Scheiternde Erfolge - oder
Editorial
"Gesellschaft als Diskurs der Wünsche meint das Verfertigen des Sozialen im Prozess des sozialen Diskurses, nicht Unterwerfung unter vorgefertigte Normierungen": Dieser Satz von Nico Diemer findet sich als regelmäßiges Motto der Widersprüche-Redaktion auf der inneren hinteren Umschlagseite unserer Hefte. Dieses Motto ist zugleich als Einladung und Aufforderung gemeint, mit uns "in den Diskurs zu kommen". Es versteht sich von selbst, dass ein solcher "Diskurs der Wünsche" über die gut 20 Jahre des Bestehens der Widersprüche hinweg nicht frei von Enttäuschungen bleiben konnte. Denn "die Ideen der herrschenden Klasse", so formuliert es Karl Marx in der Deutschen Ideologie, "sind in jeder Epoche die ‚herrschenden Ideen', d.h. die Klasse, die die herrschende materielle Kraft der Gesellschaft ist, ist gleichzeitig deren herrschende intellektuelle Kraft".
Die Widersprüche-Redaktion hat nie den Anspruch vertreten, herrschende Ideen zu formulieren, sondern im Gegenteil Umrisse einer Politik des Sozialen skizziert, die den herrschenden Ideen entgegensteht. Mit einer Politik des Sozialen ist gemeint, dass es die Menschen selbst sind, die - ohne Qualitätsmanager, ohne DIN-ISO-Norm und ohne Zertifizierung oder Akkreditierung - ihr Handeln als Produzenten ihrer Gesellschaftlichkeit gestalten. Der Bezug auf Karl Marx ("Das Individuum ist das Ensemble gesellschaftlicher Beziehungen") und auf Max Weber ("Soziales Handeln ist sinnhaftes, auf die Anderen bezogenes Handeln") ist deutlich und beabsichtigt. Das Soziale entsteht in einem Prozess, in dem die Subjekte durch ihre Mitgliedschaft in unterschiedlichen Gruppierungen und Milieus Sozialitäten bilden. Eine Politik des Sozialen unterstützt diesen Prozess, und Soziale Arbeit gewinnt damit einen Bezugspunkt von eigenständiger Qualität, die befreit von subalternen Anleihen bei Psychologie, Medizin, Juristerei, Betriebswirtschaft oder anderen Disziplinen.
Eine derartige Politik des Sozialen benötigt auch Macht, aber es ist eine Macht in Sinne von Hannah Arendt im Kontext ihrer Begriffe des Handelns und des politischen Raumes: Angesprochen ist die menschliche Fähigkeit, "sich mit seinesgleichen zusammenzutun, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, sich Ziele zu setzen und Unternehmungen zuzuwenden", kurz: in einem politischen Sinn von unten zu behelligen und dabei stets einen neuen Anfang zu finden.
Jedes der mittlerweile fast einhundert Hefte der Widersprüche ist so gesehen ein stets neuer Anfang, ein stets neuer Versuch im Sinne von Hannah Arendt (1990: 45), "nicht nur zu handeln und etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln" - mithin eine Politik des Sozialen zu formulieren und in die Diskussion zu tragen. Mehr als zwanzig Jahre Widersprüche bedeuten in diesem Kontext aber auch, dass wir heute wieder gezwungen sind, uns zu Phänomenen zu äußeren, deren Beseitigung wir kritisch begleitet haben, und die wir überwunden hofften. So befassen sich im ersten Heft der Widersprüche überhaupt, im September 1981, gleich zwei Aufsätze mit dem Thema der "geschlossenen Unterbringung" in der Jugendhilfe. In einem dieser Aufsätze (Sonnenfeld 1981: 99) wird auf Zahlenmaterial aus 1976 zurückgegriffen, wonach in 125 westdeutschen Heimen insgesamt 1.300 Kinder und Jugendliche und damit 14,4% aller Minderjährigen in der öffentlichen Erziehung untergebracht waren. Der Beitrag wurde allerdings zu einer Zeit geschrieben, in der die Situation bereits viel unübersichtlicher geworden war: durch die in diesem Aufsatz zitierten Begriffe wie "Teilgeschlossene Unterbringung", "Individuelle Geschlossene Unterbringung" oder etwa "Intensivgruppe" (ein Begriff aus dem "Ellener Hof" in Bremen, über den