Männlichkeiten
Editorial
Männlichkeit ist in die Krise geraten. Jungen und Männer suchen nach Orientierung. Unsicherheit scheint eine wesentliche 'Antwort' vieler Männer auf diese offene Situation zu sein. Dies hängt mit einem Phänomen zusammen, das Beck/Beck-Gernsheim als die "geschenkte", oder noch pointierter: die "erlittene Emanzipation der Männer" bezeichnen. Männer seien bislang vorwiegend 'Zaungäste' der angedeuteten Umwälzungen, eher Objekte als Subjekte des Geschehens, die Emanzipation des Mannes vollziehe sich passiv. Sich selbst nur als Objekt von Veränderungen - zudem als leidendes Objekt - zu definieren, diese Sichtweise erschwert natürlich die Wahrnehmung von vorhandenen Chancen: die Risiken bekommen mehr Beachtung, die Verlustseite der Wandlungsprozesse rückt um so mehr in den Vordergrund. Ein Blick auf populäre Männerbücher deutet dies an: die Rede ist vom "Gerupften Pascha", "Männer lassen Federn", "Machen Sie Platz, mein Herr!". Der Markt bietet eine Fülle von Angeboten an, die Krise zu bewältigen: Filme wie Rambo und Terminator sind Renner, Verlage werden nicht müde, Bücher zu übersetzen, um den orientierungslosen und verunsicherten deutschen Männern mit Goldberg einen Weg zurück zu den "ureigenen sexuellen Impulsen" wiederzueröffnen, um mit Blys "Eisenhans" den "wilden Mann" als "eigentliche strahlende Energie des Mannes" wiederzuentdecken.
Neuere US-amerikanische Arbeiten zur "Psychologie des Mannes" teilen nicht mehr die verkürzte psychoanalytische Sichtweise, die herrschende Männlichkeit als schlichten Ausdruck infantil gesetzter Triebschicksale zu begreifen. Sie überwinden diese Denktradition durch den Verweis auf die in den einzelnen Entwicklungsphasen immer wieder erneut aufgezeigten Veränderungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten, ohne allerdings dabei die sozialen und kulturellen Bedingungen angemessen zu berücksichtigen. Sie teilen jedoch mit der Geschlechterforschung aus dem Bereich der Eigenschafts- und Verhaltenspsychologie ebenso wie mit der Androgynieforschung die Annahme eines natürlichen Bedürfnisses nach einer geschlechtlichen Identität. Und wenngleich sie auch nicht so naiv sind, das den Co-Counseling Ansätzen US-amerikanischer Männergruppen zugrundeliegende Postulat zu übernehmen, Männer seien von ihrem inneren Wesen her intelligent, gut, sorgend, freundlich und kooperativ, so neigen sie doch auch wie diese zu einer Therapeutisierung des Problems. In der Co-Counseling Tradition werden Verhaltensweisen von Männern, die diesem Postulat entgegengesetzt sind, als Ergebnis von Verletzungen betrachtet, die Männern systematisch als Teil einer gesellschaftlichen Konditionierung beigebracht würden, um sie für die rigiden Rollen vorzubereiten, die ihnen die Gesellschaft in dieser Weise aufzwingen wolle. Gesellschaft ist dann nichts anderes als eine Metapher zur Entlastung des einzelnen Mannes.
Ein weiterer US-amerikanischer Diskurs über Männlichkeit, der sehr stark durch einen prominenten Vertreter der dortigen Men's Studies, Joseph Pleck, geprägt wurde und wird, hat mittlerweile dank der Bücher von Walter Hollstein ebenfalls in Deutschland Verbreitung gefunden. Die Intention der Männerbefreiung des Co-Counseling wird aufgegriffen, jedoch nicht mehr identitätstheoretisch, sondern rollentheoretisch zu fundieren versucht: die gesellschaftliche Erwartung an ein je nach Geschlecht normiertes Verhalten wird als Einschränkung der Potentialität des Einzelnen thematisiert. Auch der zentral durch die Arbeiten und den Ansatz von Pleck geprägte Diskurs von Männerforschung ist jedoch in seiner theoretischen Ausrichtung stärker beschreibend statt erklärend - kulturell statt strukturell orientiert und läßt auf diese Weise einen Bezug zu den für die gesellschaftliche Reproduktion charakteristischen ökonomischen und sozialen Prozessen vermissen.
