Rechte in der Wende? Die linke Last mit Neonazis
Editorial
Aktuelle Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit "der Rechten" zeigen wiederholt und exemplarisch Schwierigkeiten und kaum diskutierte Fragen: starb Günter Sare durch einen Wasserwerfer der Polizei anläßlich einer Gegendemonstration zu einer NPD-Veranstaltung im "antifaschistischen Kampf" (so u.a. kommentiert); soll die Strafrechtsänderung, die das Leugnen des Holocaust an den Juden unter Strafe stellt ("Auschwitz-Lüge"), begrüßt werden; leistet der Konflikt zwischen radikaler Liberalität und uneingeschränkter Meinungsfreiheit einerseits und der Betroffenheit jüdischer Bürger und der Sorge - auch vieler Linker - um das erneute Anwachsen antisemitischer Einstellungen andererseits anläßlich der geplanten Aufführung des Faßbinder-Stücks ("Der Müll, die Stadt und der Tod") einen Beitrag zur Entwicklung politischer Kultur; sollen Pädagogen rechtsgerichtete Fußballfans in ihrer Forderung nach "selbstverwalteten Räumen" unterstützen?
Die Linke tut sich schwer in der Einschätzung "der Rechten". Immer noch werden Form und Inhalt der Auseinandersetzung wesentlich aus einer "Antifa-Politik" begründet, die den Blick unverwandt auf Ideologien und Politikformen des Nationalsozialismus richtet und deshalb konsequenterweise die "neue Rechte" als "Hitlers (Ur)Enkel" begreift, der v.a. mit Verboten und einem starken, antifaschistischen Staat beizukommen sei. Können diese Verbotsforderungen, die auf klare Feindbilder und Ausgrenzung setzen ("Nazis raus") durch eine politische Auseinandersetzung mit dem "Gegner von rechts" ersetzt werden, gerade weil die "neue Rechte" mit jugendadäquaten Angeboten, "zukunftsgerichteten" Zielen und "neuen Themen" (im Friedens- und Ökologiebereich und bei der Neudefinition von Nationalismus als Widerstandskategorie) auf linkes Terrain vorstößt? Legen nicht die unterschiedlichen ideologischen Facetten, Politikstrategien, Organisationen, die mangelnde analytische Trennschärfe einer Definition von "Rechtsextremismus" oder "Neofaschismus" und die fließenden Übergänge von "rechtskonservativen", "national-demokratischen" und "rechtsextremistischen" Strömungen einen Paradigmen- und Perspektivenwechsel antifaschistischer Politik nahe?
Soll auf den Staat (mit dessen Verfaßtheit und Politik man doch erhebliche Probleme hat) mit seinen Gesetzen und seinem Gewaltmonopol gesetzt werden, um dies zumindest gegen die rechtsextremistischen Organisationen und deren Aktivisten zu richten (und was bedeutet das für linke Politik, solange das Totalitarismustheorem herrscht?!)
Oder soll prinzipiell für eine politische Kultur plädiert werden, die auch die politische Auseinandersetzung mit "der Rechten" beinhaltet, wo wären hier die Grenzen zu ziehen?
Die Beantwortung dieser Fragen ist u.a. abhängig von einer genaueren Betrachtung und Untersuchung des "rechten Lagers", der Kulturen, strukturellen Entwicklungen, politischen Inhalte und Kampfformen. Die Beiträge versuchen, über die umfangreich vorliegende Literatur hinaus, zu einigen aktuellen Aspekten informierend und klärend beizutragen: zu Entwicklungen im "rechten Lager", Möglichkeiten und Problemen im pädagogischen und politischen Umgang, staatlichen Strategien. Bisher wurde - neben der Schule - v.a. die Jugendarbeit in Jugendzentren und die Bildungsarbeit mit rechten Provokationen, Ideologiefragmenten und organisierten Jugendlichen konfrontiert; daraus bestimmten sich Überlegungen zu Gegenstrategien. Eine Diskussion, welche Erfahrungen in den Arbeitsfeldern der Sozialarbeit insgesamt vorliegen und wie eine Gegenstrategie im Reproduktionsbereich" aussehen könnten, steht noch an; ein Konzept, das sich nicht nur auf ein "anti" beschränken und selbst begrenzen darf, sondern politisch auch "nach vorn" denkt: vor allem ein schwieriger und anstrengender Auseinandersetzungs- und Vermittlungsprozeß, der heutige Verhältnisse begreift (begreifen hilft) und zukünftige entwirft (entwerfen hilft), motiviert auch, Geschichte begreifen zu wollen und aktuellen antidemokratischen Tendenzen entgegenzuwirken. Eigene Anstrengungen "nach vorn" und der Blick auf sich wandelnde rechte (und rechts-konservative) Kulturen, Ideologien und Mentalitäten müssen enge, begrenzte Fixierungen auf die organisierte, am Nationalsozialismus orientierte Rechte ablösen; diese Auseinandersetzung kann immer auch ein Hinweis für eine vermeintlich traditionell-entlastende linke Hilf- und Ratlosigkeit sein.
Um diese Auseinandersetzung zu unterstützen, liefert das vorliegende Widersprüche-Heft aktuelles Material für eine differenzierte Betrachtung und Einschätzung "der Rechten" und will zur Diskussion anregen, die je spezifischen und gemeinsamen Möglichkeiten und Notwendigkeiten in den Arbeitsfeldern der Sozialarbeit zu klären.
Redaktion "Widersprüche", Offenbach, November 1984
In der Redaktionsgruppe für dieses Heft haben mitgearbeitet: Johanna Gottschalk-Scheibenpflug, Benno Hafeneger, Michael Hentschel, Walter Lochmann, Christine Schön, Wieland Stützet.