Kultur und Technik
Editorial
Mit einem "und" versehen klingen die beiden Begriffe Kultur und Technik wie ein schon leicht verstaubter Buchtitel, der zu Beginn dieses Jahrhunderts erschienen ist. Beide Begriffe sind schon seit langem, wenn auch mit Unterbrechnungen, symptomatisch für einen Diskurs über Zivilisationsentwicklung. Da es schwer geworden ist, die einzelnen Fort- und Rückschrittsbewegungen in der Gesellschaft als "Geschichte" zu bezeichnen, scheinen Kultur und Technik zwei unterschiedliche Meßlatten abzugeben, mit denen sich argumentieren läßt. Ob linear oder kreisförmig im Stillstand gedacht, von den beiden Polen Kultur und Technik aus gesehen, läßt sich die Zukunft gleichermaßen düster wie hoffnungsvoll ausmalen. Der politisch Konservative, von Optimismus der harmonischen Gegenwart erfüllt, wird sich "Kultur und Technik" auch für die Zukunft wünschen, wobei ihm Kultur eine sinnvolle Ergänzung zur Technik ist, ähnlich der sportlichen Ausgleichsbetätigung, die einseitiger körperlich-seelischer Belastung vorbeugen soll. Dem konservativen "Pessimisten" scheinen Kultur und Technik in einer scherenartigen Bewegung auseinander zu driften; unheilvoll schwant ihm der Werte- und Sittenverfall angesichts steigendender technischer Mittel. Kultur repräsentiert dann das Erhabene und Heilige oder, vollends banalisiert, nur den Knick im Sofakissen: über "tiefere" Werte läßt sich nur schwer streiten.
Unter den kritischeren, grünen, alternativen oder linken Positionen geht es nicht viel übersichtlicher zu. Je nach Auseinandersetzung bezichtigt man sich wechselseitig des "Kulturpessimismus" oder "Technikoptimismus" als ginge es nur fundamentalistisch um Kaiser's Bart. Wo die Hoffnung auf die Sprengkraft der Produktivkraftentfaltung weitgehend abgewirtschaftet hat, blickt man gerade umgekehrt wie die pessimistischen Konservativen auf neue, sich bietende Sprengsätze. Der "Wertewandel" und die neue "politische Kultur des Dissenses und Individualisierung". Die "Moderne", als begrifflicher Kompromiß über politische Einschätzungen hinweg, hat Zukunft, wenn auch vielleicht nicht als "moderne", dann als "postmoderne".
Die Beiträge zu "Kultur und Technik" in den WIDERSPRÜCHEn greifen dagegen in die Geschichte und Theoriegeschichte zurück, um an Vernachlässigungen und Vergessenes zu erinnern. Mit dem allgemeinen Hinweis darauf, daß eine "andere", neue Kultur bisher immer nur in der Gestalt einer "anderen" Gesellschaft gedacht werden konnte, zieht man sich den Vorwurf zu, Altbackenes einsilbig zu wiederholen. Es wird sich nicht vermeiden lassen, genauso wie man mit dem Hinweis auf Reflexionen über die "Kulturindustrie" ebenfalls müdes Abwinken hervorrufen wird. Niemand würde bestreiten, daß die "Klassiker" Adorno, Horkheimer, Löwenthal und Marcuse lesenswert sind, aber ihren "Pessimismus", ihre esoterisch-kontemplative und praxisferne Kritik, ihre "totale Herrschaftstheorie" und ihre Unterschätzung kritischen Massenbewußtseins heute ? - All das, nein, danke!
Die Erinnerung an die kritischen Analysen zur Kulturindustrie, wie sie etwa in den Fragmenten der "Dialektik der Aufklärung" niedergelegt sind, soll vor allem zwei provokative Überlegungen für die Debatte über "Kultur und Technik" fruchtbar machen. Das historische Auftreten der Kulturindustrie, der technologisch fortgeschrittensten Produktion und Distribution von massenkulturellen Gütern, erschien nicht nur symptomatisch für Veränderungen im kulturellen Bereich, dem Überbau und der Ideologiebildung selber, sondern für die Herrschaftsform kapitalistischer Gesellschaft. Kultur, zur "paradoxen Ware" geworden, übersteige die Tauschrationalität und Warenförmigkeit des vergangenen liberalen Konkurrenzkapitalismus und ginge, anders als noch in der Analyse des Warenfetischs beschrieben, direkt auf das Massenbewußtsein los. "Kulturindustrie sublimiert nicht, sondern unterdrückt." Kulturelle Güter und Ideologie bargen bis dahin Doppelcharakter, im "falschen" Bewußtsein "wahres" nur verkehrt aufzubewahren; mit der Kulturindustrie änderte sich dies. Sie organisiert keineswegs die Flucht aus der Realität, sondern die Flucht "vor dem letzten Gedanken an Widerstand" und konflikthafter Verarbeitung der Realität, lautete die These von Horkheimer und Adorno.
