gefragt werden muss auch, ob "Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession" ihre materiellen Bedingungen (Gesetze, Institutionen, Finanzen, staatliche Beauftragung) auf die Achtung und den Schutz der Menschenwürde und die Realisierung von Menschenrechten verpflichten kann? Oder ob sie sich auf den Versuch beschränken muss, berufsethische Maximen für das Denken und Handeln der Professionellen normativ verbindlich zu machen? Und weiter: Ob auch das nur ein Appell an die Einsicht und die Bereitschaft jeder/jedes Einzelnen bleibt, sich als Angehörige/r einer Menschenrechtsprofession zu verstehen und in der beruflichen Alltagspraxis entsprechend zu handeln?

Eine andere Frage ist, wie verhindert werden kann, dass eine offensive Orientierung an Menschenwürde und Menschenrechten zur Selbsteinschreibung auf der Seite des Guten führt und in einer identitätspolitischen Reduzierung die immer notwendige Kritik an die Menschenwürde und die Menschenrechte verletzenden und missachtenden Strategien Praxen und Personen in der Sozialen Arbeit unterbleibt, weil der Blick vor allem auf Menschenrechtsverletzungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen, außerhalb der Sozialen Arbeit, gerichtet wird?

Dann die Frage, welche Kraft in berufspolitischen Auseinandersetzungen der Bezug auf die vielen Konventionen, über die sozialen und bürgerlichen Menschenrechte von der UN-Charta über die Europäische Sozialcharta bis hin zur UN-Kinderrechtskonvention sich entfalten kann? Und zuletzt: Welche anderen Ansätze, Vorstellungen, Sichtweisen werden diskutiert und vielleicht auch praktiziert zur Wahrung der Würde und der Rechte von Menschen, die auf die Leistungen Sozialer Arbeit angewiesen sind oder gegen ihren Willen von Sozialer Arbeit betroffen sind beziehungsweise ihr ausgeliefert sind? Welche Anschluss-Stellen gibt es zwischen dem Konzept "Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession" und den in jüngster Zeit stärker werdenden Bestrebungen für eine "kritische Soziale Arbeit" und eine "Re-Politisierung Sozialer Arbeit"?

Nicht alle diese Fragen werden in den Beiträgen des vorliegenden Heftes diskutiert. Sie bilden aber den Kontext, in dem die hier versammelten Texte gelesen werden sollten. In diesem Heft kommen BefürworterInnen und KritikerInnen des Ansatzes "Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession" zu Wort - manche sind es auch in einer Person. Der Titel dieses Heftes "Soziale Arbeit und Menschenrechte" betont die Offenheit des Diskurses, der allerdings hier nur in Facetten und nicht in seiner ganzen Breite vorgestellt werden kann.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Silvia Staub-Bernasconi vertritt in ihrem Beitrag offensiv Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession. Sie setzt sich mit kritischen Einwänden auseinander und empfiehlt, die Engführung von Sichtweisen und Argumentationen an den deutschen Verhältnisse aufzugeben, eine europäische Perspektive einzunehmen und auch diesen Kontext mit dem Blick auf die außereuropäische Welt zu überschreiten. Mit dem von ihr geleiteten Master-Studiengang "Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession", einem Gemeinschaftsprojekt der drei Berliner Fachhochschulen für Soziale Arbeit, wird Staub-Bernasconi praktisch, indem sie zeigt, wie Menschenrechtsbildung in der Sozialen Arbeit gemacht werden kann. Dass ein von den Studierenden privat finanzierter Weiterbildungs-Studiengang nur Modellcharakter haben kann und es darauf ankommt, Menschenrechtsbildung verbindlich in das Curriculum der grundständigen Studiengänge aufzunehmen, gerät der Autorin nicht aus dem Blick.