Selbst wenn es im Unterschied zur USA in Deutschland bisher noch keine gegen "Männerdiskriminierung" ankämpfenden Männerrechtsgruppen gibt, lassen sich zusammenfassend auch hier Ansätze eines pro-männlichen bzw. maskulinistischen Diskurses identifizieren und Ansätzen eines antisexistischen Diskurses der Männlichkeit gegenüberstellen. Als pädagogischer Diskurs nimmt der pro-männlich/maskulinisti-sche in der Bundesrepublik seinen Ausgangspunkt an einer als bedrohlich angesehenen Feminisierung des erzieherischen Sektors. An die Stelle des fehlenden Dritten, das die Symbiose Mutter-Sohn aufsprengen könne, müsse eine neue Väterlichkeit und eine durch männliche Erzieher überzeugend gelebte Männlichkeit treten. Unabhängig davon, ob sich die bundesdeutschen Protagonisten des pro-männlichen Diskurses, wie Walter Hollstein, sehr stark auf amerikanische Autoren beziehen oder, wie Wilfried Wieck, eigene Ansätze versuchen, steht das Leid der Jungen und Männer an den gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen im Vordergrund.
Die Infragestellung solcher "Privilegien der Männerherrschaft" sehen Konzepte "anti-sexistischer" Jungen- und Männerarbeit als notwendige Voraussetzung, damit Männer überhaupt eine bessere Beziehung zu ihrem Körper und ihren Wünschen, ebenso wie zu Frauen und anderen Männern bekommen können. Dies dürfe nicht im Sinne einer Aufgabe von Privilegien mißverstanden werden, vielmehr sollten Männer ihre gesellschaftlich privilegierten Machtpositionen zur subversiven antisexistischen Arbeit nutzen. Pädagogisch sollen Jungen und Männer darin unterstützt werden, sich nicht mehr an der Unterdrückung von Frauen und den als weiblich apostrophierten Eigenschaften bei sich selbst und anderen Jungen zu beteiligen. Und sie sollen erkennen, daß sie durch Versagensangst hinsichtlich Verhaltenserwartungen, wie sie die herrschende Männlichkeit verkörpert, nicht zuletzt auch handhabbarer für fremde Kräfte und Mächte- zum Teil totalitärer Art - werden.
Schließlich zeigen sich in der Entwicklung der Diskurse auf theoretischer Ebene zunehmend Parallelen und Vernetzungen mit denen der Frauenbewegung bzw. Frauenforschung und zwar nicht zuletzt deshalb, weil dort Männlichkeit explizit zum (Forschungs-)Thema gemacht wurde. Während jedoch nicht nur in England, sondern auch in Deutschland ein "marxistisch-sozialistischer Feminismus" (Elshtain) sich entwickeln konnte, blieb der ihm entsprechende Diskurs "marxistisch-sozialistischer, antisexistischer Männer" (Hearn) auf England begrenzt.
Aus der Tradition der Zeitschrift WIDERSPRÜCHE heraus schien es der Redaktion an der Zeit, sich der Frage nach "Männlichkeit" als gesellschaftlicher Kategorie kritisch anzunehmen und diese im Kontext von Geschlechterpolitik als Gesellschaftspolitik zu begreifen. Auch wenn dieses Vorhaben hinsichtlich seiner Ausführungen und möglicher 'Fallen' nicht unumstritten war und ist, ist es das gemeinsame Ziel der Redaktion, sich mit diesem Heft in den Diskurs um Männlichkeit und das Geschlechterverhältnis einzuklinken mit der Absicht, einen kritischen Einblick in den (auch internationalen) Diskussionsstand, dessen theoretische Positionen und Bewegungen zu geben und die Debatte innerhalb unserer Reichweite (Redaktion und Adressatinnen der Zeitschrift) anzustoßen.
Zu den Artikeln im einzelnen
Den Beitrag von Georg Tillner und Siegfried Kaltenecker stellen wir aus drei Gründen an den Beginn des Artikelreigens: Sie formulieren in ihrer Interessensbekundung am Thema nicht nur den Wissenschaftsbezug, sondern auch - für unsere Zeitschrift und unsere Intention wesentlich! - ein selbstaufklärerisches und ein politisches Interesse; ihr in sechs Thesen pointierter Überblick über die gegenwärtige Kritik von Männlichkeit zeigt sowohl den Argumentationsstand wie dessen Probleme; und schließlich verdeutlichen sie, wie sehr eine "Beschäftigung mit Männlichkeit, die sich als kritische versteht", ein politisches Projekt sein muß, das "die Auflösung der identitätsstiftenden und gesellschaftsordnenden Kategorie Männlichkeit" zur Aufgabe hat - in dieser Verknüpfung für einen sich linkspolitisch verstehenden Arbeitszusammenhang wie die WIDERSPRÜCHE und die sie tragenden Personen (eine vorwiegend männliche Redaktion) durchaus eine Herausforderung.
