Mut zur Bildung? Der Aufklärung verpflichtet
Editorial
Bildungspolitik ist ins gesamtgesellschaftliche Abseits geraten und kennt nur noch Teilöffentlichkeiten. Das. was Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre noch Massen zum Engagement bewegen konnte, ist heute der Marginalisierung anheim gefallen. Wie steht es aber um die Bildung 'an sich'? Wir sind der Meinung, daß diese Thematik nach wie vor in mehrfacher Hinsicht gesellschaftspolitische Brisanz besitzt. Anlaß genug also, Bildung zum einen in ihrer politischen - und das meint immer auch tagespolitischen - Dimension zu reflektieren und zum anderen in ihrer begrifflichen Reichweite zu überprüfen; kurz: den Bildungsbegriff zu reformulieren.
Eine Reaktualisierung und damit einhergehend Repolitisierung bildungspolitischer, bildungsökonomischer sowie bildungssoziologischer Ansätze scheint geboten angesichts der Defensive in der die 'Bildungsbastler' aller Couleur - beginnend im Kindergarten über Schule und Hochschule, endend im weitläufigen Spektrum der Erwachsenenbildung respektive der außerinstitutionellen Bildungsaktivitäten - seit Jahren stecken. Kennzeichnend für die derzeitige Situation ist die pure Verteidigungshaltung. Der Austausch von Sachargumenten ist auf ein Minimum zurückgedreht. Quantitäten werden gegen Qualitäten ausgespielt.
Dieser Tatbestand hat erklärbare Gründe. Sie sind nicht ausschließlich in der bildungspolitisch restaurativen Tendenz der liberal-konservativen Administration zu suchen - diese Erklärung ist zu trivial - sondern finden ihre Ursache u.a. auch in dem falschen Vorverständnis davon, was Bildungspolitik effektiv leisten kann. Allen betroffenen Bildungsarbeiter/-innen ist mittlerweile offenkundig - und für nicht wenige politisch Engagierte liegt hier ein Motiv der Resignation - daß schulische Sozialisation resp. 'linke' Pädagogik allein nicht hinreicht die herrschenden Verhältnisse zu revolutionieren. Überdies liefert(e) die bürokratische Überschwemmung bzw. Verrechtlichung der Bildungsinstitutionen ihren Beitrag dazu, die Desillusionierung zu fördern und die Etablierung kritischer, der Aufklärung verpflichteter Pädagogik zu unterlaufen. Allerdings, und das ist von Evidenz, muß konstatiert werden, daß nicht alles 'Schrott' ist was bei erster Inaugenscheinnahme nicht glänzt.
Es ist historisch kurzsichtig, der Bildungsexpansion der 70er Jahre nur negatives nachzusagen. Der Reformboom, gekennzeichnet durch 'äußere' Schulreform, Hochschulreform, Institutionalisierung der Volkshochschulen usf., hat u.a. ein bildungspolitisches Klima entstehen lassen in dessen Windschatten pädagogische Experimente gefördert wurden und gedeihen konnten, wie Pilotprojekte (selbstverwaltete Kindergärten, Freie Schulen, autonome Frauenhäuser, BI's etc.) sinnfällig belegen. Nicht allein die Tatsache, daß durch die Expansion des Bildungssektors erstmals unterprivilegierte Schichten eine (ihre) Bildungschance erhielten ist von historischem Belang - dies ist nur die quantitative Seite - sondern die Eröffnung individueller Freiräume, in denen ein Potential zur Antizipation lagerte, stellte die eigentliche Errungenschaft dar. Die sog. Alternativbewegung ist ohne jenes bildungspolitische Klima, jenem 'sozialen Experimentierraum' nicht denkbar.
In der Tat, die bildungspolitische 'Lage der Nation' ist eine andere. Der Wind hat gedreht und von einem 'Windschatten' kann derzeit nicht die Rede sein. Strukturkrise und 'Spaltung der Gesellschaft' stellen die Bildungspolitik vor neue Aufgaben. Mit der technologischen Offensive, die vor den Toren der Bildungsinstitutionen nicht halt machen soll wird eine neue Ära eingeläutet in der nicht nur konservative Bildungspolitiker das Heil sehen. Die 'human-computerisierte Gesellschaft' ist der zukünftige Eckstein im Konzept der liberal-konservativen Bildungspolitik und darüber hinaus der Garant für die Überwindung der ökonomischen Krise. Auf der Grundlage dieses Gesellschaftsmodells soll nach außen die Präsenz auf den Weltmärkten gesichert und nach innen die kulturelle Modernisierung, mittels 'informationstechnischer Bildung' (à la Bund-Länder-Kommissionsvorschlag), forciert werden. Die 'High-tech-Illusion', und das damit einhergehende Palaver um die Hochbegabtenförderung resp. Elitediskussion weist vordergründig Parallelen zur Bildungskatastrophendiskussion der 60er Jahre auf, ist jedoch genau besehen auf völlig andere sozio-ökonomische Parameter zurückgeworfen. Angesichts der zunehmenden Divergenz von Ausbildungssektor und Arbeitsmarkt, die u.a. einen Werteverfall der Ausbildungszertifikate produziert, stehen die 'alten' Rezepte zur Disposition, ist ihre Tauglichkeit fraglich geworden. Allein die Verteidigung bildungspolitischer Positionen stellt deshalb kein probates Mittel dar die Repolitisierung der Bildung qualitativ, im Sinne einer selbstbestimmten Vergesellschaftung, zu wenden.