Der Beitrag von Manfred Kappeler macht deutlich, dass die Auffassung, Soziale Arbeit sei eine Menschenrechtsprofession, bei den in ihren wichtigsten Berufsbildern tätigen Professionellen nicht vorhanden ist. Kappeler denkt darüber nach, welche Gründe es für diese Abstinenz geben könnte. Die verbreitete Auffassung von Professionellen, Angehörige eines "helfenden Berufs" zu sein, bewirke eine tendenzielle Blindheit gegenüber der historischen Tatsache, dass Soziale Arbeit während ihrer ganzen Geschichte selbst ein Ort war und ist, an dem nicht nur in "bedauerlichen Einzelfällen", sondern systematisch die Würde von Menschen missachtet wurde und wird und Menschenrechte verletzt werden. Kappeler erinnert daran, dass die Menschenrechtsbindungen der kodifizierten normativen Leitlinien in den großen Gesetzen der Sozialen Arbeit (§ 1 SGB VIII etc.) in weiten Teilen der Praxis nicht gesehen oder nicht ernst genommen werde. Der Anspruch, eine Menschenrechtsprofession zu sein, müsste sich, so Kappeler, zu allererst bezogen auf die Binnenverhältnisse der Sozialen Arbeit bewähren. Eine die Kritikbereitschaft und die Zivilcourage der Professionellen stärkende Orientierung an Menschenwürde und Menschenrechten hält Kappeler für notwendig. Einer Selbstdefinition der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession steht er skeptisch gegenüber und befürchtet, dass dieser Weg in einem identitätspolitischen Projekt stecken bleiben könnte und so die analytisch-historische Selbst-Reflexion eher behindern als fördern würde.

Eric Mührel und Dieter Röh halten die Menschenrechte für einen produktiven Bezugsrahmen der Sozialen Arbeit auf allen ihren verschiedenen Ebenen (Theoriebildung, Forschung, Praxis). Ihre These: "Grundlagen der Sozialen Arbeit sind die Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit" entfalten sie in ihren "ethisch-anthropologischen, fachwissenschaftlichen, sozialpolitischen und sozialphilosophischen Dimensionen", wie es im Untertitel ihres Beitrags angekündigt ist. Sie erläutern den historisch-politischen und den ideengeschichtlichen Kontext, in dem sich der Menschenrechtsdiskurs in der Sozialen Arbeit heute bewegt. Die Autoren plädieren dafür, die von ihnen aufgezeigten Dimensionen eines menschenrechtlichen Bezugsrahmens der Sozialen Arbeit "zu einem fachwissenschaftlichen Programm zu bündeln". Dabei geht es ihnen um "die Entwicklung einer Sozialarbeitswissenschaft", die sich das "Modell einer Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession" konsequent erschließt.

In ihrem Beitrag "Kinderrechte und Soziale Arbeit" fragt Waltraut Kerber-Ganse, was denn SozialarbeiterInnen gewinnen und was die Kinder- und Jugendhilfe gewinnt, wenn sie sich nicht nur an den gesetzlichen Vorgaben des SGB VIII ausrichten, sondern darüber hinaus die Rechte von Heranwachsenden als "international verbriefte Rechte, als Menschenrechte begreift und ihr Handeln an diesen reflektiert". Kerber-Ganse zeigt am Beispiel des § 36 SGB VIII (Mitwirkung im Hilfeplan), dass die in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschriebenen Rechte von Kindern und Jugendlichen qualitativ über die in § 8 SGB VIII zugestandenen Beteiligungsrechte hinaus gehen und einem Perspektivenwechsel im Verhältnis Heranwachsende/Erwachsene bedeuten, von dem die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland noch weit entfernt ist. Die Autorin ist in ihrem Resümee überzeugt, dass eine kritische Soziale Arbeit, ohne Impulse aus den Menschenrechten zu beziehen, nicht denkbar ist. Allerdings gelte das für alle "Humanberufe" und es sei nicht angemessen, wenn "eine einzelne Berufsrichtung" sich "mit einem auf die Menschenrechte bezogenen Beiwort schmücken" wolle. Die UN-Kinderrechtskonvention allerdings könne der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland helfen, "endlich aus ihrer nationalen Nische" zu finden und sich als eine "Agentin der Menschenrechte" Heranwachsender zu begreifen".

