Dienstleistung

Editorial

Angesichts der dramatischen Zunahme marginalisierter Lebenslagen, angesichts des zur Zeit vorbereiteten konservativen Ab- und Umbaus des Sozialstaats bewegt sich die Mehrzahl der praktisch und theoretisch im Feld Sozialer Arbeit Tätigen frustriert zwischen den Polen: Bestandssicherung (auch des eigenen Arbeitsplatzes) und: Skandalisierung der elenden Lebensbedingungen der Betroffenen, der Opfer. André Gorz hat dieses Verhalten den "Sozial-Etatismus" der Linken genannt und geschlußfolgert:

"Da sich die konstituierte Linke in einem Sozial-Etatismus festgefahren hat, dessen fiskalische Grenzen ebenso deutlich werden wie seine bürokratischen Belastungen, kann die Rechte das Erbe der Befreiungsbestrebungen der Linken für eine Politik einfordern, die den Wohlfahrtsstaat abbaut, den Steuerdruck mildert, die "dereguliert" und "derreglementiert" und die die Entwicklung einer komplexen Gesellschaft den angeblich "neutralen" und "freien", weil der Macht und dem Willen der Menschen entzogenen Kräften des Marktes überantwortet." (Vgl. Vorwort zur Neuauflage von: Kritik der ökonomischen Vernunft).

Dies ist exakt der Boden, auf dem die derzeitige Debatte um ein Verständnis Sozialer Arbeit als "soziale Dienstleistung" wächst. Von verschiedensten gesellschaftlichen Gruppierungen (die Spanne reicht von kritischen Sozialwissenschaftlerlnnen bis in die - nicht nur - konservative Politikszene hinein) wird seit Ende der 70er Jahre und aktuell wieder verstärkt die Metapher von der sozialen Dienstleistung verwendet. Beispielhaft ist der Boom, den derzeit "Sozialmanagement" als konzeptionelles und handlungsorientiertes Instrumentarium erfährt. Mit der Betonung auf Dienst-Leistung wird der Schwerpunkt des Kontextes Sozialer Arbeit auf "Markt", "Wirtschaftlichkeit", "Konkurrenz", "Anbieter", "Nachfrage", "Konsumenten" verschoben.

Auf den ersten Blick scheinen durch diese Verschiebung des Kontextes Veränderungen in der Sichtweise und Interpretion sozialer Phänomene eingeläutet zu sein: statt vorab definierter sozialer Problemlagen soll es nun um empirisch vorfindbare und subjektiv geäußerte Bedarfe gehen; statt sozialstaatlich-herrschaftlicher Zugriffe sollen individuelle Ansprüche im Vordergrund stehen; aus der Klientin soll die Kundin werden. Solcherlei Veränderungen mögen den einen an den Grundfesten sozialstaatlicher Ideologie (nämlich Hilfe und Herrschaft in einem zu sein) nagen, während sie anderen als Hebel zum Um- und Abbau des Sozialstaates in Richtung Privatisierung dienen.

Dabei ist der Gedanke, soziale Arbeit als Dienstleistungshandeln zu verstehen, keineswegs neu. Bereits vor nahezu zwanzig Jahren formulierten Badura/Gross diese Perspektive, nachdem sie auf der Basis des Zahlenmaterials der Sozialbudgets der Bundesregierungen ein Wachstum der personenbezogenen Dienstleistungen ausgemacht hatten und daraufhin einen Bedeutungszuwachs der Dienstleistungstrategien gegenüber herkömmlichen Einkommensstrategien folgerten (vgl. Badura/Gross: Sozialpolitische Perspektiven. Eine Einführung in Grundlagen und Probleme sozialer Dienstleistungen, 1976).

Ins Zentrum der damaligen Dienstleistungsperspektive rückten die Interaktionsbeziehungen, vor allem der Sachverhalt, daß die Leistungsempfängerinnen selber aktiv zur Bewältigung ihrer Problemlagen beizutragen hätten, was auf die Stärkung von Selbsthilfeansätzen verwies.

