Hinten anstellen! Zur Regulation von Armut in der aktivierten Bürgergesellschaft

Editorial

"Es gibt so wenig menschliche Würde ohne Ende der Not, wie menschengemäßes Glück ohne Ende alter und neuer Untertänigkeit" (Ernst Bloch)

Das Jahr 2010 hatte für das Thema Armut eine besondere Bedeutung. Zum einen handelte es sich dabei um das Zieljahr des Vertrages von Lissabon, als dessen deutsche Umsetzung man die Agenda 2010 betrachten kann. Primäres Ziel dieses Vertrages war es, die Union zum global wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum zu machen (vgl. Rat der Europäischen Union 2000: 2). Zugleich wurde der Vertrag jedoch auch mit der Aufforderung an die Mitgliedstaaten verbunden, dass "etwas unternommen werden , um die Beseitigung der Armut entscheidend voranzubringen" (ebd. 11), damit die Schaffung eines europäischen Wirtschaftsraums nicht mit einer Verschärfung bereits bestehender sozialer Probleme der Arbeitslosigkeit, Armut und sozialen Ausgrenzung begleitet werde. Insofern stellt es alles andere als einen ironischen Zufall dar, dass die Europäische Union das Zieljahr der Agenda 2010 zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ausgerufen hat, sondern markiert vielmehr eine logische Konsequenz, die Entwicklung auf dem Gebiet der "Armutsbekämpfung" öffentlich zu dokumentieren.

Wohl kaum jemand verband mit der Ausrufung dieses Jahres die Hoffnung nach substanzieller Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen, die zu den Armen gerechnet werden. Stattdessen bot das Jahr all denen, die an den Politiken der Armutsbekämpfung bzw. besser Armutsverwaltung oder Armutsregulierung beteiligt sind, die Chance ihr Scherflein dazu beizutragen, eine medial inszenierte Öffentlichkeit für das Thema Armut zu sensibilisieren. Die Nationale Armutskonferenz, die einen guten Überblick über die stattgefundenen Aktivitäten hat, zieht eine skeptische Bilanz.(1) Manche Akteure, wie z.B. der DGB, haben sich im Verlauf des Jahres sogar offen davon distanziert.(2) Interessant ist jedenfalls, dass Armut in höherem Maße politisch thematisiert wird. Ein Widersprüche - Heft mit dem Titel "Armut - kein Thema?", wie es mit Heft 41 im Jahr 1991 erschienen ist, würde momentan deplaziert wirken. Die Frage ist jedoch, wie Armut gegenwärtig thematisiert wird und welche Vorhaben als "richtige" Armutsbekämpfung auf die politische Agenda gesetzt werden und welche Rolle dabei Arme selber spielen.

Der Tenor des offiziellen Armutsbekämpfungsbildes, welches insbesondere seitens der deutschen Programmschrift verbreitet wurde, ist schnell zusammengefasst: vor dem Hintergrund der "60-jährige Erfolgsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft und des Sozialstaats" (BMAS 2009: 3) wird das Europäische Jahr 2010 als Gelegenheit zur Verdeutlichung betrachtet, "wie der moderne Sozialstaat in Deutschland gleiche Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben und auf gerechte Teilhabe schützt und in weiten Teilen gewährleistet" (ebd. 2). Die PR-wirksam in die Öffentlichkeit getragene Message lautet somit: Der Staat hat seine Schuldigkeit bereits getan. Zur "Bekämpfung" fortbestehender "Restprobleme" gelte es demgegenüber "dafür zu werben, dass mehr gemeinsame Verantwortung für die Stärkung des sozialen Zusammenhalts übernommen wird" (ebd. 6). Nicht nur die Politik, sondern auch eine breite Öffentlichkeit soll "für mehr Engagement gewonnen" bzw. in ihrem ehrenamtlichen bzw. freiwilligen Engagement stärker anerkannt und gefördert werden. Bürgerschaftliches Engagement wird somit als ein kritischer Erfolgsfaktor gesehen, wobei "insbesondere für Menschen, die direkt oder indirekt Erfahrungen mit Armut gemacht haben, die Gelegenheit , einen Beitrag zu leisten" (Europäische Kommission 2008: 5; vgl. dazu auch Bareis/Wagner in diesem Heft).

