Sicher ist sicher? Vom Modell Deutschland zur Deutschland AG
Editorial
Im Verlauf einer zweihundertjährigen europäischen Tradition haben wir uns daran gewöhnt, das seit der französischen Revolution zunehmend in allen westlichen Konstitutionen verankerte Menschenrecht auf Sicherheit als eine staatliche Leistung anzusehen. In seiner weitesten Bedeutung umfaßt dieser Begriff das Fernsein von Sorge aufgrund staatlicher Herrschaft. In diesem Zusammenhang ist Sicherheit zu einer der wichtigsten Wertideen hochdifferenzierter Gesellschaften geworden.
In den Beiträgen dieses Heftes befassen sich die Autoren unter anderem mit der Frage, ob diese Verknotung von Sicherheit mit staatlicher Leistung heute noch Geltung haben kann. Doch bevor wir auf die Diskussion im einzelnen eingehen, sei die Herausbildung dieser Verknüpfung kurz historisch nachgezeichnet. Erste Anklänge an diesen Sprachgebrauch der Sicherheit finden wir bereits in den Feudalstaaten. Dort verwob sich die persönliche Sicherheit des Souveräns mit der Sicherung des öffentlichen Wohls. Wir finden dort neben der "Sicherheitspolizey" auch die "Wohlfahrtspolizey" als zweiten getrennten Zweig staatlicher Herrschaftssicherung. Staatlicher Hauptzweck war aber die Sicherheit und diesem die (überwiegend instrumentelle) Sorge um die allgemeine Wohlfahrt, Glückseligkeit und Zufriedenheit der Staatsgenossen bereits untergeordnet.
Neben anderen wandte sich 1793 auch Kant gegen diese Auffassung von Sicherheit, weil sich subjektive utilitaristische Prinzipien und der in Gesetzen inkarnierte Anspruch auf Allgemeinheit widersprächen. Die Regierung solle nicht von Glückseligkeit reden, "sondern allererst von dem Rechte, das dadurch einem jeden gesichert werden soll". Zunehmend wurde dann Sicherheit nicht mehr zusammen mit väterlicher Wohlfahrt, sondern mit dem Schutz des Eigentums buchstabiert. Die Sicherheit, so kommentierte Marx in der Judenfrage, "ist der höchste Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, der Begriff der Polizei, daß die ganze Gesellschaft nur da ist, um jedem ihrer Glieder die Erhaltung seiner Person, seiner Rechte und seines Eigentums zu garantieren." Und bissig fügte er hinzu: "Durch den Begriff des Eigentums erhebt sich die bürgerliche Gesellschaft nicht über ihren Egoismus. Die Sicherheit ist vielmehr die Versicherung des Egoismus."
Dieses kaltschnäuzige minimalistische Staatskonzept war gegen den Druck der pauperisierten Massen auf Dauer nicht aufrecht zu halten. Bismarck formulierte staatliches Einlenken 1884: "Geben Sie dem Arbeiter das Recht auf Arbeit, solange er gesund ist, geben Sie ihm Arbeit, solange er gesund ist, sichern Sie ihm Pflege, wenn er krank ist, sichern Sie seine Versorgung, wenn er alt ist". Damit wurde das Ideal des väterlichen Staates in modernisierter Form wiederhergestellt und zugleich unser heutiges Verständnis umrissen. Die Sicherheit, die wir meinen, fußt im Sozialstaat auf staatlicher Rechtsgewährung und wohlfahrtsstaatlicher Fürsorge.
Doch ein erneuter Umbruch stellt die sozialstaatliche Sicherung des Modells Deutschland zur Disposition. Selbst in seiner reduzierten Variante eines bürgerlichen Sicherheitsstaates, in der dieser den kapitalistischen Warenverkehr durch Einhegung seiner anarchischen Wucherungen - mittels Rechtsgarantie des Privateigentums - zugleich zu sichern und zu befördern hatte, rutscht das bürgerliche Sicherheitsversprechen nun in die Löwengrube der konkurrierenden Unternehmer herab. Es muß sich nun ebenfalls dem euphemistisch "Freies Spiel der Kräfte" genannten Wettbewerbskampf stellen. Kann der Staat als Garant bürgerlicher Sicherheit auf diese Weise überhaupt noch sein Wächteramt, die Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit und sozialer Sicherheit wahrnehmen? Es ist Anliegen dieses Heftes, vor diesem Hintergrund aktuelle Veränderungen nachzuzeichnen.