Ganz anders als seine VertreterInnen beurteilt Helga Cremer-Schäfer das Projekt Soziale Arbeit als "Human-Rights-Profession". Es handle sich im Wesentlichen um Statuspolitik, "einen Kampf um Anerkennung und mehr Autonomie in der Arbeit von Professionellen, die im Bereich der Institution Soziale Arbeit ihre Dienstleistungen erbringen". Was dabei zuletzt herauskomme, sei allenfalls eine Reform von Institutionen, eine "Ausübung von Herrschaft im Detail". Der Vorwurf, auf idealistische Weise die Illusion einer widerspruchsfreien Sozialen Arbeit, in "der das Problem von 'Hilfe und Herrschaft' erledigt" sei, zu propagieren, ist in der radikalen Analyse der Autorin am "Muster der normativen Kritik" unüberhörbar. Die diesem Muster folgende "Sozialarbeitswissenschaft" hält die Autorin für eine "Reduzierung von Wissenschaft auf Handlungswissenschaft". Dem setzt Helga Cremer-Schäfer einen aus der kritischen Theorie der Frankfurter Schule hergeleiteten "theoretischen Pessimismus" entgegen, der "von einem gesellschaftlichen Bruch zwischen 'aufklärender', das heißt kritischer Wissenschaft und politisch-institutioneller Praxis" ausgehe. Dessen Fokus liege in der "Negativität", in der "Aufmerksamkeit für Widersprüche". Diesen Denkansatz entfaltet die Autorin an Kategorien wie Reflexivität, Individuum, Autonomie, Partizipation, Wohlfahrt. Auf diesem Weg kommt sie zu einer Alternative, zum "Status-Projekt" der Professionellen indem sie, ausgehend von "Interesse und Arbeit am eigenen Leben", die Perspektive der NutzerInnen sozialer Dienstleistungen einnimmt. Radikal fragt sie nach dem Nutzen, der Gebrauchswerthaltigkeit sozialer Dienstleistungen für die darauf angewiesenen oder davon betroffenen Subjekte. Diese konsequente Gebrauchswertorientierung bewahrt vor idealistischen Höhen- und Zukunftsflügen und behält als analytischen Fokus die "Verhältnisse", die "materiellen Bedingungen" in kritischem Blick. Allerdings wäre hier zu fragen, ob denn Soziale Arbeit insgesamt zutreffend als "Soziale Dienstleistung" definiert werden kann? Wo bleiben in dieser Sicht die offensichtlichen Gewaltverhältnisse in den mehr oder weniger geschlossenen Settings der Sozialen Arbeit? Die ihnen Unterworfenen können doch nicht als NutzerInnen verstanden werden, die über Ressourcen zur Erweiterung des auf ihre Lebenssituation bezogenen Gebrauchswertes Sozialer Arbeit verfügen würden? Für sie geht es in erster Linie darum, aus diesen Gewaltverhältnissen heraus eine öffentliche Stimme zu bekommen. Dafür wären unabhängige Menschenrechtsberichterstattungen, die Institutionalisierung unabhängiger Beschwerdemöglichkeiten, die Selbstorganisation von Opfern (Beispiel: die aktuelle Initiative ehemaliger Heimkinder und Fürsorgezöglinge) notwendige und wirksame Unterstützungen.

An dieser Stelle eröffnen sich Berührungspunkte zwischen "Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession", verschiedenen Konzepten von Kritischer Sozialer Arbeit und einer gebrauchswertorientierten Nutzerperspektive, die sich aus den gegenseitigen Kritiken - dem Idealismusvorwurf hier und dem Ökonomismusvorwurf da (hier etwas holzschnittartig) - ergeben könnten, wenn es gelänge, die in ihnen enthaltenen Anfragen nicht abzuwerten um sie abzuwehren, sondern sich produktiv mit ihnen auseinander zu setzen. Wenn es gelingt, auf diese Weise einen Beitrag zum Diskurs "Soziale Arbeit und Menschenrechte" zu leisten, dann hat dieses Heft aus der Sicht der Redaktion seinen Zweck erfüllt.

Die Redaktion