Modernisierung der Wohlfahrt... don't worry, be happy!
Editorial
Mit dem vorliegenden Heft mischen sich die WIDERSPRÜCHE ein weiteres Mal in eine Debatte ein, die Anfang der achtziger Jahre begann und zwischenzeitzlich schon mehrere Versionen, Cover-Versionen und Re-Makes hinter sich hat: "Krise des Sozialstaats", "Umbau des Sozialstaats", "Standortdebatte", "Sozialstaat und Globalisierung" etc. Wie auch immer der genaue Titel der jeweiligen Version sein mag, die beherrschende Grundmelodie ist die gleiche: Wieviel Ausgleich sozialer Ungleichheit soll staatlich reguliert werden? Wieviel an Schutz und Sicherheiten gegenüber sozialen Existenzrisiken soll den Gesellschaftsmitgliedern rechtlich und materiell gewährt werden?
Die Ausführungen der "modernisierten" Antworten sind meist ein Mix aus Bürokratiekritik (der Sozialstaat versorgt paternalistisch und entmündigt), ökonomischer Schlankheitsrhetorik (sozialstaatliche Garantien sind in Zeiten einer globalisierten Ökonomie Luxus) und fundamentalistischer Marktvergötterung (der Wohlfahrtsstaat lähmt die schöpferischen Kräfte sowohl für die im engen Sinn ökonomische Produktion wie für die Produktion der Nachkommenschaft). Was von den "Modernisierern" überall eingeklagt wird, ist das Schleifen der "feudalen Burg" Sozialstaat, denn dieser habe eine "sehr enge Sicht des Glücks" (I. Kristol in der Wirtschaftswoche 8/97) und halte die Menschen davon ab, sich produktiv zu verhalten und "ihre Zukunft in die eigene Hand" zu nehmen (so C.F. v. Weizsäcker im Sonntagsblatt 19/97). Es ist die Predigt der Deregulierung, die hier verkündet wird, es ist ein Aufruf zur "Modernisierung" der Wohlfahrt, zu neuem Denken über Ungleichheit und Gerechtigkeit: Gefordert ist die individuelle, private Bereitschaft zum Risiko in einer Gesellschaft, in der soziale Ungleichheit quasi natürlich zum "Spiel" dazugehört. Und beim Gesellschaft-Spielen gibt es eben GewinnerInnen und VerliererInnen: "Mensch ärgere Dich nicht." Es ließe sich auch sagen, daß sich in diesen Argumenten eine Art geistiger Mobilmachung vollzieht, die die neoliberale Beförderung der sozialen und ökologischen Katastophe als Sieg der durch den totalen Markt repräsentierten Vernunft feiert.
Der gesellschaftliche Mehrheitskonsens entwickelte sich kontinuierlich in Richtung Abschied von sozialstaatlicher Absicherung von Lebensrisiken. Gerechtigkeit wird wieder mehr mit "Leistung" denn mit "Bedarf" verknüpft: Teilhabechancen gibt es doch schließlich für alle. Statt garantierter Rechte auf soziale Sicherheiten für Bürgerinnen und Bürger, statt sozialer Absicherung selbstbestimmter Lebensentwürfe setzt sich derzeit private Wohlfahrt mit ganzer Pracht ins Bild. Der Reichtum sieht sich mit der Herausforderung konfrontiert, privat Verantwortung zu übernehmen für die Armen. Die Spendenfreudigkeit und Hilfsbereitschaft ist groß und hat auch ihren Nutzen. Doch als instrumentalisierte findet sie schon erste Niederschläge in Verwaltungsanordnungen zur Sozialhilfe. Im jüngsten Entwurf des Bundesgesundheitsminiteriums zu einer Verordnung über einmalige Beihilfen in der Hilfe zum Lebensunterhalt ist an mehreren Stellen der Hinweis auf die mögliche Inanspruchnahme von Gebrauchtwaren zu lesen. Vielleicht ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die private Hilfsbereitschaft mit den Sozialhilfeansprüchen verrechnet wird. Damit wäre dann ein sozialpolitischer Paradigmenwechsel vollzogen. Die immer wiederkehrenden Mißbrauchskampagnen - jüngstes Beispiel der Ruf nach "Sozialdetektiven"- sind im Prinzip nur ein ergänzendes Mittel der allmählichen Untergrabung von Rechtspositionen von Bürgerinnen und Bürgern. Denn "Mißbrauch" ist endgültig erst dann ausgeschlossen, wenn soziale Rechte gar nicht mehr in Anspruch genommen werden. Auffälliges Moment der gegenwärtigen Sozialstaatsdebatte bleibt zweifellos, daß sie sich auf dem Hintergrund einer analysierten und gewußten Ungleichheitsentwicklung und sozialen Polarisierung vollzieht. Die Position, daß "dem Staat" die Mittel für "Soziales" fehlen und daß die Gesellschaft sich hier bescheiden soll, bleibt dennoch hartnäckig meinungsführend.