In dieser Hinsicht ist es bedeutsam, dass es anderen Ereignissen im vergangenen Jahr weitaus besser gelungen ist, die bundesrepublikanische Öffentlichkeit für das Thema Armut zu sensibilisieren als das Europäische Jahr 2010. Die bundesdeutsche (Teil)Öffentlichkeit, die in der politischen -Regulation von Armut engagiert ist, wurde im Februar 2010, zu einem Zeitpunkt, da das europäische Jahr in Deutschland gerade mit dem Slogan "Mit neuem Mut" ausgerufen wurde, von einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Bewegung gesetzt. In dem Urteil erklärt das Bundesverfassungsgericht die bisherige Bemessung der Regelsätze für Erwachsene und Kinder des im Zuge der Umsetzung der Agenda 2010 eingeführten Arbeitslosengeld II für verfassungswidrig und zugleich ein Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum als unverfügbar. Unmittelbar nach diesem Urteil begann die den Leserinnen und Lesern wohl bekannte Debatte um die rechte Art und Weise der sozialstaatlichen Behandlung von Armut und Armen. Diese Debatte lässt, sich mit den Stichworten der "spätrömischer Dekadenz", der "Leistungsträger" etc. in Erinnerung rufen. Dabei schälte sich ein ein gar nicht neuer Mut zur Wiederholung des alten Dogmas bürgerlicher Armutspolitik heraus: wer arbeitet, soll mehr Geld haben als diejenigen, die nicht arbeiten. Dieses Dogma, das sich ja nur auf die Bevölkerungsgruppen bezieht, die ihren Lebensunterhalt mit Lohnarbeit verdienen müssen und die den Risiken dieser Arbeit ausgesetzt sind, wird in den Ebenen der Realpolitik als Parteiengrenzen überschreitender sozialpolitischer Gerechtigkeitsgrundsatz sichtbar. Auch die rotgrüne Agenda 2010 mit ihrem Aktivierungs- und Modernisierungsfuror teilte diesen Grundsatz. In der Debatte über dieses Dogma des so genannten Lohnabstandsgebots formuliert sich auch die Sorge um die Mitte, die allenthalben laut wird, wenn es um die Finanzierung von existenzsichernden Sozialleistungen geht. Und darin kommen auch die Abstiegs- und Statusverlustängste derer, die der respektablen arbeitnehmerischen Mitte zugerechnet werden können.

Seither erleben wir als einen Aspekt der politischen Regulierung der Armut die Verhandlungen über die Bemessung und Höhe Regelsätze und weitere veränderte Formen so genannter Teilhabeangebote, die armen Haushalten in Deutschland künftig gemacht werden. Es ist auch hier eine klassische Variante von Armutspolitik: wie viel Geld steht Armen zu welchen Bedingungen zu. In den Auseinandersetzungen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeigt sich als weiterer Aspekt von Armutspolitik, wie erfolgreich in den letzten Jahren die "Politik der neuen Unterschicht" (vgl. Widersprüche Heft 98 vom Dezember 2005) ihre Wirkungen entfaltet hat. Mit den Neuregelungen des Sozialgesetzbuchs II wird die Lebensführung der Menschen noch stärker Gegenstand des schon etablierten Aktivierungsregimes. Mit geschickten Diskurs-Assoziationen und -verknüpfungen schaffte es die Bundesregierung, z.B. die Bedarfe für Tabak und Alkohol aus dem Katalog der regelsatzrelevanten Posten zu streichen und für arme Familien mit Kindern nicht die Geldleistungen zu erhöhen, sondern Teilhabeleistungen vorzuhalten, die sicher stellen sollen, dass die Hilfe auch "dort ankommt, wo sie gebraucht wird". Es zeigt sich wie gesellschaftlich und politisch mächtig eine recht klassische bürgerliche Adressierung armer Leute ist: ihnen wird Autonomie bestritten und sie sollen gebessert werden.

