Politische Bildung
Editorial
"Probleme und Perspektiven der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit" lautete der trockene Titel eines polemischen Diskussionspapiers, mit dem die damals noch unbekannte AG-Proper die Auseinandersetzung unter Kolleginnen über die Realität der Lehrgangsarbeit in den DGB-Einzelgewerkschaften vorantreiben wollte. Mit Verzögerung folgte ein heftiger Personalkonflikt im Landesbezirk Hessen der Gewerkschaft HBV, deren Jugendbildungsreferentin, Monika Lehmann, die Arbeitsgruppe ins Leben gerufen hatte und nicht bereit war, sich von dem "Pamphlet" zu distanzieren. Sie wurde zunächst unbefristet beurlaubt und die anderen Mitglieder erhielten Lehrgangsverbot bis auf weiteres. Im einzelnen mag die Auseinandersetzung in der Tagespresse rückverfolgt werden - hier soll nur erwähnt werden, daß inzwischen die Chancen für einen einvernehmlicheren Umgang miteinander, auch dank vielfältiger Solidarität aus anderen Einzelgewerkschaften, wieder gestiegen sind.
In gewisser Weise ist dieses Heft der AG-Proper gewidmet, die ja die inhaltliche Auseinandersetzung um politische Bildungsarbeit auch über die Gewerkschaften hinaus fordert, weil die Defizite in den konkreten Lehrgängen zunehmend deutlicher werden; nur Diskussionen und Erfahrungsaustausch darüber immer weniger stattfinden. Der Unmut bei den gewerkschaftlichen und freien Bildungsträgern bleibt unter sich, jeder kämpft um Teilnehmerzahlen und blufft so gut es geht. Materielle Austrocknung und Abwanderung potentieller Teilnehmerinnen zu freizeitorientierten Bildungs"maßnahmen" oder enger beruflich bezogenen Qualifizierungsmaßnahmen treiben die orginär politische Bildung zunehmend in die Bedeutungslosigkeit. Dagegen - und nicht gegen "die" Gewerkschaften - richtet sich der Schritt der AG-Proper in die Öffentlichkeit von Teamerlnnen, Referentinnen und politischen Institutionen (näheres zur AG-Proper am Ende des Editorials).
Nun ist Personalisierung von inhaltlichen Konflikten keineswegs bloß eine typisch gewerkschaftliche Umgangsweise, nur können diese sie sich am wenigsten leisten - gewiß nicht nur wegen den überall lauernden Gewerkschaftsfeinden. Wo Bildungsarbeit nicht als Kaderschmiede und Bewußtseins-Schulung verstanden wird, beansprucht sie neben der Befähigung von Teilnehmerinnen zur Artikulation von (Emanzipations-)Interessen zu Recht, eines der sensibelsten (verfügbaren) Organe zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Veränderungen in den Bedürfnissen, Wünschen und der Konstitution von Individuen zu sein. Sie könnte ein Instrument sein, auch die aktuellen (Fehl-)Leistungen etwa der Gewerkschaften als Organisation zu reflektieren und aufzuklären, die unter sich wandelnden Bedingungen Arbeitnehmerinteressen ausloten und vertreten will: ob Gewerkschaften - trotz gesellschaftlichen Wandels - in Zukunft dazu in der Lage sind, ist gerade keine ausgemachte Sache.
Die doppelte Bestimmung von Bildungsprozeßen - in Bezug auf Teilnehmerinnen und auf diejenigen, die die "Maßnahme" in Gang setzen, - ist unauflösliches Thema in der Pädagogik und Bildungstheorie. Es deshalb aber für ein pädagogisches oder philosophisches "Problem" zu halten, ist genauso ein Irrtum, wie etwa die gewerkschaftliche Praxis nur "berufenen" Funktionären überlassen zu wollen.