Diese Ausgabe der WIDERSPRÜCHE gruppiert Beiträge um Fragen, die sich uns in dieser sozialpolitischen Landschaft stellen: Wie bildet sich ein gesellschaftlicher Mehrheitskonsens, der sich für den modernen, schlanken Sozialstaat stark macht? Was ist dran an den konservativen Argumenten gegen den Wohlfahrtsstaat? Welche Erfahrungen werden in den Staaten gemacht, die hierzulande als "leuchtende Vorbilder" hochgelobt werden. Gerade angesichts des Gewichts der "Globalisierungsargumente" in der jetzigen Diskussion scheint der Blick über nationale Grenzen nötiger denn je. Und schließlich die Frage: Was läßt sich sozial und politisch gegen die neoliberale Hegemonie setzen? Letzteres, dies sei als "Vorschau" angemerkt, wird Schwerpunkt von Heft 66 der WIDERSPRÜCHE zum Jahresende 1997 sein, für das wir zu einer erneuten Diskussion über eine "Politik des Sozialen" einladen.
Zu den Beiträgen im einzelnen
Ursula Kreft zeichnet zum Einstieg in den Schwerpunkt exemplarisch nach, wie in den Printmedien Bilder über Sozialstaat, Reichtum und Armut erarbeitet und bearbeitet werden, die die subjektive Wahrnehmung des Sozialen in der aktuellen Gesellschaft mitbestimmen. Die von Ursula Kreft analysierten Publikationen der BILD, des STERN und des SPIEGEL erzählen jeweils besondere Versionen einer Geschichte, deren Ergebnis allen Leserinnen und Lesern (auch der WIDERSPRÜCHE) bekannt ist: am Sozialstaat muß "gespart" werden, damit es "im Ganzen" wieder besser geht. In der Betrachtung von Symbolen und Narrationen dieser Diskurse über das Soziale wird gezeigt, wie die Situation als Abweichung vom Normalzustand definiert und entsprechender Handlungsbedarf signalisiert wird.
Michael B. Fabricant setzt sich auf dem Hintergrund der Sozialpolitik in den USA der neunziger Jahre mit dem Mythos und der Realität des konservativen Angriffs auf den Wohlfahrtsstaat auseinander. Dies beinhaltet die Darstellung und kritische Würdigung der zentralen Argumentationsmuster der US-amerikanischen Konservativen in der Auseinandersetzung mit dem offensichtlichen Versagen bestimmter staatlicher Programme angesichts realer Probleme. Eine sozialpolitische Alternative in den USA sieht Michael B. Fabricant im verstärkten Aufbau kommunaler Netze, in denen unter demokratischer Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger tragfähige Konzepte gegen die Zerstörung der Gemeinwesen entwickelt werden.
