Prävention und Soziale Kontrolle

Editorial

Im September 1981 erschien das erste Heft der WIDERSPRÜCHE unter dem Titel "Hilfe und Herrschaft". Im Januar 1988 erscheint nun das Heft 25 unter dem Titel "Prävention und Soziale Kontrolle". Der Begriff war damals schon ziemlich entzaubert, konnte als positiver, gesellschaftlicher Emanzipation verpflichteter Begriff gar nicht mehr verstanden werden: die Hilfe, die von den Reproduktionsberufen geleistet wird, ist eine herrschaftssichernde Hilfe, ist Trostpflaster und Befriedungsversuch. Der Begriff der Prävention hingegen ist noch nicht völlig entzaubert, er hat für viele, die in den Reproduktionsberufen arbeiten - aber auch für viele "Normalbürgerinnen" - eine große Faszination.

"Hilfe" konnte immer erst einsetzen, wenn "es" schon passiert war. "Prävention" aber erhebt den Anspruch, "es" erst gar nicht passieren zu lassen. Prävention könnte den Reproduktionsberufen das Selbstbewußtsein geben, nicht immer nur Flickschusterei zu betreiben, sondern aktiv gestaltend auf Verhalten und Verhältnisse einzuwirken. Prävention scheint sich als Handlungsmodell für das Grunddilemma der Reproduktionsarbeiten anzubieten, materielle, körperliche und seelische Nöte und Krisen gar nicht erst aus der Gesellschaft entstehen zu lassen.

Ebenso wie der Anspruch, Hilfe zu leisten, erscheint die Absicht von Prävention auf den ersten Blick vernünftig.

Uns - und wir stehen da nicht allein - erscheint es vernünftig, diesen Anspruch zu überprüfen: d.h. zu fragen, ob präventive Strategien nicht bloß modernisierte, weiter verwissenschaftlichte Varianten sozialer Herrschaftssicherung und Kontrolle sind.

Betrachten wir uns die gegenwärtige bundesrepublikanische Wirklichkeit, wird dieser Verdacht erhärtet:

  • Den konservativ-liberalen Politikern sind die Kosten für das Sozial- und Gesundheitswesen zu hoch: Prävention könnte das System effektiver und kostengünstiger machen.
  • Den Bürgerinnen wird Anspruchsdenken vorgeworfen: Selbstverantwortlichkeit für die eigene Gesundheit wird gepredigt - und somit individuelles Präventionsverhalten gefordert.
  • Gegen die weitere Ausweitung der Immunschwächekrankheit AIDS werden präventive Taten gefordert - und die Aufklärungskampagne wird immer mehr zu einem moralischen Kampf gegen eine gelockerte Sexualmoral und "Andersartige".
  • Der Normalbetrieb der kapitalistischen Produktion zeigt seine zerstörerische Kraft nicht nur in radioaktiven Niederschlägen, Rheinvergiftungen und Giftmüllskandalen. Es hat sich das Wissen ausgebreitet, daß es ein Risiko ist, in dieser Gesellschaft zu leben und (nicht) zu arbeiten. Sicherheitsbedürfnisse werden artikuliert und treffen auf präventive Lösungsmodelle staatlicher Sozial-, Gesundheits- und Umweltspezialisten.

Dieses Heft nun setzt sich mit einigen dieser präventiven Lösungsmodelle auseinander.

Wolfgang Völker formuliert einleitend Einwände gegen den präventiven Blick, um hinter die Logik der Prävention zu kommen. Den herrschaftlichen Charakter präventiver Strategien sieht er in ihrer Fähigkeit, gesellschaftliche Normen aufzustellen, zu definieren, was als gewünschtes Verhalten gesellschaftlich zulässig ist. Für eine Politik, die sich als emanzipatorisch versteht, kommt er zur Empfehlung der Prävention vorzubeugen.

Swantje Köbsell thematisiert Humangenetik im Hinblick auf ein Sicherheitsbedürfnis, das angesichts ökologischer Katastrophen am Wachsen ist: Mann und Frau wollen "gesunde" Kinder. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt in Gestalt humangenetischer Beratung macht hier ein "präventives Angebot". Über das Eingehen auf entstandene Sicherheitsbedürfnisse kann sich die Norm der Pflicht zum gesunden Kind durchsetzen, was die Diskriminierung von Behinderten in dieser Gesellschaft weiter verstärken würde.

Frank Rühmann beschäftigt sich mit einem weiteren aktuell bedeutsamen Objekt des präventiven Blicks: AIDS. Er erklärt die gegenwärtige Anti-AIDS-Politik als Kampagne für traditionelle Werte in Liebe und Sexualität und kommt in Auseinandersetzung mit der Beratungspraxis zu dem Schluß, daß präventive Arbeit im Fall von AIDS um die Thematisierung von Sexualität nicht herumkommt, will sie sich nicht nur auf pragmatisch-technische Aufklärung beschränken.

Jürgen Armbruster, Sylvie Fahr, Frederike Hohloch und Klaus Obert diskutieren in "Prävention im sozialpsychiatrischen Dienst" die Chancen einer kritischen Praxis dort. Sie setzen sich mit den Präventionskonzepten der psychiatrischen Reformdiskussion auseinander und vergleichen italienische Erfahrungen der Demokratischen Psychiatrie mit Erfahrungen in der BRD. Als Ergebnis formulieren sie "Ansatzpunkte für eine sozialpsychiatrische Praxis, die ihren präventiven Anspruch im Prinzip der Entinstitutionalisierung aufgehoben sieht".

Werner Lehne und Wolfgang Ehrhard bearbeiten in zwei weiteren Artikeln ein Thema, welches beim Stichwort "Prävention und Soziale Kontrolle" nicht fehlen darf: die Polizei. W. Lehne zeichnet ein umfassendes Bild polizeilicher Präventionsansprüche, die sich nicht nur auf Verbrechensbekämpfung beschränken, und untersucht, was aus den vielgerühmten und vielgeschmähten "generalpräventiven", "gesellschaftssanitären" Programmen der Polizei im Anschluß an den "Deutschen Herbst" geworden ist. Eine Ergänzung zu W. Lehnes theoretischer Auseinandersetzung mit polizeilichen Gedanken und Taten bildet Wolfgang Ehrhards Bericht über Erlebnisse im Alltag bei der Polizei.

Bremen, im Dezember 1987