Der Dritte Sektor

Editorial

Die Redaktion der WIDERSPRÜCHE nimmt mit den vorliegenden Beiträgen eine Diskussion auf, in der ein heterogenes Feld zunehmend auf ein Wort gebracht werden soll. Denn noch vor wenigen Jahren galt der heute so eindeutig "Dritter Sektor" genannte gesellschaftliche Bereich eher als ein "intermediärer Sektor" zwischen Markt und Staat. In jüngster Zeit jedoch hat dieses ehemalige Zwischenglied eine begriffliche Karriere hinter sich gebracht, die es als eigenständige und gesonderte Kraft erscheinen lässt, die angesichts eines zurücktretenden Staates für die nun mit verschärfter Dringlichkeit zu bewältigenden Probleme unverzichtbar geworden zu sein scheint. Und doch verbergen sich hinter der monolithischen Formulierung weiterhin eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Organisationsformen: Genossenschaften; öffentliche Unternehmen; Wohlfahrtsverbände; freiwillige Vereinigungen; verselbstständigte Verwaltungsträger; Quasi Nongovernmental Organizations (Quango); Nongovernmental Organizations (NGO); Nonprofit-Unternehmen; selbstständige Oberbehörden; Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts; privatrechtliche Formen öffentlicher Aufgabenerledigung. Und dies ist keine abschließende Auflistung.

Ohne den Definitionsvorschlägen der Autorinnen und Autoren dieses Heftes vorzugreifen, trägt es zu einer vorläufigen Sondierung des Feldes bei, diese weite empirische Auffächerung auf ihre historischen Wurzeln hin zu betrachten und dabei eine Unterscheidung zwischen gewachsenen und gewollten Organisationen zu treffen. Die gewachsenen Organisationen sind sowohl aus den freien Assoziationen der Arbeiterbewegung als auch aus den ständischen Gilden und Zünften hervorgegangen. Die meisten der heute vielfältigen Rechtsformen im Dritten Sektor entstanden aus diesen gewachsenen Organisationen. Viele von ihnen wurden von staatlicher Seite inkorporiert und entsprechenden Zielen angepasst. So wurden viele der gewachsenen, freien Assoziation und der ständischen Organisationen zu gewollten Organisationen, zu Korporationen in unserem heutigen politikwissenschaftlichen Verständnis. Trotzdem würde die Behauptung, diese hätten sich ausschließlich staatlichen Zwecken unterzuordnen, zu weit gehen. Die innerhalb einer Gesellschaft angestrebten Ziele sind zahlreich und gehen nicht bruchlos in staatlichen Zweckprogrammen auf. Dies spiegelt die Diskussion um den Dritten Sektor wider, zu dem sowohl die gewachsenen als auch die gewollten Organisationen gehören. Wir finden am einen Ende Rechtsformen, deren Schwerpunkt auf den Traditionen des Genossenschaftswesens liegt. Und "Genossenschaft" beruht auf der Selbsthilfe, der Selbstverwaltung, der Selbstverantwortung Gleichberechtigter, die sich in der Regel freiwillig zusammengeschlossen haben, um Leistungen zu erzielen, die in der Vereinzelung nicht erreicht werden können. In diesem Wortgebrauch leben neben den heutigen staatsemanzipativen Konnotationen auch frühbürgerliche Gesellschaftstheorien fort, wonach Gesellschaft durch den Zusammenschluss von Individuen aus einem vorgesellschaftlichen, nicht assoziierten Zustand hervorgegangen ist. Solchen Assoziationen gehört man als Mitglied an; man ist ihnen nicht unterworfen. Zweifellos sind solche staatsfernen Organisationen Teil des Dritten Sektors. Am anderen Ende dagegen finden wir solche, die ihre staatliche Gebundenheit nicht verleugnen können, da sie ihren Bestand durch die subsidiäre Übernahme staatlicher Aufgaben sicherstellen müssen. Diese Organisationen machen in Deutschland weiterhin den Löwenanteil aus und erfüllen ihre ausgleichende Rolle zwischen Markt und Staat mit Hilfe staatlicher Alimentierungen. Zwischen diesen so weit auseinanderliegenden Feldern pendelt die Diskussion - doch der Begriff des "Dritten Sektors" meint sie alle. Und da es zudem nicht mehr möglich ist, bei dieser Diskussion vor nationalstaatlichen Grenzen halt zu machen, müssen die länderspezifischen Unterschiede ebenfalls mit berücksichtigt werden. Dies erschwert die Sicht zusätzlich.

