Dienstleistung in der Jugendhilfe - Jenseits von Hilfe und Herrschaft

Editorial

Eine neue Runde in der Debatte um soziale Dienstleistungen ist eröffnet. Daß es dabei zu kontroversen Positionen kommen würde, war abzusehen - und erwünscht. Das vorangegangene Heft 52 der Widersprüche "Dienstleistung - Befreiung aus feudaler Entmündigung?" dokumentiert die verschiedenen Positionen in einem ersten Zugriff. Zugleich wird aber an den Beiträgen deutlich, daß wir tatsächlich erst am Beginn einer Diskussion stehen, deren Ende noch nicht abzusehen ist: Neben eher verhalten optimistischen Einschätzungen der Verbesserung Sozialer Arbeit durch ihre Überführung in "Kundendienst" über die Einbeziehung marktförmiger Elemente stehen andererseits Positionen, die den Begriff der sozialen Dienstleistung als nicht tauglich für die alltägliche Arbeit in sozialpädagogischen Institutionen erachten oder ihn als Strategie der Verdeckung des grundsätzlich politischen Charakters Sozialer Arbeit ansehen.

Während die wissenschaftlich-politische Reflexion mit der Erörterung des Für und Wider des Dienstleistungskonzepts beginnt, bahnen sich smarte Dienst- und Amtsstellenleiter sowie alerte Jungprofessionelle mit dem Vokabular der auf's Soziale angewendeten Betriebwirtschaft ihre Karrierewege. Die Klientin wird zur "Kundin", das Jugendamt zum "modernen Dienstleistungsunternehmen", der Haushalt zum "Budget", die Interaktion von Adressat und Professionellem zum "output", organisatorische Tätigkeiten zum "Management" usw.

Das Dilemma dieser vermutlich nur noch psychologisch zu erklärenden Adaption professionsexterner Begrifflichkeiten ist, daß die offensichtlichen Bemühungen, einem "schlanken Sozialstaat" mithilfe eines entliehenen Jargons eine modernistische Begriffsfassade zu verpassen, eine normative Faktizität produzieren, auf die jene Kritik vollständig zutrifft, die im Dienstleistungskonzept die Vernebelung eines rationalisierten und herrschaftlichen Sozialstaats vermutet. Das bedeutet in diesem Zusammenhang, daß damit die Möglichkeit einer ertragreichen wissenschaftlichen und fachpolitischen Debatte über das Potential und die Widersprüche der Dienstleistungsorientierung vorschnell durch eine polarisierte Struktur von marktorientierten Befürwortern auf der einen und ihren Kritikern auf der anderen Seite zugeschüttet werden könnte.

Die notwendige und zutreffende Kritik an einem unter Rationalisierungsprämissen von Sozialadministrationen instrumentalisierten Topos der sozialen Dienstleistung darf allerdings nicht darüber hinwegsehen, daß im Begriff der Dienstleistung dem nachfragenden Subjekt eine zentrale Bedeutung zukommt. Dieser Aspekt reflektiert unter anderem eine Kritik an einer paternalistisch-expertokratischen Sozialen Arbeit, wie sie von der Selbsthilfebewegung praktisch geübt worden ist und mißt dem "Gebrauchswert" sozialer Dienstleistungen für die traditionell als Klienten bezeichneten Nutzer eine wesentliche Bedeutung zu.

Die politisch zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist, ob und wie diese Gebrauchswertseite sozialer Dienstleistung gegen die Interessenskoalitionen von leitender Sozialadministration mit Sozialdezernenten und Kämmerern zu stärken ist. Dies aber hieße für die Soziale Arbeit vor dem Hintergrund des für sie konstitutiven widersprüchlichen Verhältnisses von Hilfe und Herrschaft einen eigenen Begriff sozialer Dienst-Leistung zu entwickeln. Denn das, was derzeit im Kontext Sozialer Arbeit unter der 'Metapher' Dienstleistung verhandelt wird, ist nicht aus der Profession erwachsen, sondern von Verwaltungsseite unter dem Druck angespannter öffentlicher kommunaler Haushalte und der Forderung nach einem "Umbau des Sozialstaates" (welch eine Begriffsusurpation!) von außen an die Soziale Arbeit heran- und durch weit offen stehende Tore hereingetragen worden.

