SOZIAL-SPAR-STAAT
Editorial
Die sozialdemokratisch geführte Regierung ist derzeit dabei, das traditionelle Wunderkind der Sozialdemokratie - den Sozialstaat - zu fressen. Wieder einmal werden ökonomische Sachzwänge anerkannt. Die Gefahren einer solchen Politik liegen auf der Hand: Die Konkurrenz von "Leistungsschwachen" und "Leistungsstarken" wird zunehmen, ganze Gesellschaftsgruppen werden vom "Wohlstand" ausgegrenzt, die ökonomische Krise wird verschärft und autoritäre Tendenzen nehmen zu.
Ist nun der politische Imperativ für die Linke die rigorose Verteidigung des Sozialstaates? Oder gibt es nicht genügend repressive Elemente staatlicher Sozialleistungen und gab und gibt es nicht - gerade von der Linken initiierte - Kampagnen gegen Teile dieses Sozialstaates, die andere Perspektiven notwendig machen?
Die Linke ist angesichts des rigiden Sparkurses der Bundesregierung in Gefahr, die alte Sozialdemokratie von gestern zu werden. Denn in der blinden Verteidigung des Sozialstaats würde sie nichts anderes als ein politisches Konzept der Sozialdemokratie vertreten. Sie fiele damit in ihrer praktischen Politik hinter alle Diskussionen zurück, die seit dem Aufbruch Ende der 60er Jahre geführt wurden, vor allem hinter die Debatten, die die letzten Jahre beherrschten. Da wurde nämlich Kritik am Sozialstaat "neu" geäußert. Von Konservativen wie von Grünen. Alternativen. Die Stichworte seien kurz ins Gedächtnis gerufen: Anspruchsinflation bzw. Abhängigkeit durch staatliche Versorgung; aufgeblähte, ineffektive Bürokratie bzw. entfremdende Mega-Institution Staat; Senkung der Staatsquote, freie Bahn für die Marktkräfte bzw. Entstaatlichung der Wirtschaft, Entflechtung.
Die konservative Kritik läuft darauf hinaus, die Spaltungs- und Ausgrenzungstendenzen der gegenwärtigen Krise zu einem politisch wünschenswerten Zustand natürlicher Auslese zu mystifizieren. Die grüne, alternative Kritik (wir pauschalisieren hier etwas, gewiß) dagegen formuliert den Anspruch. Perspektiven zur Überwindung kapitalistischer und realsozialistischer Gesellschaften zu liefern. Unserer Meinung nach bleiben dabei aber noch einige bedeutende Fragen offen, die bei einer Diskussion und bei der Entwicklung einer Politik gegen die Unsicherheit der 80er Jahre bedacht werden müssen.
Die wesentlichen Probleme der grünen/alternativen Position scheinen uns die folgenden zu sein: Die Perspektive der Entstaatlichung mündet in Konzepten traditionaler, persönlicher, gegenseitiger Hilfe. Gegenüber den verrechtlichten bürokratischen Formen der Sozialstaatlichkeit werden positiv persönliche Beziehungen gesetzt. Stillschweigend wird dabei immer unterstellt, als seien solche Formen persönlicher (Ver)Bindungen ohne herrschaftlichen Charakter. Dies ist allerdings weder theoretisch noch bei Betrachtung der Geschichte eine zwingende Konsequenz. Gerade verwandtschaftliche, familiale Sozialbeziehungen zeichnen sich als persönliche Herrschaftsformen aus. Neben dieser Unterstellung wird auch in der Kritik verrecht-lichter Formen das Kind mit dem Bad ausgeschüttet: Die an die Form bürgerlichen Rechts gebundene Utopie des Gleichheitspostulats wird im Abseits belassen. Die Forderung nach sozialer Gleichheit, die sich in der Allgemeinheit des Rechtsanspruchs findet, enthält nämlich die politisch-moralische Anerkennung eines sozialen Menschenrechts. Des Menschenrechts auf ein Leben ohne Armut, Not und Hunger. In diesen Problemen steckt die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen der rechtlichen, bürokratischen Formen bürgerlicher Sozialstaatlichkeit bzw. nach Alternativen zu diesen Formen von Politik und Bürokratie
Die Perspektive der Entstaatlichung in gemeinschaftliche, nachbarschaftliche Organisationen läßt weiterhin den gesellschaftlichen Mechanismus der Produktion sozialer Probleme unberührt. Die Frage, weshalb bestimmte soziale Leistungen - egal ob staatlich oder selbstgeholfen - notwendig werden, kann sich so kaum mehr stellen. Die gesamtgesellschaftliche Durchsetzung eines solchen Konzepts soll über die Vernetzung der vielen dezentralen Alternativen geschehen. Unterstellt ist dabei, daß die Addition verschiedener, zersplitterter Alternativen die gesellschaftlichen Prioritäten umwerfen kann, daß ein alternativer gesellschaftlicher Zusammenhang durch die Verknüpfung im großen Netz sich konstituiert. Offen bleibt dabei nicht nur, inwieweit die dezentralen Einheiten noch mit den Muttermalen der alten Gesellschaft behaftet sind, sondern auch als bedeutende Frage, wie denn die existierende politische Macht aufgelöst wird.