Der Beitrag von Bob Connell, hier erstmals in deutscher Übersetzung vorgestellt, verschafft einen breiten Überblick über die verschiedenen Diskurse zum Konstrukt der Männlichkeit und die Hauptlinien in der Diskussion der Geschlechterverhältnisse. Er überschreitet die üblichen Grenzen ethnozentrischer Scheuklappen, die die Mehrheit der euro-amerikanischen Ansätze auszeichnet. Interkulturelle Bezüge, historische Exkurse und politische Analysen entfalten einen Horizont, der die spezifischen Konstruktionsbedingungen für kulturgebundene Konzepte und Praxen der Geschlechter sichtbar macht. Der Prozeß der Konstituierung 'unserer' Formen dominanter Männlichkeit, ihre Aufspaltungen in miteinander konkurrierende Fraktionen werden beschrieben und mit den politischen Kämpfen der neueren Geschichte verknüpft. Der theoretische Zugang Connells zur Konstruktion von Männlichkeiten stellt so innerhalb dieses Heftes eine Art 'roter Faden' dar, auf den sich etliche der weiteren Texte explizit beziehen.
Die Mitglieder des Männerforschungskolloquiums Tübingen führen in den Horizont der Connellschen Theorie ein, indem sie die Leitlinien seiner Argumentation zusammenstellen und einige zentrale Begriffe erläutern. In Connells Zugang wird hier ein fruchtbarer Ansatz gesehen, mit dem sich die Männerforschung in einer differenzierten Weise weiterentwickeln läßt. Da Connell im deutschsprachigen Raum bislang kaum rezipiert wurde und neben dem hier abgedruckten nur ein weiterer Aufsatz in deutscher Sprache vorliegt, erleichtert dieser Text den Zugang zur Auseinandersetzung mit Connells Gedanken.
Nach einer kritischen Sichtung von Connells sozialwissenschaftlichen Versuchen der differenzierenden Erfassung von Männlichkeit konfrontiert L. Christof Armbruster die These des amerikanischen Moralphilosophen und politischen Aktivisten John Stoltenberg vom "Ende der Männlichkeit" als politisch unabdingbarer Vision mit Ergebnissen der Lektüre der Science-Fiktion-Romane William Gibsons, denen vor allem in intellektuellen Kreisen hoher gesellschaftsprognostischer Wert beigemessen wird. Während Stoltenberg äußerst skeptisch die Möglichkeiten des Endes von Männlichkeit in ihrer Überführung in konkretes personales Selbst-Sein beurteilt, lassen sich Gibsons Romane als Szenarien über das postmoderne Ende der Geschlechterdualität lesen - wäre da nicht der untergründige Konservatismus, wonach dieses Ende lediglich noch die symbolische Re-Konstruktion (zynischer) Männlichkeit übrig läßt.
Mit mehr Optimismus rückt Marie Andrée Bertrand dem Herr/Knecht-Verhältnis zu Leibe: Sie gibt in ihrem - hier erstmals auf deutsch erschienenen - Vortrag einen Einblick in englisch- und französischsprachige Ansätze feministischer Provenienz und führt die Fülle und Reichweite jener Dekonstruktionsversuche am "kolonisierten Wissen", wie es seine spezielle Ausprägung im akademischen Bereich entwickelt hat, vor Augen. Gegen Positivismus, Essentialismus und Ontologie (auch von feministischer Seite) helfe nur die "Dekolonisierung des Geistes", wobei die guten alten Rezepte der Reflexion, Kritik und Aufklärung eine nicht unbeträchtliche Rolle zu spielen scheinen.
Geschlechter, so ließe sich folgern, sind also nicht einfach das, was sie zu sein scheinen, ahistorisch-biologisch fundierte Beziehungen von Differenzstrukturen zwischen Männern und Frauen. Geschlechter sind historisch-gesellschaftliche Manifestationen, d.h. in sozialen Praxen gewordene Daseinsweisen. Michael May setzt hier an und zeigt anhand der Ergebnisse aus empirischen Erkundungen, wie different die in den individuellen Lebensläufen erfolgte Einordnung in das gesellschaftliche System der Zweigeschlechtlichkeit in unterschiedlichen soziokulturellen Milieus von jungen Männern bewältigt wird.