In dem Beitrag der AG-Proper geht es also nicht darum, den Gewerkschaftsabteilungen eine bildungstheoretische Debatte anzuhängen, weil es der mühsam begonnenen Perestroika-Stimmung (etwa in der IGM) entgegenkäme. Es ist der Versuch, eine Verbindung zu der Frage herzustellen, ob denn die Emanzipation des Einzelnen von der gesellschaftlichen Herrschaft noch zentraler Gegenstand gewerkschaftlicher Praxis ist. Von selbstverständlicher, üblicher Bejahung in Sonntagsreden abgesehen, ist diese Frage - in Varianten des Angestellten-, Geschlechter-, veränderten Bedürfnis- und Sozialisations-"Problems" - für alle Gewerkschaften virulent.
Bereits in den ersten Diskussionen, die sich an die Thesen der AG-Proper anschlössen, wurden vor allem die Hoffnung enttäuscht, jene Arbeitsgruppe von Teamerlnnen wäre im Besitz fertiger Konzepte, ausgereifter Umsetzungsideen oder perfekter Ansätze der Vermittlung gesellschaftlicher Widersprüche, von Aufklärung und emanzipatorischem Handeln. Es ging und geht um Diskussionsanstöße.
Insofern ist der Bericht aus einem Projekt der DGB-Bundesschule Hattingen gerade interessant, weil er ebenso darauf ausgerichtet ist, einen Ausweg aus der Sackgasse politischer Bildungsarbeit anzudeuten: eben keineswegs bloß der gewerkschaftlichen. Gerd Hurrle und Raja Nejedlo skizzieren den Verlauf eines Seminars über "Neue Medien", jenseits pädagogischer Verdinglichungen (Handlungsorientierung "Interessengegensatz") und gesellschaftspolitischer Verkürzungen (Neue Medien - Fluch oder Segen?).
In einen zweiten Beitrag der AG-Proper zum Schluß des Heftes wird auch eine Seminarsituation geschildert, die entstandenen "Blockaden" werden Interpretationsversuchen gegenübergestellt.
Die Beiträge von Klaus Ahlheim, Gabriele Geiger, Andreas Gruschka und Benno Hafeneger beziehen sich auf unterschiedliche Themen. Alle sind gehaltene Vorträge und verdienen eine breitere Öffentlichkeit als nur das Fachpublikum oder Auditorium.
Klaus Ahlheim kritisiert eine Entwicklung in der Erwachsenenbildung jüngeren Datums. Erst mit der neuentdeckten "Zielgruppe", ältere Menschen, wurde Bildung auch zu einer Frage nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß. Eine pädagogische Praxisvariante reiht Bildung für ältere Menschen unter die lange Liste der Hilfe zur Lebensbewältigung ein.
Gabriele Geiger thematisiert Ansätze einer feministischen Subjekttheorie. Die Begriffe Ich, Individuum, Individualität, Subjektivität entstammen dem späten 18. Jahrhundert und sind heute wieder sehr aktuell. In dem Beitrag geht es darum, "die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" deutlich zu machen und damit Perspektiven weiblicher Identität zu diskutieren.
Andreas Gruschka rezipiert ein Stück Geschichte der Pädagogik und untersucht "ihre Begegnung" mit der Kritischen Theorie. Dabei stellt sich heraus, daß die bisherigen Versuche, Kritische Theorie für die Pädagogik "fruchtbar" zu machen, mit Ausblendungen in der theoretischen Rezeption arbeiteten und eine - analog gedachte - "Kritische Pädagogik" sich nicht durchsetzte, stattdessen aber eine breite Renaissance geisteswissenschaftlicher Pädagogik stattfindet.
Auch die Untersuchung von Benno Hafeneger ist in gewisser Weise ein Beitrag zu den Problemen politischer Jugend- und Erwachsenenbildung: er schildert am Beispiel Hessen, wie die CDU nach der Wende Jugendpolitik betreibt, was in diesem politisch nicht zentralen Bereich gleichbleibt und was sich schleichend ändert.
Offenbach, im Dezember 1988