Möglicherweise bringt die gegenwärtige Entwicklung ja zum Ausdruck, daß der bürgerliche Mensch nicht mehr bereit ist, sich als das gefährliche Wesen zu begreifen, das im leichtgläubig-ideologischen Glauben an seine Gefährlichkeit und die seiner Mitmenschen bereit gewesen ist, sich ohne großes Zögern in den Gesellschaftsvertrag zu fügen. Möglicherweise sieht er sich nun vielmehr als gefährdeter Privatmensch. Auf sich gestellt, hat er seine Gefährdung selbständig egologisch zu bestimmen und muß sein Sicherheitsbedürfnis in privat zu gestaltenden Versicherungsbedürfnissen zu realisieren versuchen. Die konkrete Ausgestaltung und Wahrnehmung dieses Bedürfnisses ist dann keine Angelegenheit mehr zwischen ihm und dem Staat, sondern ein privat-rechtliches Geschäft zwischen ihm und speziellen Sicherheitsanbietern. Vielleicht wandelt sich das zweihundert Jahre alte Menschenrecht auf Sicherheit
- und die Beiträge dieses Heftes legen nahe, daß der ehemals ziemlich undurchlässige Block staatlicher Sicherheitsgewährung tatsächlich zu bröckeln beginnt - durch seine Entstaatlichung zum Versicherungsrecht einer eigennützigen, gleichmäßigen und auf die Spitze getriebenen Absonderung aller voneinander.
Zu den Artikeln im einzelnen
Der einleitende Beitrag von Zygmunt Bauman legt eben diese Interpretation nahe. Er ist der Ansicht, daß sich die Reproduktion sozialen Lebens nicht mehr über die panoptisch angelegten Drillanstalten staatlicher Wohlfahrtsgewährung vollzieht, sondern entinstitutionalisiert und abseits der ausgetretenen staatlichen Zugriffspfade. "Privatisierung" definiert er daher in einem radikalen Sinn: es geht nicht nur um den Abzug staatlicher Verantwortung aus den Zentren der Gewalt, sondern darum, rigoros bei der einzelnen Monade zu beginnen. Diese hat nun im do it yourself-Verfahren und in eigener Verantwortung ihren Streifzug durch die Welt zu organisieren. Es gilt ihr, den eigenen Garten der Lüste und Interessen zu bestellen und sich dabei nicht in der Herstellung einer klar umgrenzten Identität zu verzetteln, sondern stets für den Übergang bereit zu sein. Hieraus wiederum resultiere eine neue Form der individuellen Selbstkontrolle, die 'externe' Kontrollinstitutionen überflüssig mache.
Joachim Hirsch macht in seinem Beitrag eine eher gegenläufige Tendenz aus. Er spricht von der Transformation des "Modells Deutschland" in eine "Deutschland GmbH". Der fordistische Sicherheitsstaat mit seinen sozialstaatlichen und absichernden Strukturen als Grundlage des kapitalistischen Wettbewerbsmodells habe ausgedient; daraus entwickele sich, unbeachtet von dem Gerede um "Privatisierung" und "Deregulierung" eine neue Phase der Durchstaatlichung von Gesellschaft. Der Staat ziehe sich nicht zurück, sondern ändere lediglich seinen Regulierungsmodus; an die Stelle sozialstaatlicher Leistungen trete verstärkt polizeiliche Überwachung.
Jens S. Dangschats Beitrag wiederum ließe sich durchaus umgekehrt lesen. Nicht nur an der Art und Weise, wie an der Entstehung sog. "sozialer Brennpunkte" gewerkelt werde, sondern auch daran, wie die Konzepte des Umgangs mit ihnen begründet seien, macht er eine Tendenz zu einem nurmehr partiellen Integrationsanspruch gegenüber den 'Insassen' sozialer Brennpunkte fest. Das Phänomen, jenes, leeren Kassen und gezielter oder billigender Inkaufnahme geschuldeten, räumlichen Konzentrationsprozesses von gesellschaftlichen "Abweichlern" wäre dann gerade als Resultat eines staatlichen Unterlassungsverhaltens zu interpretieren. Angesichts einer wenig wahrscheinlichen Änderung der Rahmenbedingungen dieses staatlichen (Nicht-mehr-) Handelns, die er in der Erosion des "Ersten Arbeitsmarktes" begründet sieht, stehe jedoch für alle Beteiligten die prinzipielle Orientierung am Modell der Erwerbsarbeit neu zur Disposition.