Wie nun sehen die neuen Ansätze aus? Wie ist es um die Bildung 'für sich' bestellt? Dies sind Fragen von weitreichender Bedeutung, die zu kontroversen Standpunkten führen; auch innerhalb der Redaktion. Um die Antwort vorwegzunehmen - keinen wird es überraschen - wir können nicht die Lösung anbieten, beabsichtigen dies auch nicht, sondern bevorzugen einen öffentlichen Diskurs (vgl. Rolf Schwendter's Artikel).
Im Zentrum unserer Diskussion stand die Überlegung, die politisch brisanten und subversiven Momente von Bildung wieder herauszuarbeiten, nach neuen Lernorten zu suchen und zu wagen, auch jenseits der Institutionen zu denken. Das aktuelle Problem kann wie folgt umrissen werden: sowohl die Spurensicherung als auch das Problematisieren neuer bildungspolitischer Konzepte zwischen den Polen 'Bildung von unten' einerseits sowie Bildung vs. Arbeit andererseits - wie rudimentär bzw. entwickelt auch immer sie sein mögen - wird so lange auf einer voluntaristischen bzw. idealistischen Ebene verharren, wie nicht erkenntnistheoretische Anstrengungen in handlungsstrategische einmünden. Es reicht bei der Reflexion mitnichten hin, den Bildungsbegriff normativ oder deskriptiv zu fassen, ihn kritisch oder affirmativ zu wenden, denn derartige Klärungsversuche verursachen gewollt oder ungewollt eine Polarisierung, die nicht klärt, was 'Bildung' den Subjekten an Arbeitsvermögen zur Verfügung stellt und überdies den Blick verbaut für die Alltäglichkeiten im 'sozialen Raum'.
Was nun erwartet die Leserin(er) in diesem Heft. Die oben kurz benannten Aspekte geben den roten Faden dieses Heftes wieder und werden teils explizit problematisiert - wie die Aufsätze von Manke, Schaarschuch und Schütte belegen, so daß daraus eine konstruktive Auseinandersetzung erwächst - teils implizit gehandelt. Friedel Schütte stellt sechs Thesen pro Bildung zur Diskussion, die zum einen einen geschichtsphiloso-phischen zum anderen einen handlungstheoretischen Tenor besitzen.
Wilfried Manke problematisiert die Bedeutungsvielfalt des Bildungsbegriffs entlang der These, daß eindeutige Bildungskonzepte angesichts sozio-kultureller Modernisierung nicht realisierbar sind. Ausgehend von dieser Einschätzung votiert er für eine Systematisierung der Bildungsprozesse. Sein Fazit lautet: institutionelle Bildungsinitiativen nicht gegen außerinstitutionelle auszuspielen.
Andreas Schaarschuch liefert ein engagiertes Plädoyer für eine sich sozialistisch verstehende Pädagogik, die den Bildungsbegriff in der Tradition der Aufklärung reformuliert und damit einen Beitrag zur Überwindung der klassenmäßigen Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit leistet.
Johanna Gottschalk-Scheibenpflug geht der Frage nach, ob es noch Methoden für eine antikapitalistische Jugendarbeit bzw. feministische Mädchenarbeit innerhalb der architektonischen Betonlandschaft der Trabantenstädte gibt.
Tom Ziehe votiert für einen eigenen pädagogischen Diskurs, der die Eigenlogik pädagogischen Handelns herausstellt und sich gegen die tradierten Logiken (ökonomische, soziale, psychologische) abgrenzt. Auf drei Problemebenen entwickelt er eine polemische Auseinandersetzung mit dem linken pädagogischen Diskurs.
Dirk Axmacher thematisiert die derzeitige Hochschulkultur bzw. die veränderten Bedingungen im Lehr- und Lernort Hochschule. Dabei nimmt er sowohl Bezug auf die Theoriediskussion der 70 er Jahre als auch auf die Sozialisationsbedingungen der Hochschule der 80er Jahre. Die veränderte Situation, so seine These, bietet ein Experimentierfeld für neue Beziehungsformen, welches sich allerdings durch einen Doppelcharakter auszeichnet. Die Hochschule stellt Freiräume zur Verfügung, gleichwohl aber produziert sie 'Elend im Ghetto'.
Die Repolitisierung des Bildungsauftrags steht im Mittelpunkt der Überlegungen von Michael Daxner. Er hinterfragt die Funktion der Intellektuellen im öffentlichen wie universitären Leben, wobei die Selbstthematisierung der Hochschule resp. Thematisierung der Intellektualität dazu beitragen solle eine 'kritische Konstitution von Wissenschaft' zu befördern.
Klaus Ahlheim untersucht in seinem Artikel die Voraussetzungen für eine den gewandelten Bedingungen angemessene Theorie der Erwachsenenbildung.
Einen programmatischen Vorstoß unternimmt Rolf Schwendter mit seiner 'Begründung', indem er auf die Notwendigkeit eines Bildungstages hinweist, dessen Rechtfertigung er u.a. in dem disparaten Zustand der Bildungslandschaft als gegeben ansieht.
Dazu gehört dann schließlich auch der Hinweis auf den vom Sozialistischen Büro geplanten Bildungstag 1986.
Denn Papier alleine ist gar zu geduldig...
Redaktion "Widersprüche", Offenbach, Juni 1985