unser Autor Olaf Ehmig in diesem Heft berichtet) werden die seinerzeitigen Aufweichungen der Grenzen hin zu gemeindenahen und in der Tendenz dann ambulanten Hilfen deutlich. Dies markiert einen Prozess, der die achtziger und neunziger Jahre ganz maßgeblich bestimmte und dazu führte, dass die Geschlossene Unterbringung zwar nicht vollständig beseitigt, aber doch zunehmend an den Rand gedrückt wurde. Einer bundesweiten Erhebung des Landesjugendamtes des Saarlands zufolge befanden sich im Jahre 2000 nur noch in sechs Bundesländern Einrichtungen mit geschlossener Unterbringung. In 8 Einrichtungen wurden insgesamt 146 Plätze vorgehalten. Das waren allerdings bereits 21 Plätze mehr als 1998 (125 Plätze). Es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeiten, um vorauszusagen, dass die Platzzahl weiter ansteigen wird. Warum? Die bereits 1977 von Bäuerle gegebene Antwort ist immer noch aktuell: "Befindet sich die demokratische Gesellschaft in einer Bewegung zu mehr Humanität, mehr Demokratie, mehr Freiheit für den Bürger, in Phasen sozialer Hoffnung und politischen Mutes, finden alle offenen, an Freiheit und Selbstbestimmung orientierten Hilfen für problematische Kinder Auftrieb (moralisch und finanziell). Befindet sich die demokratische Gesellschaft in Phasen der Depression, der politischen Unlust, der Ängstlichkeit und des Rufes nach Recht und Ordnung, wird alsbald auch nach mehr geschlossenen Heimen für Kinder und Jugendliche gerufen, nach Einschränkung der ‚Finanzlast' für soziale Hilfen und gleichzeitig nach einer entschlossenen Polizei, einer Justiz, die kurzen Prozess zu machen versteht, und nach sicheren Gefängnissen" (Bäuerle 1977: 248).
Diese Entwicklung mag ein Beispiel von vielen für die bitteren Früchte von Emanzipations-Projekten sein, Projekten, an denen sich auch die Redaktionsmitglieder der Widersprüche beteiligt haben: Auch dort, wo wir zur Durchsetzung von Forderungen mit haben beitragen können, werden nun viele dieser Errungenschaften im Zuge ihrer Etablierung in ihr Gegenteil verkehrt und durch eine neoliberale Politik des "getting-tough" vereinnahmt. So sind die Begriffe "Teilgeschlossene Unterbringung", "Individuelle Geschlossene Unterbringung" oder "Intensivgruppe", wenn sie in dem zitierten Aufsatz auch als "geschmeidigere, wirksamere, psychologisch funktionierende Kontroll- und Normalisierungsinstanzen" (Sonnenfeld 1981: 102) kritisiert wurden, auf der anderen Seite doch Indikatoren für die allmähliche Überwindung der Einsperrung gegen Kinder und Jugendliche gewesen. Heute dagegen bereiten eben diese Begriffe den (therapeutisch garnierten) Weg für die Wiedererstarkung der Einsperrung.
Zu den Beiträgen im Einzelnen:
Reinhard Kreissl kennt die beschriebene Periode aus eigenem Erleben und musste beobachten, dass es dem Projekt der "kritischen Kriminologie" heutzutage zunehmend weniger gelingt - trotz vielleicht "richtiger" Theorien - noch gesellschaftliche Resonanz zu erzeugen. Doch haben, so der Autor, Theorien sicher wichtigere Eigenschaften, als wahr zu sein; sie müssen auch in die gesellschaftliche Deutung passen. Und da die kritische Kriminologie auf Inklusion setzt, war sie in einer auf Inklusion gestrickten Gesellschaft en vogue. Heute jedoch, im sich abzeichnenden Übergang zur Exklusion als dominanter Strategie zur Regelung sozialer Probleme, schwindet das Interesse an dieser Deutung, und Gehör finden jene, die für Ausgrenzung und Bestrafung votieren. Dies ist jedoch nur ein Teil der Misere. Darüber hinaus leidet dieser Wissenschaftszweig darunter, dass die kollektiv tragfähige Vorstellung eines besseren, erstrebenswerten Lebens - die zentrale normative Grundlage der kritischen Kriminologie - augenscheinlich im Schwinden begriffen ist.