Dieser Aspekt spielte in der redaktionsinternen Diskussion um eine alternative Sozialpolitik und später um die "Politik des Sozialen" eine tragende Rolle. Produzenten-Sozialpolitik und die Betonung der Eigensinnigkeit sozialkultureller Milieus, die nicht in der Herrschaftsperspektive bürokratischer Institutionalisierung aufgeht, waren Ansatzpunkte für den Versuch, das "Uno-Actu-Prinzip" kontextgebunden weiterzudenken.

In der Tat hat die Dienstleistungsdebatte vor diesem Hintergrund eine nicht zu unterschätzende politisch-moralische Dimension: Aus dem Bild des unmündigen Klienten, der noch alle Merkmale eines bürokratisch überformten Feudalismus trägt, erlangt der Adressat dieser Debatte immerhin die Würde eines "freien Wirtschaftsbürgers", d.h. er wird zumindest aus der Höhe kapitalistisch-bürgerlicher Vergesellschaftung als aktives Subjekt im Sinne eines aktiven Marktteilnehmers gedacht.

Die Spannung, die in dieser Begrifflichkeit deutlich wird, und von Uwe Ziebarth und Herbert Effinger in diesem Heft auch kritisch thematisiert wird, ist ein Ausgangspunkt für die Redaktion der Widersprüche, das Thema in diesem und in dem nächsten Heft vertieft zu untersuchen. Dabei soll die Richtung durchaus offen bleiben:

Weder soll die Dienstleistungsorientierung in bewährter linker Manier als kühl kalkulierte Privatisierungsstrategie abgetan werden, noch soll vorbehaltlos die Position derer geteilt werden, die darin die neue Bemächtigungsstrategie derzeit ohnmächtiger Klientel sehen. Vielmehr interessiert, in Anknüpfung an den Diskussions-Strang um eine "Politik des Sozialen", welche Anknüpfungspunkte es zwischen diesem und der Dienstleistungsorientierung geben kann. Insbesondere interessieren drei Themenkomplexe:

- Erstens stellt sich die Frage nach der Brauchbarkeit und Trennschärfe der Dienstleistungs-Metapher für den sozialen Sektor:

Nach wie vor (und auch künftig) existieren für den sozialen Bereich strukturelle Schranken gegenüber Marktprinzipien durch staatliche Regulierungsgebote und -interessen (entweder, um potentielle Arbeitskraft zuzurichten oder, um den Ausschluß vom Arbeitsmarkt zu legitimieren). Auf der anderen Seite ist der Zusammenhang zwischen Modernisierungsnotwendigkeiten und Leistungs- statt Eingriffs-Verwaltung offenkundig (hierfür gibt das seit 1991 existierende Kinder- und Jugendhilfegesetz, das sich als modernes Leistungsgesetz versteht, ein gutes Beispiel). Außerdem weist der größte Teil derjenigen Menschen, die soziale Leistungen beanspruchen, als Eintrittskarte für deren Erhalt ohnehin bereits reduzierte Marktchancen auf. Werden sich ihre Benachteiligungen im Fall der Marktgängigkeit Sozialer Dienste verdoppeln, oder läßt sich dann eine Perspektive erweiterter Teilhabe auf der Basis des Status gleichberechtigter Marktsubjekte erhoffen?

- Zweitens geht es um die Beziehung der Metapher Dienstleistung zum Handeln Professioneller. Die Metapher scheint Perspektiven zur Transformierung traditioneller Handlungsorientierungen anzubieten: Dienstleistungshandeln, das sich an Tätigkeit, Gebrauchswert und Teilhabe ausrichtet, statt an Status und professionellem Selbstbezug. Gerade das Selbstverständnis deutscher Sozialarbeit ist über weite Strecken ihrer Geschichte eher durch die Definition dessen, wie die Professionellen sich selber und ihr Verhältnis zur Klientel interpretieren (sei es als tätige Liebe, Beziehung, Behandlung, Solidarität oder Parteilichkeit...) gekennzeichnet als über die Auseinandersetzung mit Funktion und Tätigkeit.