Die Redaktion der WIDERSPRÜCHE hofft, mit ihren Schwerpunktheft zum "Dritten Sektor" zur Klärung der Frage beitragen zu können, ob sich hinter dieser Debatte lediglich eine Erstarkung konservativer Selbsthilfe-Ideologien verbirgt, die die Apparate unbehelligt lässt und auf ein kostengünstiges "Ermuntern" der Problembetroffenen setzt, oder ob sich hier womöglich eine Öffnung auch der staatsnahen Organisationen weg von anstaltsartiger Ausgrenzung hin zu einer Veröffentlichung von Bedürfnissen und Konflikten andeutet, die es zu stärken und zu ermutigen gilt.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Rudolph Bauer beginnt mit einem Überblicksbeitrag zur Dritter-Sektor-Forschung in Europa. In allen Ländern der westlichen Welt verdankt sich das besondere Interesse am Dritten Sektor der Tatsache, dass nichtstaatliche und nicht-profitwirtschaftliche Organisationen in zunehmendem Maße zur Verteilung wohlfahrtsstaatlicher Dienstleistungen herangezogen werden sollen. Dabei wird jedoch meist die Frage vernachlässigt, welche spezifische und historisch gewachsene Wohlfahrtskultur ein Land aufweist, welchem besonderen Typ von "Wohlfahrtsregime" es also zugerechnet werden muss. Bauers Forschungen widmen sich der Klärung dieser Frage, da es zu vermeiden gilt, dass vom Dritten Sektor pauschal Leistungen erwartet werden, die er angesichts der jeweiligen länderspezifischen Rahmenbedingungen nicht immer erbringen kann.

Michael Lindenberg beschreibt die unterschiedlichen Auffassungen über den Dritten Sektor als Korrelate unterschiedlicher Bewertungen der Rolle des Staates in der jeweiligen gesellschaftlichen Konstellation und formuliert als Problem, dass die zu enge Koppelung der Betrachtung der (gewünschten) Struktur und Funktion des Dritten Sektors an staatlicherseits gegebene Rahmenbedingungen dazu führen kann, dass "Fortschritt" nur noch in der Aufgabe, den funktionalen Dilettantismus der neokorporatistischen Arrangements zu einem zunehmend privatwirtschaftlichen verfassten funktionalen Professionalismus weiterzuentwickeln, gesehen wird. Der Gefahr, dem Dritten Sektor angesichts des sukzessiven staatlichen Rückzugs aus der Gewährleistung sozialer Sicherheit weiterhin und immer noch lediglich die Rolle der bloßen Verteilung staatlicher Ressourcen, wenn auch nun unter erschwerten Bedingungen, zuzuweisen, muss durch eine differenzierte Theoriebildung begegnet werden.

Frank Düchting zeigt, wie aus dem Deutschland der Vereine das modernere Land der Dritter-Sektor-Organisationen geworden zu sein scheint. Aktuelle Forschungsergebnisse des Johns-Hopkins-Instituts, welche er vorstellt, lassen hingegen den Schluss zu, dass in Deutschland die alte Vereins- und Verbandsstruktur bislang noch nicht wesentlich aufgebrochen wurde. Und noch ein Weiteres ist bis auf Weiteres nicht überwunden: Die Diskussion um Arbeit wird trotz des allerorten postulierten "Verschwindens der Arbeit" immer noch an das Produktivitätsethos geknüpft. Damit ist das Denken in den eingespurten Bahnen einer lohnarbeitszentrierten Arbeitsgesellschaft und innerhalb der traditionellen Geschlechterhierarchie nicht verlassen.

Gisela Notz knüpft in ihrem Beitrag an letzteren Kritikpunkt an und stellt fest, dass die derzeitige Diskussion um den Dritten Sektor die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung nicht überwindet. Die Machtfrage zwischen den Geschlechtern bleibt ungestellt. Nicht nur der Dritte Sektor, sondern auch das bürgerschaftliche Engagement, das Volunteering und die Stärkung des Gemeinsinns sind Erfindungen, die nur scheinbar vom Muff und Staub des alten karitativen Ehrenamtes befreit sind. Ganz im Gegenteil stilisieren diese Erfindungen die geschlechtshierarchische Ungleichheit häufig zur wünschenswerten Utopie. Lediglich selbstverwaltete Betriebe und genossenschaftliche und kommunitäre Arbeits- und Lebensformen, so Notz' Schlussfolgerung, vermögen dies zu überwinden.

Karl Birkhölzer thematisiert gerade diese Arbeits- und Lebensformen als die wirklich wünschenswerten und vor allem als die bereits heute machbaren Utopien, die die eingeschränkte Staatszentriertheit der Dritter-Sektor-Diskussion und -Praxis überwinden können. Wie alle AutorInnen zeigt auch er, dass der "Dritte Sektor" zunächst bloß der Versuch der Antwort auf eine Krise ist. In Abgrenzung davon führt er den Begriff des "Dritten Systems" ein. Das Dritte System ist ein System der Akteure selbst und gewährleistet als solches Güter und Dienstleistungen zur Versorgung ansonsten unversorgter Bedürfnisse. Darüber hinaus ist es selbstorganisiert; es ist gemeinschaftlich bzw. kollektiv verankert; es ist Not-for-profit. Diese Sicht unterscheidet sich grundlegend von der von allen Autoren kritisierten Perspektive des Johns-Hopkins-Projekts, das auf einer ausschließlich institutionellen Definition aufbaut und daher die emanzipatorische Kraft des eigenständigen Bereichs neben Markt und Staat nicht zum Thema machen kann.

Die Redaktion