Ein weiterer Aspekt, der die Armutspolitik gegenwärtig kennzeichnet, hat mit der Etablierung des aktivierenden Staates und den damit verknüpften Verantwortungszuschreibungen für soziale Risiken zu tun. Neben der vermehrten Mobilisierung bzw. Anrufung von Selbstverantwortung und Selbstsorge für die Widrigkeiten der (lohnabhängigen) Lebensverläufe wie Arbeits- und Einkommensausfall, Krankheit, Alterssicherung und Pflege - und Unterstützungsbedarfe im Alltag braucht der aktivierende Sozialstaat aktive Bürgerinnen und Bürger, die mit ihrem Engagement gemeinwohldienlich wirken und sich sozialer Aufgaben annehmen. Tatsächlich entsteh derzeit in den durch die Transformation des Sozialstaats entstandenen Versorgungslücken ein beständig anwachsendes Feld bürgergesellschaftlicher Armutsversorgung. So lässt sich in den letzten Jahren ein regelrechter Boom nicht sozialstaatlich verankerter Notversorgungsmaßnahmen in Form von Suppenküchen, Lebensmittelausgaben, Kleiderkammern oder Sozialkaufhäusern beobachten (vgl. Lutz 2008: 8f; Selke 2008), die zum einen sehr stark an Formen der bürgerlichen Philanthropie erinnern, andererseits jedoch durchaus moderne, marktliberale Züge tragen (vgl. auch Kessl/Wagner in diesem Heft). Im Feld der Armutspolitiken wird auf diese Weise zum einen bürgerschaftliches Engagement als Bestandteil einer neuen Governance projektiert. Dabei lassen sich durch die Aktivierung bürgerschaftlichen Engagements sowohl sozialstaatliche Aufgaben zivilgesellschaftlich umverteilen , wie auch auf diese Weise Formen der Beteiligung für Bürgerinnen und Bürger jenseits radikal-demokratischer Ermächtigung geschaffen werden. Zugleich können Forderungen professioneller Akteure, unter Verweis auf ihrer Ersetzbarkeit durch eine bürgerschaftliche "Reservearmee", im Zaum gehalten werden (vgl. Dahme/Wohlfahrt in diesem Heft). Zum zweiten kann bürgerschaftlich Armenversorgung als Ausdruck einer Neuordnung gesellschaftlicher Reziprozitätsmuster (vgl. Lorenz 2010) im Kontext einer zunehmend von sozialen Spaltungsprozessen und härter werdenden sozialen Verteilungskämpfen geprägten Gesellschaftsordnung verstanden werden. Derzeitige Armutspolitik stellt insofern insbesondere in ihrer "bürgerschaftlichen" Variante auch eine Form der Klassenpolitik dar, da über Einrichtungen wie z.B. die Tafeln Arme und Reiche in eine Beziehung zueinander gesetzt werden, die neben der Abilderung sozialer Not auch auf die Legitimation der mit diesem Verhältnis verbundenen soziale Abstände verbunden ist (vgl. Kessl/Wagner in diesem Heft).

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Das vorliegende Heft betrachtet alle der hier angesprochenen Armutspolitiken. Ein Schwerpunkt bildet dabei die Frage, wie Armut und damit der Alltag von als "Arme" etikettierten Menschen unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen im Rahmen des aktivierenden Staates reguliert werden.

Heinz-Jürgen Dahme und Norbert Wohlfahrt analysieren die Regulierung der Armut durch bürgerschaftliche Sozialpolitik, fragen nach demm Zusammenhang von Armut und Produktionsverhältnissen und stellen die propagierten Selbstheilungskräfte der Bürgergesellschaft in den Rahmen einer Politik des zwischenstaatlichen Standortwettbewerbs.

Thomas Wagner und Fabian Kessl stellen in ihrer politisch-kulturellen Ökonomie des Mitleids vor, wie die aktuell wahrnehmbaren Formen bürgerschaftlicher Armutsbekämpfung gesllschaftstheoretisch fundiert kritisiert werden können.

Ellen Bareis und Thomas Wagner stellen am Beispiel des EJ 2010 den öffentlichen und politischen Diskurs über Armut vor und reflektieren die dessen Akteure, Interessen und Ziele.

Wolfgang Völker fragt danach, wie in den jüngeren politischen Diskussionen über Armutsbekämpfung die Beziehungen von Armut und Einkommen thematisiert werden

Karl-August Chasse setzt sich mit dem Paradox auseinander, dass eine wachsende soziale Ungleichheit und eine Ausweitung von Armutsrisiken sowie Verfestigung von Armutslagen zum sozialwissenschaftlichen Wissensbestand gehört, aber dennoch z.B. die Bekämpfung von Kinderarmut politisch nicht die Lebenslage und Lebensverhältnisse in den Blick nimmt, sondern kindzentriert agiert.

Frances Fox Piven nimmt im Gespräch mit Christian Frings und Cecil Arndt Stellung zu den sozialen und politischen Organisierungs - Möglichkeiten von Armen und Erwerbslosen, fragt nach deren Möglichkeiten, wie sie ihre latente Macht aktualisieren und ausüben können - alles auf dem Hintergrund ihrer praktisch-politischen Erfahrungen und theoretischen Arbeiten in den USA.

Der Frankfurter Arbeitskreis Armutsforschung nimmt Stellung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen der Grundsicherung und anlaysiert und kritisiert die Bundesregierung in ihrem Versuch, dass Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum haushaltskonsoldierungskompatibel klein zu rechnen.

Die Redaktion