Martin Seeleib-Kaiser liefert in seinem Beitrag Argumente für die sozial- und arbeitsmarktpolitische Debatte, in der immer wieder die USA als Vorbild angedient werden. Auf Basis einer vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung, in der der Grad der (teilweisen) Außerkraftsetzung des Warencharakters der Arbeitskraft die zentrale Vergleichsvariable ist, untersucht er den "Fall USA" und den "Fall Deutschland". Inwieweit wurden und werden durch Reformen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Transferleistungen beschränkt, Zugangskriterien zu Leistungen verschärft und Druck ausgeübt, niedrigentlohnte Arbeiten zu akzeptieren? Daß in beiden Staaten zu nachweislich ähnlichen Rezepten gegriffen wird, kann als Indiz dafür gewertet werden, daß die soziale Regulierung der Ware Arbeitskraft zentraler Angriffspunkt für die Interessen von Unternehmen in einer globalisierten Ökonomie ist.
Dorothee Bittscheidt wirft einen Blick auf die in Institutionen und Organsiationen verfestigte Praxis professioneller Hilfe in der Jugend-, Behinderten und Psychiatriepolitik. Sie geht der Frage nach, inwieweit diese Praxen entgegen dem selbstformulierten Anspruch, zur Normalisierung und Integration beizutragen, dennoch soziale Ausgrenzung mitproduzieren. Die Autorin diskutiert dies exemplarisch an einem Vorhaben zur Integration behinderter Kinder und der Hamburger Heimreform. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß Integrationspolitik in der Gefahr steht, neue Ausgrenzungen zu produzieren, solange sie nicht auch grundlegende Veränderungen der Organsiations- und Ressourcenpolitik für die Hilfelandschaften einschließt.
Karoline Linnert setzt sich in ihrem Beitrag mit der sozialpolitischen Programmatik der Partei Bündnis 90/Die Grünen auseinander. Hierbei unterzieht sie den jüngsten Vorschlag eines Grundsicherungsgesetzentwurfes einer Kritik. Sie stellt fest, daß dieser Entwurf sozialpolitische Standards wie das Bedarfsdeckungsprinzip und die Orientierung an der individuellen Lebenssituation der Leistungsberechtigten aufgibt und somit konservativen Angriffen auf sozialstaatliche Absicherungen an zentraler Stelle nachgibt. Die Autorin hält eine Reform der Sozialhilfe angesichts der Entwicklung von Armut in dieser reichen Gesellschaft für dringend erforderlich, plädiert aber für andere Schritte als die des bündnisgrünen Gesetzentwurfs.
Volker Busch-Geertsema und Ekke-Ulf Ruhstrat widmen sich der statistischen Aufbereitung von Wohnungslosigkeit. In der Fachöffentlichkeit gibt es seit geraumer Zeit eine Diskussion über die Notwendigkeit einer bundesweiten Wohnungslosenstatistik. Derzeit steht nur die seit 1994 neustrukturierte Bundessozialhilfestatistik zur Verfügung. Bei deren Einführung wurde argumentiert, daß sie in der Lage sei, Auskünfte über die Quantität der Wohnungslosigkeit zu geben. Die Autoren können durch die Analyse der Art der Erhebung und der Definition des Merkmals ohne eigene Wohnung nachweisen, daß die Bundessozialhilfestatistik in ihrer jetzigen Fassung nicht in der Lage ist, auch nur Anhaltspunkte zum Ausmaß der Wohnugslosigkeit in Deutschland zu liefern. Am Beispiel Finnlands zeigen die Autoren, wie mit einer anderen Art der Erhebung die empirische Fundierung sozial- und wohnungspolitischer Maßnahmen möglich wäre.
Passend zum Schwerpunktthema dieses Heftes findet sich im Forum ein von Martin Lühr von der Aktionsgemeinschaft Arbeitsloser Bürgerinnen und Bürger verfaßter Text, der die Änderungen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik und des Leistungsrechts für Arbeitslose im AFRG (Arbeitsförderungsreformgesetz) dokumentiert.
Die Redaktion