Eine für die aktuelle Krise entscheidende Frage, nämlich die nach der Überwindung des kompensatorischen Charakters der Sozialpolitik bleibt ebenso unbeantwortet, es sei denn, man akzeptiert die Bildung der gemeinschaftlichen Zusammenhänge als Antwort. So jedenfalls - in der Nichtbeachtung der Ursachen der sozialen Probleme und im Selbsthelfer-Eifer - bieten diese Konzepte keine Gewähr für die Verhinderung einer neoliberalen Krisenlösung. Diese Konzepte bleiben weitgehend auf den Reproduktionsbereich, auf Alternativen zu den Institutionen des Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesens beschränkt. Diese Beschränkung auf "Sozialpolitik" müßte überwunden werden, hält man sich die gesamtgesellschaftlichen, ökonomischen Ursachen der gegenwärtigen Krise vor Augen. Schließlich unterstellt die grün/alternative Forderung nach weniger Staat auch die Unverbrüchlichkeit bürgerlicher Hegemonie, d.h. bürgerlich-herrschaftlicher Interessen und Qualitäten in den staatlichen Institutionen.
Für uns heißt das dagegen zu fragen, ob und wie sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse auch in den politischen Institutionen verändern und wie sich dabei deren herrschaftliche Formen abschaffen lassen!
Ausreichende Antworten auf diese Fragen lassen sich in diesem Heft sicher nicht finden. Mit unserer ersten Nummer zur Sozial-Spar-Politik '82 wollen wir anfangen, das zu begreifen, was in sozialdemokratischem Technokratendeutsch Operation '82 genannt wird. Wie wenig diese regierungsamtliche Operation zum Wohlbefinden der Betroffenen beiträgt, zeigt der AKS Hamburg mit seinen "7 Todsünden des Sozialstaatsbürgers, welche aber den Sozialstaat erhalten". Hier werden normale Lebenssituationen und der dem amtlichen Stand 1982 entsprechende sozialstaatliche Zugriff dargestellt. Diese Darstellung vervollständigen wir mit dem Artikel von Paul Schmitt "Wi(e)der die Gesamtschule", einer Zusammenfassung von "Spargesetzen im Gesundheitswesen" und Helmut Bredes Beitrag über die Wohnungsmisere.
Als Betroffene(r) wird man/frau von den mit Sachzwängen und haushaltstechnischen Begriffen gespickten Sparreden oft an den Rand der Sprachlosigkeit gedrängt. Diese "trockene Materie", durch die so viele Menschen zum "Fall" gemacht werden, faßbarer und angreifbarer zu machen, versucht exemplarisch die Aachener Stadtzeitung Klenkes am Beispiel des kommunalen Haushalts. Wohin die verschiedenen Steuereinnahmen der Stadt Aachen im einzelnen fließen, erläutert zusätzlich eine Grafik, die wir als Haushaltsposter diesem "Widersprüche"-Heft beilegen.
Joachim Hirsch begreift in seinem Beitrag "Soziale Staatskrise und sozialdemokratisches Dilemma" den Sozialstaat als notwendigen Mechanismus zur Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse. Das Besondere der heutigen Sozialstaatskrise liegt in ihrer Bestimmtheit durch die ökonomische Krise des Modells Deutschland und darin, daß die SPD-Politik keineswegs ein Ende der "Durchstaatlichung" der BRD-Gesellschaft mit sich bringt, sondern der sozialen Desintegration eine Ausweitung des Netzes "Innerer Sicherheit" entgegensetzt.
Das Reißen des sozialen Netzes setzt die Betroffenen immer mehr unter Druck. Dieser Druck schlägt offensichtlich nicht sofort in Widerstand um. sondern verbreitet erstmal Konkurrenz. Angst und Scham. Im Gespräch mit Mitarbeitern der Arbeitslosenzentren Bremen und Hannover geht es genau darum: um die Probleme der Organisation kollektiver Gegenwehr gegen ein gesellschaftliches "Schicksal", dessen Wesen die Isolation ist.
Den Abschluß des Themen-Teils bilden Thesen zur Sozialpolitik von C.W. Macke. Sie sollen der Anfang einer Diskussion sein, um Perspektiven im Kampf gegen die gegenwärtige Sparpolitik und einer sozialistischen Politik, deren zentraler Bezugspunkt die Überwindung des Lohnarbeiterverhältnisses bleibt.
Im Dokumentationsteil unserer "Widersprüche" stellen wir Initiativen dar. die sich in der letzten Zeit gegen die Sparpolitik gebildet haben.
Wir würden uns freuen, wenn wir mit diesen und anderen Initiativen. Gruppen und Jugendverbänden eine Diskussion beginnen könnten, die Erfahrungen vermittelt und gemeinsame Widerstandsformen gegen die Sparpolitik ermöglicht. Dazu laden wir zu einem Arbeitsseminar vom 23. - 25.4.1982 ein (siehe dazu auch Seite l 13). deren Ergebnis und eine Fortführung der Diskussion der o.g. Fragen wollen wir im Heft 4 veröffentlichen.
Leserbriefe. Reaktionen auf die 1. Ausgabe der Widersprüche und Kurzberichte im Magazinteil beenden das 2. Heft der Widersprüche.
Redaktion "Widersprüche", Offenbach. März 1982