Peter Beresford und Suzy Croft analysieren am Beispiel Großbritanniens das Projekt der "Partizipation", das historisch betrachtet den ‚umgekehrten' Weg gegangen ist und erst mit dem Aufkommen des Neoliberalismus aus seinem marginalen Status heraustreten konnte. Dabei fokussieren sie die historischen, ideologischen und theoretischen Kontexte dieser Entwicklung und konstatieren das Paradox, dass man in einer Zeit, in der Beteiligung auf den unterschiedlichsten Ebenen zunehmend von Politik, Praxis und Wissenschaft gefordert werde, eben dieser Beteiligung immer öfter misstrauisch gegenüber trete. Dies sei bei näherem Hinschauen jedoch keineswegs verwunderlich, da es sich dabei meist nicht um "demokratische Partizipationsmodelle", sondern um kundenorientierte/managerialistische Ansätze handele, die weniger der Steigerung als vielmehr der Verhinderung von realer Beteiligung und/oder der Verringerung staatlicher Ausgaben dienten. Die mit der neoliberalen Politik verbundene Prominenz von Partizipation biete jedoch, so Beresford und Croft, auch Raum für wirkmächtige Gegendiskurse, die ein demokratisches Partizipationsmodell favorisieren, so dass sich heute, "in einer komplexen, von Ambiguität und Unsicherheit geprägten Situation (...) Chancen für sozialpolitische Veränderungen bieten". Hierfür die notwendigen Rahmenbedingungen zu definieren, sei die nun anstehende Aufgabe.
Regina Brunnett analysiert alternative Gesundheitskonzepte als sozio-kulturelle Praktiken, die Bestandteil eines alternativen Gesundheitsmarktes sind. An Foucault anknüpfend bearbeitet der Beitrag die zentrale Frage, auf welche Weise alternative Gesundheitskonzepte zur Durchsetzung des hegemonialen neoliberalen Projekts beitragen. Am Beispiel des Betrieblichen Gesundheitsmanagements wird gezeigt, mit welchen Strategien Gesundheit bruchlos in Produktivitätssteigerung integriert und gleichzeitig mit dem neoliberalen Versprechen der sozialen Inklusion verknüpft wird. Vor diesem Hintergrund diskutiert Regina Brunnett das Verhältnis von alternativer Gesundheit und sozio-ökonomischen Spaltungen im Neoliberalismus als eines der Immanenz. Es komme deshalb darauf an, "die Verstrickungen alternativer Gesundheitskonzepte und -praktiken (...) mit neoliberalen Herrschaftstechnologien in den Blick zu nehmen".
Olaf Ehmig hat den eben beschriebenen Prozess von der Liberalisierung in den 70er Jahren hin zu der derzeit erneut erstarkenden Kontrollorientierung mit erlebt. Als Erzieher hat er seinerzeit im "Ellener Hof" in Bremen in der oben angesprochenen "Intensivgruppe" gearbeitet und die Ablösung der geschlossenen Unterbringung zugunsten von Alternativen aktiv mit gestaltet. Er interpretiert die Entwicklung seither jedoch nicht als eine lineare Entwicklung, sondern gibt seiner Überzeugung Ausdruck, dass es zu keiner Rückkehr zu den Fürsorgegroßeinrichtungen der 50- und 60er Jahre kommen wird. Sowohl die demographische Entwicklung als auch der erreichte Bewusstseinsstand in der Öffentlichkeit und in den helfenden Berufen stünden eindeutig dagegen.
Literatur
- Arendt, Hannah 1990 (7. Auflage): Macht und Gewalt. München: Piper.
- Bäuerle, Wolfgang 1977: Argumente wider eine böse Sache. In: Sozialpädagogik, 19. Jg., S. 247-251
- Landesjugendamt Saarland 2001: Bundesumfrage Juni 2000: Einrichtungen der Jugendhilfe, die geschlossene Unterbringung durchführen. Saarbrücken: Manuskript.
- Sonnenfeld, Christa 1981: Der neue Trend: "sanfte" Kontrolle im Umfeld geschlossener Unterbringung. In: Widersprüche, 1 (September), S. 99-109.