- Drittens interessiert, da wir einem Trend auf der Spur sind, das "Handgemenge": In welche Richtung werden sich bereits existierende Ansätze von Dienstleistungsarbeit (zu denken ist hierbei an Bereiche der Selbsthilfegruppen, an strikt Ressourcen- und netzwerkorientierte Arbeitsansätze, aber auch an Arbeitsbereiche auf der Basis des KJHG) entwickeln? Welche strukturellen und handlungsleitenden Faktoren fördern Teilhabe, Gebrauchswertorientierung, Demokratisierung, welche produzieren verfeinerte Kontrolle und neue Spaltungen?

Um der Diskussion ausreichend Raum zu bieten, wird das Thema in zwei aufeinander folgenden Heften bearbeitet. Das vorliegende Heft enthält grundlegende, theoriegeleitete Artikel, die von verschiedenen Bezugspunkten her eine Verortung und inhaltliche Füllung der Dienstleistungsmetapher im sozialpolitischen Kontext vornehmen.

Im dann folgenden Heft (Nr. 53 der Widersprüche) wird der Dienstleistungsbegriff in verschiedenen Varianten und Themenstellungen auf den Bereich der Jugendhilfe focussiert - und zwar deshalb, weil das KJHG sich ausdrücklich als (Dienst)Leistungsgesetz versteht und auch der dem Gesetz zugrundeliegende 8. Jugendbericht, vor allem aber der demnächst erscheinende 9. Jugendbericht pointiert dieser Richtung folgen.

Zu den Artikeln im einzelnen

Unter dem Titel "Abschied vom Klienten -ein Organisations- und Handlungsmodell im Amt für Soziale Dienste als Jugendamt vor Ort" eröffnet Uwe Ziebarth die Diskussion mit der Reflexion seiner eigenen Arbeit im AS-Team in Steilshoop, das sich in mehreren Aspekten von traditioneller AS-Arbeit unterscheidet. Gelingende Praxis kritisch reflektierend, kommt er zu dem Ergebnis, daß mit "Dienstleistung" bestenfalls ein Teil der professionellen Arbeit beschrieben werden kann, daß die Dienstleistungsmetapher aber insgesamt zu kurz greift. Er schlägt statt dessen ein Modell von "Responsivität" vor, das er als angemessener und realistischer einschätzt.

Herbert Effinger nimmt die Fäden unmittelbar auf und erweitert die Fragestellung: "Soziale Arbeit als Kundendienst - Innovation oder Regression? Professionelle Begleitung in schwierigen Lebensphasen als personenbezogene Dienstleistung in intermediären Organisationen". Die interessante Verknüpfung von Dienstleistung und der Tätigkeit sog. intermediärer Organisationen, die zugleich jenseits, aber auch in den Vergesellschaftungen von Gemeinschaft, Markt und Staat agieren, führt unseres Erachtens die bisherige Diskussion nicht nur zusammen, sondern auch ein Stück weiter.

Den "Kontrapunkt" setzen anschließend Michael Lindenberg und Henning Schmidt-Semisch unter dem Titel "Gefangene Könige oder: Ordnung als Dienstleistung", indem sie die Dienstleistungsmetapher als postmoderne und postfordistische Form herrschaftlicher Kontrolle aus der Perspektive kritischer Kriminologie entziffern.

Diesem "Verdikt" des Dienstleistungsparadigmas schließt sich Michael May mit seinem Essay über "Soziale Dienstleistungsproduktion und Legitimationsprobleme des Sozialstaats" in einigen Aspekten an, kritisiert insbesondere die mit dem Dienstleistungsdiskurs verbundene Gefahr der Entpolitisierung im sozialpädagogischen Sektor, beendet seine Ausführungen aber - sozusagen "konstruktiv" - mit Überlegungen zu einer "kollektiven Dienstleistungsproduktion".

Einen Vorschlag, die Dienstleistungsdebatte aus regulationstheoretischer Sicht zu rekonstruieren und zu kritisieren, macht abschließend Andreas Schaarschuch, der damit zugleich eine weitere Verknüpfung zu unserer Diskussion um eine "Politik des Sozialen" herstellt.