In der professionellen Diskussion der Sozialarbeit/Sozialpädagogik stehen wir noch am Anfang. Bisher verfügen wir weder über einen gehaltvollen Begriff, noch über ein tragfähiges Konzept oder gar eine Theorie sozialer Dienstleistung.

Wesentlich für den weiteren Fortgang der Diskussion aber halten wir die Notwendigkeit eines systematischen Bezugs auf gesellschaftpolitische Entwicklungen und sozialpolitische Strategien. Die sich immer deutlicher abzeichnende Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft nicht nur entlang der Dimension Arbeit/Nichtarbeit sondern auch und zusätzlich der von Ost und West im Zusammenhang mit dem Versuch, den Sozialstaat auf das gerade noch tolerierbare Minimum zurückzufahren, aber auch die offensichtlichen Tendenzen der Individualisierung und Partikularisierung auf Seiten der Subjekte müssen dabei den Reflexionsrahmen darstellen, auf den sich die weitere Diskussion bezieht.

Die entscheidende Frage in einer so konturierten Debatte um soziale Dienstleistungen wird dabei die nach der Stellung des Subjekts im Dienstleistungsprozeß darstellen.

Aus diesem Grunde plädieren wir - in der Vermutung, daß Not erfinderische Energien freisetzt - für eine offene, kontroverse und theoretisch gehaltvolle Diskussion über soziale Dienstleistung, deren mögliche Ergebnisse bei aller notwendigen Kritik nicht leichtfertig durch allzuschnelle "Ableitung" und "Erledigung" verspielt werden sollten. Erst dann kann sich zeigen, ob und unter welchen Bedingungen "soziale Dienstleistung" das von einigen vermutete neue Paradigma der Sozialen Arbeit darstellen kann, oder ob es einmal mehr das von anderen diagnostizierte besonders perfide ideologische Konstrukt zur Überdeckung und Legitimation von Herrschaft durch Soziale Arbeit sein wird.

Mit diesem und dem vorangehenden Heft versuchen wir, die Debatte zu eröffnen und die Positionen zu verdeutlichen. Die Resonanz, auf die unsere Bitte um Mitarbeit bei den von uns angesprochenen Autoren getroffen ist, hat unsere Annahme verstärkt, daß die Thematik von fachlicher wie von politischer Brisanz ist. Aus diesem Grund legen wir im Herbst 1995 ein weiteres Heft zum Thema "soziale Dienstleistungen" vor, um den Fortgang der Diskussion zu dokumentieren und zu resümieren. Wir laden schon jetzt zur weiteren Beteiligung ein.

Das vorliegende Heft ist auf den Bereich der Jugendhilfe zentriert - nicht zuletzt aus dem Grund, weil das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) explizit als (Dienst-)Leistungsgesetz verstanden wird. Neben der Analyse genereller Tendenzen im Kontext dieses spezifischen Handlungsfeldes lassen sich die Widersprüche eines sich unter der Ägide sozialadministrativer Rationalisierung "modernisierenden" zentralen Bereiches Sozialer Arbeit exemplarisch verdeutlichen.

Zu den Artikeln im einzelnen

Thomas Olk fokussiert die Debatte um soziale Dienstleistungen auf die Situation der Jugendhilfe im Kontext administrativer, ökonomischer und klienteler Interessen. Dabei erörtert er vor dem Hintergrund einer Nachzeichnung des "ersten" Diskurses über soziale Dienstleistungen der 70er und frühen 80er Jahre die neuen Akzentuierungen der gegenwärtigen Diskussion und bezieht sie auf die Situation der kommunalen Jugendhilfe im Kontext neuer nicht-bürokratischer Steuerungsmodelle.

Der Bezug zur Dienstleistungsmetapher verpflichtet soziale Einrichtungen darauf, zu definieren, welche Leistungen von ihnen erbracht werden. Mit dieser Thematik setzen sich Thomas Klatetzki und Marianne Meinhold auseinander. Thomas Klatetzki fordert angesichts des derzeit propagierten Verständnisses von Jugendhilfe als Dienstleistung, eine Debatte darüber zu führen, welche Kriterien an Einrichtungen der Heim-erziehung für eine Qualitätsbeurteilung sinnvollerweise, d.h. im Sinne der Verwirklichung sozialer Werte, angelegt werden können.