Ähnlich wie J. Hirsch argumentiert Thilo Weichert: Er bezieht sich auf das von Hans Magnus Enzensberger in Anlehnung an das in der frühneuzeitlichen Utopie des Campanella so bezeichnete Sonnenstaatsmodell des ehemaligen Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Horst Herold. Dieser hatte die polizeiliche Überwachungsleistung im "Modell Deutschland" zu einer umfassenden gesellschaftssanitären Präventionsleistung weiterentwickeln wollen. Damit, so Herold damals, sei der Polizei ihr eigentlicher Platz zugeordnet: Als die regulative Institution in der Gesellschaft, die den Puls der Zeit fühlt und einschreiten kann, bevor es überhaupt zum Konflikt kommt. Weichert zeigt, daß sich Anklänge an dieses Modell nunmehr, wenn auch mit Brüchen, in der präventiv-überwachenden Asylpolitik zu realisieren beginnen.
Hans Albrecht Hesses Überlegungen lassen sich daran anknüpfen. Er diskutiert das Verhältnis der beiden klassischen Staatsfunktionen in der Staatstheorie, Rechtsstaat versus Schutzstaat, und sieht dieses zugunsten von letzterem 'aufgelöst', wenn - wie gegenwärtig der Fall - das Recht zunehmend dafür in Anspruch genommen werde, Eingriffe in private Lebensführung als Ausdruck staatlichen Krisenmanagements abzusichern. Der prinzipielle Widerspruch zwischen individuellen Freiheitsrechten (Stichwort: Abwehrcharakter der Grundrechte und deren staatlicher Garantie werde durch den Rekurs auf Schutzstaatsfunktionen in Richtung einer staatlichen Definitionsmacht über Notstandssituationen verschoben - mit Konsequenzen für das Prinzip der Gewaltenteilung.
Hubert Beste und Stefan Braum fragen kritisch, ob sich die Debatte um das staatliche Gewaltmonopol in dem schlichten Dualismus staatliche Gewährleistung vs. private Anbieterschaft erschöpft. Anhand der Privatisierung öffentlicher Räume und deren Kontrolle durch private Sicherheitsdienste gelangen sie zu der These, daß das Gewaltmonopol durch diese Verlagerung nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt werde.
In den neuen Bundesländern verfügen von ehemaligen Staatsicherheits-Bediensteten geführte Detekteien aufgrund der guten Ausbildung ihrer Mitarbeiter zu DDR-Zeiten häufig über bessere Arbeitstechniken als ihre westdeutschen Kollegen - und bisweilen auch als die Polizei. Ihr Know-How hat diese Detekteien zu einem wichtigen Faktor bei der Durchsetzung privater Sicherheitsbestrebungen, besonders von großen Industriefirmen, werden lassen. Knut Thiel diskutiert anhand einer empirischen Auswertung des beruflichen Selbstverständnisses und der - aufschlußreichen! - beruflichen Praxis von Detektiven die Erosion des staatlichen Gewaltmonopols insbesondere für den Wirtschaftsbereich und den Verlust demokratischer und rechtlicher Kontrollmöglichkeiten. Diskussionswürdig ist die These einer damit einhergehenden Tendenz zur Privatisierung sozialer Konflikte.
Michael Lindenberg beschreibt in seinem Beitrag, daß selbst die Inhaftierung -also der am tiefsten in das bürgerliche Individuum einschneidende, staatliche, hegemoniale Sicherungseingriff- zu einer Frage des Geschäfts werden kann. Angesichts der Ausweitung des Marktimperativs diskutiert er, ob eine erstarkende Kriminalitätsindustrie, die er als einen immer mächtiger werdenden Zweig der Sicherheitsbranche identifiziert, zu einer Ausweitung der Einsperrung beiträgt, in deren Verlauf sich die heutigen Gefängnisse zu Gulags wandeln werden. Dies knüpft an eine in den "Widersprüchen" 1986 (Heft 19) geführte Diskussion an; in diesem Band wurden die gesellschaftspolitischen Implikationen des Gefängnisses bereits unter dem Hefttitel "Archipel Knast" diskutiert.
Das subjektive Sicherheitsgefühl ist auch eine Frage banaler Alltagsrealität. Henning Schmidt-Semisch spricht sich daher im letzten Schwerpunktbeitrag gegen die Beibehaltung der Institution 'Handtasche' aus. Diese schaffe zu viele Tatgelegenheitsstrukturen und vermindere daher das Sicherheitsgefühl in der Gesellschaft ganz beträchtlich.
Im Zusammenhang mit dem Themenschwerpunkt steht der Forums-Beitrag von Uwe Ewald, der sich mit der künstlerischen Verarbeitung des Zusammenhangs von Medien, bürgerlichem Sicherheitswahn und (deren) "natural born killers" auseinandersetzt. Eine zentrale Rolle in U. Ewalds Entgegnung auf Konrad Weiß' Verriß des Film-Spektakels von Oliver Stone spielt die Frage nach den Verhältnissen jenseits und diesseits des 'großen Teichs'...
Die Redaktion