Auch Joachim Kersten begreift die Art und Weise, wie "Männlichkeit" respektive "Weiblichkeit" verstanden und 'praktiziert' werden, als abhängig von historisch je bestimmten gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionserfordernissen. Anhand kulturübergreifender empirischer Studien mit Skins, Rockern und Delinquenten lassen sich so zwar - erklärungsbedürftige - quantitative Korrelationen zwischen 'De-vianzerscheinungen', Stereotypen von Männlichkeit und Geschlechtszugehörigkeit feststellen. Keinesweges berechtige dies aber zur Gleichsetzung einer "monolithisch aufgefaßten "Männlichkeit"/"männlichen Rolle" mit Abweichung und Gewalt" oder zu Ausflüchten in 'männliche Wesenheiten'. Einen genauen Blick verdienen daher auch die zum Teil in sich widersprüchlichen Bilder von Männlichkeit in Jugendgangs.
Der Ausgangspunkt von Cornelia Behnke, Peter Loos und Michael Meuser ist die als gängig gehandelte These, daß Anstöße zu einer Veränderung der traditionellen Männerrolle vornehmlich von Männern aus der Mittelschicht ausgingen. Das Forschungsteam an der Universität Bremen befragte Männergruppen - verstanden als potentielle Träger einer alternativen Wirklichkeitskonstruktion in sich wandelnden Geschlechterverhältnissen. Die Auswertungen der Gruppendiskussionen ergeben ein sehr ambivalentes Bild der 'bewegten Männer': auf der Ebene der Einstellung sind die untersuchten Männer zwar als antipatriarchalisch zu bezeichnen, es mangelt aber an einer entsprechenden Handlungspraxis, in welcher die Erkenntnisse und Postulate der Männer aufgehen könnte.
Anja Seiffert geht der Frage nach, welche Vorstellungen von Männlichkeit in Ernst Jüngers Frühwerk thematisiert werden. Leitend ist dabei die These, daß der Zusammenhang von männlicher Rolle und Krieg respektive Militär, wie er in Jüngers Schriften vorfindlich ist, zwar nicht bruchlos heutige Männlichkeitsvorstellungen erschließt, aber aufschlußreiche Kontinuitäten in bezug auf aktuelle männliche Rollenvorstellungen sichtbar werden läßt.
Das Militär gilt zwar immer noch als männliche "Schule der Nation" - insoweit folgen Heinz Bartjes und Eberhard Bolay der Analyse von Anja Seiffert. Doch im Laufe der letzten fünfzehn Jahre ist der Zivildienst für viele junge Männer zur eigentlichen 'Lebensschule' geworden; dabei spielt nicht zuletzt die Erweiterung des männlichen Geschlechterpotentials (gegenüber dem Militär) eine Rolle. Bartjes/Bolay beabsichtigen die These zu plausibilisieren, wonach der Zivildienst weder als Hort 'guter Männlichkeit' idealisiert werden darf, noch dessen produktive Erfahrungspotentiale übersehen werden dürfen. Sie betrachten den Zivildienst als ambivalenten Konstruktionsort von Männlichkeit und loten dessen Spielräume aus.
Lothar Wegner richtet seinen Blick auf die aktuellen Ansätze geschlechtsbezogener Arbeit mit Jungen. Er skizziert die Entstehung so verstandener Jungenarbeit, stellt die wesentlichen Konzepte - den identitätsorientierten, emanzipatorischen und den antisexistischen Ansatz - vor und unterzieht sie auf der Folie von Connells Gedanken einer vorsichtigen Einschätzung. In neun Thesen werden abschließend grundsätzliche Überlegungen zur Jungenarbeit angestellt.
Wir hoffen, daß die Breite der Diskussion in diesem Heft sowie der kritische Bezug der einzelnen Artikel zueinander wie zum Thema generell einer Gefahr vorbeugen hilft, die der Analyse von Geschlecht inhärent zu sein scheint: daß nämlich die Kritik der dualistischen Geschlechterordnung, statt zu deren Überwindung beizutragen, sie nocheinmal zu reifizieren, ja zu ontologisieren droht.
Die Redaktion