Der Widerspenstigen Zähmung? Zur Bildung der Nation

Editorial

"Mut zur Bildung. Der Aufklärung verpflichtet" war der Titel des letzten Bildungsheftes der Widersprüche vor knapp 10 Jahren. Damals ging es darum, in einer neu aufscheinenden Bildungsdebatte aus unterschiedlichen Perspektiven einer Mißinterpretation des Bildungsbegriffs, vor allem dessen konservativ - restaurativer Besetzung, entgegenzutreten und das Erbe der Aufklärung für Kontexte der Moderne fruchtbar zu machen, dem bildungsbürgerlichen Idealismus und dessen Perpetuierung durch die klassenmäßige Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit die Vorstellung von der Allseitigkeit der Bildung entgegenzusetzen.

Deutlich gemacht werden sollte damals, daß die Frage nach dem Verhältnis von Bildung und Gesellschaft wieder auf die Tagesordnung der allgemeinen politischen Debatte zu setzen sei, nachdem diese Debatte zwanzig Jahre vorher im Rahmen der ersten bundesrepublikanischen Bildungsreformdiskussion, deren Rahmungen vor allem durch Pichts Rede vom "Bildungsnotstand" sowie dem daraus resultierenden "technological gap" (Sputnik-Schock) und Dahrendorfs programmatischer Formel vom "Bürgerrecht auf Bildung" bestimmt waren, eingeleitet wurde.

Jenseits der Rede von den "Illusionen der Chancengleichheit" (Bourdieu/Passeron) bleibt weiterhin die Erkenntnis unhintergehbar, daß Bildungspolitik Gesellschaftspolitik ist. Deshalb galten in diesen letzten dreißig Jahren der Frage was sich aus der "Interdependenz von Gesellschaftsverfassung und Bildungsinstitution" (Heydorn) an Konsequenzen für Verhältnisbestimmungen zwischen Bildungssystem und Gesellschaft für Bildungspolitik und die Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit, aber auch für die gesellschaftliche Formbestimmtheit von Bildungsprozessen der Individuen ergibt vielfältige sozialwissenschaftliche und bildungstheoretische Analysen.

Läßt sich - aus heutiger Perspektive - die erste Bildungsreform als quasi notwendiger Modernisierungsprozeß der bundesrepublikanischen Gesellschaft verstehen, als der Prozeß der Überwindung einer verstaubten politischen Kultur der restaurativ -reaktionären Adenauer-Ära, so gilt es heute der Erkenntnis zu folgen, daß eine demokratische und weiter zu demokratisierende Gesellschaft gebildete, d.h. handlungsfähige und in politische Angelegenheiten eingreifende Bürgerinnen und Bürger voraussetzt und benötigt. Diese demokratietheoretisch und demokratiepraktisch interessierte Perspektive, die gegen die "Zähmungsvorstellungen" von Kapitalismus in der Gestalt der civil society skeptisch bleibt, kann dabei an eine Reihe deutscher und internationaler Diskussionen anschließen, in denen Probleme von Bildungsforschung, Bildungspolitik und Bildungstheorie miteinander vermittelt wurden bzw. werden können. Aus der deutschen Tradition handelt es sich zum einen vor allem um die Beiträge Heydorns und Adornos zu einer gesellschaftstheoretisch zentrierten kritischen Bildungstheorie, aus der angelsächsischen und französischen Diskussion handelt es sich zum anderen um Beiträge zu einer gesellschaftspolitisch orientierten Bildungssoziologie.

Die Bearbeitung des gemeinsamen Gegenstandes "Gesellschaft, Bildung und Individuum" hat dabei gezeigt, daß bis heute mehrheitlich von einer Reproduktionsfunktion des Bildungssystems für den gesellschaftlichen Status quo auszugehen ist. Fraglich ist damit, in welcher Weise die der Institutionalisierung von Bildung inhärente Dialektik - mit den gesellschaftspraktisch zu bestimmenden Polen "Befreiung" und "Herrschaftssicherung" - in Richtung einer Überwindung dieser Reproduktionsfunktion entwickelt werden kann. Dazu bedarf es - in der Aufnahme der Ansätze kritischer Bildungstheorie - einer Theorie von Bildungsprozessen, die die gesellschaftliche Konstitution von Subjektivität als ihren Ausgangspunkt nimmt und zugleich eine in diese Subjektivität verankerte Widerständigkeit gegen gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu begründen imstande ist.

Einerseits kann Bourdieu in seiner - immer wieder leitmotivisch in allen seinen Analysen auffindbaren - Überlegung über die Relevanz des Bildungssystems für die "Struktur der Klassenverhältnisse" in seinem Text "Kulturelle Reproduktion und soziale Reproduktion" (1973) argumentieren, daß es unter all den Lösungen, die im Laufe der Geschichte das Problem der Übermittlung der Macht der Privilegien gefunden wurden, zweifellos keine einzige gebe, "die besser verschleiert ist und daher solchen Gesellschaften, die dazu neigen, die offenkundigsten Formen der traditionellen Übermittlung der Macht und der Privilegien zu verweigern, gerechter wird als diejenige, die das Unterrichtssystem garantiert, indem es dazu beiträgt die Struktur der Klassenverhältnisse zu reproduzieren, und indem es hinter dem Mantel der Neutralität verbirgt, daß es diese Funktion erfüllt".