Die Übertragung einer "Total Quality Mangagement" - Perspektive, wie sie seit einigen Jahren in der Industrie wie im Bereich kommerzieller Dienstleistungen diskutiert und implementiert wird, in die Arbeits- und Handlungkontexte sozialer Dienste wird von Marianne Meinhold kritisch auf ihre Vor- und Nachteile hin überprüft. Dabei widmet sie dem Aspekt der Qualitätsüberprüfung durch externe Kontrollinstanzen und professionsinterne Selbstevaluation besondere Aufmerksamkeit.

Die Widersprüche einer sich auf den "Kunden" beziehenden Fassung von Dienstleistung mit ihren Merkmalen der Freiwilligkeit, des Wahlrechts sowie des Gestaltungsrechts im Kontext der Jugendhilfe stellt Karl Späth am Beispiel der Erziehungshilfen-klassisch: Fürsorgeerziehung und Heimunterbringung-heraus. Er argumentiert, daß die im KJHG enthaltenen Möglichkeiten der Dienstleistungsorientierung derzeit aufgrund der restriktiven Finanzausstattungen nur partiell zum Tragen kommen können. Entscheidend bei der Aktualisierung dieses Dienstleistungspotentials sei die Rolle der Professionellen, die dem Dienstleistungsgedanken Geltung verschaffen müßten.

Auf die Differenzen zwischen den traditionellen Selbstverständnissen von Mitarbeiterinnen allgemeiner Sozialdienste als Amtspersonen und den Anforderungen einer Dienstleistungsarbeit, wie sie etwa im KJHG gestellt werden, weist Dieter Greese hin. Gegen die im "ganzheitlichen" Selbstverständnis des ASD implizit enthaltenen Omnipotenzphantasien setzt er eine organisatorische Entflechtung des ASD anhand lokaler Kriterien und ihre kooperative Bündelung in lokalen Sozialleistungszentren.

Edith Halves Plädoyer für eine Professionalisierung und Akademisierung der Pflege ist getragen von der Überlegung, daß gerade die neueren Konzepte in Pflegeberufen, wie sie sich im Zuge der Dienstleistungsorientierung durchzusetzen beginnen, auf eben jene Qualifikationsmuster rekurrieren, die nicht unerheblich zu den spezifischen Stigmatisierungen, Benachteiligungen und 'Selbstausbeutungs'-Formen von Frauen geführt haben und führen. Akademisierung und Professionalisierung sollen demgegenüber die Fähigkeit zur Selbstbestimmung von Arbeitsinhalten und -formen fördern und jene "diffusen Allzuständigkeiten" vermeiden helfen. Als Problem erweise sich jedoch weiterhin, so ihre These, das Verhältnis von Beschäftigten- und Kundinneninteressen.

Mit dem Beitrag von Michael May schließlich werden die mit der Dienstleistungsdebatte verbundenen Probleme auf eine prinzipielle Ebene bezogen und zusammengeführt: Anhand der individualisierungs- und modernisierungstheoretischen Folie, die er im 9. Jugendbericht unterlegt sieht, geht er der Frage nach, ob und inwiefern unter solchen Prämissen ehemals formulierte Ansprüche auf Selbstbestimmung, Reflexion und Bildung, auf eine Politisierung der Sozialen Arbeit, kurz: alles, was an emanzipatorischen Gehalten nun mit der KundInnen- resp. Gebrauchswertorientierung hoffnungsvoll assoziiert wird, überhaupt denkbar erscheinen. Einer kritischen Analyse werden dabei sowohl die begrifflichen (z.B. das Modell der Responsivität) als auch praktischen Vorschläge (neue Rationalisierungsformen durch flexibilisierte Organisationsentwicklung), die im 9. Jugendbericht angeboten werden, unterzogen.

Abschließend möchten wir die geneigte Leserinnen-, vor allem aber Abonnentlnnen-schaft um Entschuldigung für die erhebliche Verspätung bei der Erscheinung dieser Ausgabe bitten. Eigentlich, ja eigentlich war die Ausgabe Anfang Dezember druckfertig; alle Artikel waren da... bis auf einen - und die Redaktion meinte: unerläßlichen. Also beschloß man, in der Hoffnung , das nun vorliegende Ergebnis möge dies rechtfertigen, zu warten. Anregende Lektüre der Widersprüche 4/94 wünscht

Die Redaktion