Die zweite aktuelle, weit weniger ausgeführte Einsicht besagte, daß die Herrschaftsform des monopolistischen Kapitalismus, in dem die Kulturindustrie wohl zu ökonomisch schwächeren und unbedeutenden Branchen zählt, sich verwandelt hat. Nur ließ sich an Kulturindustrie bereits vor vierzig Jahren paradigmatisch zeigen, was für andere industrielle Produktionszweige erst seit kürzerer Zeit zu beobachten ist. Die ganze Produktpalette der Medien, von der Zeitung bis zur TV-Serie, sind keineswegs mit industrieller Massenproduktion zu vergleichen. Sie sind individuell und in hochspezialisierter Arbeitsteilung hergestellt, vom ausgesuchten Bild-, Ton- und menschlichen Charakter"material" bis zur letzten Schnittsequenz temperierte, synthetische Produkte, deren Gebrauchswert phantasievoll angepeilt, die massenhafte Akzeptanz und Abnahmebereitschaft sondiert, geplant und auch ökonomisch kalkuliert wird. Erklärungen, die den Formwandel gesellschaftlicher Herrschaft mit Markt- oder staatsmonopolkapitalistischen Vorstellungen beikommen wollen, erweisen sich bereits an der Produktions- und Distributionsweise der Kulturindustrie als zu kurzatmig. Die Überlegungen zu den "Schemen der Massenkultur" erscheinen erst recht in anderem Licht, seitdem in wichtigen Branchen, wie etwa der Elektro- oder Autoindustrie, mit der technologischen Aufrüstung Fragen der Psycho- und Sozialtechnik, der Managmentphilosophie, der "cor-porate identity", der Team-, Projekt- und anderer Beteiligungsspielmodelle an Bedeutung gewinnen. Die Beschäftigten auf allen Hierarchieebenen sollen keineswegs bloß Planungsobjekte bleiben, sondern aktiv an vielen Entscheidungen beteiligt werden, selbst wenn sie "ihren" Arbeitsplatz gefährden. Sie müssen nicht nur während der Arbeit beteiligt sein, sondern die Lebenshilfe, Unterstützung und Sinnfindung im außerbetrieblichen Leben zulassen. Dies ist die Zukunftsbotschaft ganzheitlicher Zuständigkeit und Betreuung, wie sie die Kulturindustrie, nicht ihre Produkte, sondern als "Programm" schon lange antizipiert.
"Amüsement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus.", lautete eine lapidare Feststellung von Adorno und Horkheimer über die veränderte Wirklichkeit von "Kultur". Dieses "Fusionsprodukt" folgt keinesfalls dem Bedürfnis nach Unterhaltung, sei es eher "gehobener" oder "niederer" Art. Als Verlängerung der Arbeit schneidet sie Lust und deren Erfüllung ab, genauso wie es im Arbeitsbereich umgekehrt scheinbare "Anreicherungen" gibt, die schon manchen Arbeitswissenschaftler begeistert haben.
Der Rohstoff für Kulturindustrie ist dabei grenzenlos, - eben die abenteuerliche Langeweile des Alltags, der Katastrophen, der Liebe, Gewalt und des Tods, wie sie "das Leben spielt" -, und ihre Verarbeitung zielt auf diejenigen Regungen, die gegenwärtige Menschen davon auch haben. Auf Kritik, Sinnstiftung, Aufklärung und spontane "Ausrutscher" braucht das Programm dabei nicht zu verzichten. Wirklich niemanden braucht man öffentlich über die "Reproduktionsschemata des Immergleichen", wie sie die Kulturindustrie vorführt, zu belehren; daß es so ist und jeder durchschaut, macht den affirmativen Charakter der Massenkultur aus. Die Klage darüber wäre sinnlos, nur die Einsicht in die Zwickmühle praktischer und theoretischer Kritik sollte Konsequenzen nach sich ziehen. Dazu können die Beiträge des Schwerpunkts nicht mehr tun, als erneut Anhaltspunkte aufzeigen.
Noch jede Diskussion über Technik gelangt angesichts ungeheurer technologischer Entwicklungen an eine kaum zufällige Kernfrage. Meist exemplarisch am Bildschirm oder Personalcomputer wird der Versuch unternommen, das "Mensch-Maschine"-Verhältnis, die Bedingungen der Sozialisation und Erziehung zu diskutieren. Wenn auch weniger emphatisch als ehemals, steckt darin die Frage nach der Konstitution von Bewußtsein und des Subjektes, der Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen, trotz und wegen zunehmender Technologien. Der erste Beitrag von Rose und Klaus Ahlheim geht auf die subjektive Seite in der Technik- und Kulturdebatte ein.
Die Beiträge von David Wittenberg, Bernhard Heinrich und Walter Lochmann knüpfen an die Überlegungen zur Kritik der Kulturindustrie an. David Wittenberg protokolliert die Inszenierung eines alltäglichen Dramas, den Unfalltod eines Kindes, durch die nationalen Massenmedien und zeigt, daß Öffentlichkeit als ganze und nicht parzelliert "funktioniert". Bernhard Heinrich reflektiert die Fernseh-Öffentlichkeit aus der Sicht ihrer "Produzenten" und Walter Lochmann stellt die Entwicklung vom öffentlichen Monopol zur Privatisierung in der bundesrepublikanischen Medienwelt dar.
Horst-Dieter Zahn zeichnet in seinem Beitrag nach, wie es den Konservativen nach 1945 erst langsam wieder gelungen ist, ihre durch den Faschismus tabuisierte Tradition von "Kultur und Technik"-Diskussion scheinbar unbefangen wieder aufnehmen zu können.
Karin Dehnbostel thematisiert in einem fingierten Gespräch die Aspekte alltäglichen Medienumgangs, wie sie insbesondere meist Eltern an ihren Kindern auf- bzw. mißfallen.
Offenbach, im September 1987