Andererseits kann von Friedeburg in seiner Analyse "Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch" (1989) in einer gesellschafts- und bildungspolitischen Schlußfolgerung zur Problemstellung, die den gesellschaftlichen Widerspruch zwischen dem mit der europäischen Aufklärung begründeten individuellen Bildungsanspruch ("Bildung als Menschenrecht") und funktionalen Prozessen der "Eingliederung und Anpassung" in die Gesellschaft, die immer durch die Bildungssystem vollzogen werden zum Ausgangspunkt nimmt, herausstellen: "Das Bürgerrecht auf Bildung ist nicht auf dem Markt der Systemkonkurrenz, durch den Wettbewerb verschiedener Schulformen um die knapper gewordenen Schülerinnen und Schüler einzulösen, gleichgültig ob in der Form alter Drei- oder neuer Viergliedrigkeit dort, wo die regulären Gesamtschulen hinzugekommen sind. Auch die Vorstellung, hinter den wissenschaftspropädeutischen Gymnasien, die sich ihre Schülerinnen aussuchen können, im zweiten Glied die Haupt-, Real-, und Gesamtschule reformpädagogisch für alle anderen zusammenzuschließen, führt nicht weiter, sondern beschwört aufs neue die alte Zweiteilung von höherem und niederem Schulwesen, mit allen Folgen für die soziale Selektion. Doch die Geschichte der Bildungsreform zeigt, daß über ihren Fortgang nicht pädagogische Einsichten und organisatorische Konzepte, sondern gesellschaftliche Machtverhältnisse entscheiden. (...) Die individuellen Anforderungen wachsen ungeachtet überkommener Statusdifferenzen. Andauernde Bildungsexpansion höhlt das Berechtigungssystem weiter aus. Die gesellschaftliche Instrumentalisierung öffentlicher Bildung fällt immer schwerer. Die Bildungsreform bleibt auf der Tagesordnung". Das Beispiel des "Bildungsgipfels" für den Hochschulbereich und die neuere Debatte über die Krise der beruflichen Erstausbildung und damit über das Verhältnis von Allgemein- und Berufsbildung - um nur zwei bildungspolitisch umstrittene Themen zu nennen - lassen erkennen, wie breit die Kluft zwischen Reformbedarf auf der einen und politischer Wirklichkeit auf der anderen Seite ist.

In der Aufarbeitung dieser Debatten von Bildungsforschung und Bildungstheorie geht es dementsprechend darum, bildungspolitische Perspektiven - gerade heute auch im internationalen Vergleich - zu entwickeln, die den herrschenden Status quo nicht nur in Frage stellen, sondern ihn auch zu überwinden erlauben.

Während Michael W. Apple der Debatte über das "National Curriculum" in den USA nachgeht und dieses als ein möglicherweise großangelegtes Projekt der 'Rechten' analysiert, entfaltet Peter McLaren im Anschluß an die "Kritische Pädagogik" eine Konzeption interkulturellen Lernens. Ausgehend davon, daß der vorherrschende Ansatz von Multikulturalismus in den USA in seiner korporatistischen oder konservativen Variante ins Leere läuft, plädiert der Autor für ein pädagogisches Handeln, das den Schülerinnen die Erfahrung von "Grenz-Identitäten" (border identities) im sozialen Raum ermöglicht. Die englische Diskussion um die Privatisierung des öffentlichen Schulwesens wird von Geoff Whitty, Sharon Gewritz und Tony Edwards aufgearbeitet. In kritischer Würdigung der Reformpolitik Thatchers, die mit dem Namen "City Technology Colleges" verbunden ist, gelangen die Autoren zu dem Ergebnis, daß die sogenannten "neuen Wahlschulen" nicht ausschließlich als ein Deregulationsprojekt der Konservativen zu betrachten sind, sondern durchaus bildungspolitische Interessen bestimmter Elterngruppen befriedigt. Das sozialdemokratische Reformprojekt per excellance, die Kollegschule in Nordrhein-Westfalen, wird von Andreas Gruschka im Hinblick auf dessen Entwicklung und reformpolitische Aktualität hin analysiert. Dabei wird sowohl die Krise des Gymnasiums als auch die des beruflichen Bildungswesens thematisiert. Friedhelm Schütte kommentiert die seit Beginn der 90er Jahre von Berufspädagogen aufgelegte Debatte über die "Krise des dualen Systems", die - den Bildungsbegriff verabschiedend - auf der Basis postmodernen Denkens nach neuen Wegen für die berufliche Erstausbildung sucht.

Wuppertal / Essen im Juni 1994