Ihr Kinderlein kommet? Kindheit und Kinderleben heute

Editorial

"In dem zu Ende gedachten Marktmodell der Moderne wird die familien- und ehelose Gesellschaft unterstellt. (...) Das Marktsubjekt ist in letzter Konsequenz das alleinstehende, nicht partnerschafts-, ehe- oder familien'behinderte' Individuum. Entsprechend ist die durchgesetzte Marktgesellschaft auch eine kinderlose Gesellschaft - es sei denn, die Kinder wachsen bei mobilen, alleinerziehenden Vätern und Müttern auf." (U. Beck. Risikogesellschaft)

"Kindern fehlt wegen Leid und Krankheit Kindheit: Schlechte Lebensbedingungen berauben Kinder in vielen Ländern der Welt ihrer Kindheit. Zu diesem Schluß kommt ein Bericht einer Stiftung, der am Montag in Paris auf dem internationalen Forum zu den Rechten des Kindes veröffentlicht wurde." (FR vom 28.11.1995)

"'Wußtest du', fragte ich ihn, 'wußtest du, daß alle Erwachsenen einmal Kinder waren?' 'Ich habe davon gehört.' 'Das ist eine Unglaublichkeit, nicht wahr?' fragte ich weiter. Jakob nickte: 'Wenn ich an Herrn Ohrenkneifer, unseren Lehrer, denke, kann ich es mir eigentlich nicht vorstellen.' 'Und doch ist es die Wahrheit', sagte ich, 'all die großen Frauen und Männer, die du kennst, waren einmal Mädchen und Jungen. Sie waren so groß wie du. so tapfer und so ängstlich. Sie hatten nette und freche Freunde. Und sie haben gelacht und geweint. Und manchmal waren sie sehr einsam'." (Ch. Hein, Das Wildpferd unterm Kachelofen)

Wenn man daran denkt, daß am Beginn unseres sich nun seinem Ende zuneigenden Jahrhunderts die Schwedin Ellen Key vom "Jahrhundert des Kindes" sprach, so stellt sich die Frage, was denn nun für die Kinder in diesem Jahrhundert herausgekommen ist. Angesichts der realen Bedingungen des Lebens vieler Kinder in eben dieser Zeit lassen sich Veränderungen bis heute als Fortschritt im Interesse von Kindern verstehen: aber, ebenso noch lange nicht der Mehrheit der Kinder dieser Welt - und nicht einmal aller Kinder in den westlich-kapitalistischen Staaten.

Wenn wir von den Bedingungen kindlichen Lebens und Erlebens heute sprechen, dann sind damit nicht nur (wenn gleich nie zu vernachlässigende) materielle Bedingungen allein gemeint, sondern solche, die die Lebensweise(n) von Kindern insgesamt berühren: Also auch psychische, soziale, kulturelle. Und wenn wir diese Gesamtheit an Bedingungen kindlichen Lebens und Erlebens für die Kinder der Welt heute betrachten, so ist die Aussage vom Fortschritt schon stark zu relativieren. Auch wenn es unsinnig ist. der Aussage, den Kindern heute gehe es so gut wie nie zuvor, mit der Aussage, den Kindern heute gehe es so schlecht wie nie zuvor zu begegnen, so bleibt doch die entscheidende Aufgabe, sich darüber zu verständigen, wie den, die unterschiedlichen Lebenslagen und Lebensweisen von Kindern heute einzuschätzen sind und es bleibt zu fragen, welche Aufgaben sich daraus für eine Kindheitsforschung, die Theorie und Empirie übergreift, ergeben.

Die auf den ersten Blick simple Frage, was denn aus Kindern Kinder mache, bildet dabei einen analytischen Ausgangspunkt, in den grundlegende gesellschaftstheoretische Problemstellungen eingelassen sind (siehe die Beiträge von Honig, van Krieken, Karsten und Sünker). Gegen den Naturalismus alter Auffassungen von Kindheit hat sich dabei inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, daß Kindheit als soziale Figuration zu betrachten ist - konstituiert im Kontext gesellschaftlicher Zusammenhänge, historisch-konkreter Interessen und Umgangs- wie Zugriffsweisen auf eine bestimmte Altersphase, die zudem noch durch eine spezifische Konstellation im Generationenverhältnis ausgezeichnet ist. Dementsprechend stellt sich das - nicht nur für Kinder-relevante Problem des Verhältnisses von Abhängigkeit und Autonomie in Lebenslage und Lebensweise in besonderer Schärfe. Zudem kann begründet vermutet werden, daß gesellschaftliche Wandlungsprozesse in doppelter Hinsicht Konsequenzen für die Konstitution der Bedingungen von Kindheit und Kinderleben haben: Einerseits mit Bezug auf unterschiedliche Perspektiven auf Kindheit, andererseits hinsichtlich der realen Lebensbedingungen - die Frage von Emanzipations- und Gewaltpotentialen dabei eingeschlossen. So läßt sich denn auch gegenwärtig am einfachsten jene Position kritisieren, die die Kinderproblematik bevölkerungspolitisch und rententechnisch mißversteht.

Eine den theoriegeleiteten Diskursen komplementäre Perspektive versuchen jene Positionen zu entwickeln, die empirisch orientiert Bedingungsfaktoren und Bestimmungsgrößen kindlichen Lebens und Erlebens in der Gegenwart zu rekonstruieren trachten (siehe die Beiträge von Zeiher, Fuhs und Kunstreich). Die Analysen der Organisation und (aktiven) Gestaltung von Kinderleben - dabei den verschiedenen Differenzierungskriterien folgend (Klasse. Milieu und Kultur; alters- und geschlechtsspezifisch) - fragen dabei nach Orten für Kinder in den Konsequenzen für Entwicklungsdynamiken und Erfahrungsmöglichkeiten (bzw. deren Restriktionen). Die Rede von den "Spielräumen" ist dabei in einem vieldeutigen Sinne zu verstehen; eine je bestimmte Organisierung von Raum und Zeit läßt sich hinsichtlich der Konsequenzen für die Bedingungen des Aufwachsens gerade auch bezüglich möglicher Aktivitäten untersuchen. Gerade weil Institutionen (aufgrund ihrer unterschiedlichen bzw. widersprüchlichen Interessen) und Netzwerke kein eindeutiges Mischungsverhältnis eingehen, ist daher immer wieder nach konkreten Dimensionierungen kindlichen Lebens und Erlebens zu fragen.

Wenn heute Gesellschaftstheorie, Gesellschaftspolitik und Kinderpolitik in und ob ihrer Beziehung zueinander auf die Tagesordnung zu bringen sind, so geschieht dies im Interesse an einer weiteren Demokratisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft; Gesellschaftsanalyse in ihrem Bezug auf Kindheitsforschung ist damit eine praktische Angelegenheit.

Die Redaktion