Das Kommune
Editorial
Jenseits von Staat und Recht, von Markt und Geld, von Familie und Vertrauen zeichnet sich zunehmend ein vierter Bereich gesellschaftlicher Regulation ab, der bislang unterschiedlich benannt wird, weil noch nicht klar ist, wohin er sich entwickeln wird. Gemeinsam ist den Netzwerken, Gemeingütern, Commons oder - mit der alten Bezeichnung - Almende(n), dass es um eine neue Art gemeinschaftlicher und/oder gesellschaftlicher Verfügung über nicht-individuelle Ressourcen geht.
In unserer Zeitschrift findet sich der Begriff Commons zum ersten Mal in dem Interview mit Annette Schlemm und Christian Siefkes in Heft 124 (2012) zu den Spannungsfeldern in der Praxis aktueller Commons-Netzwerke, insbesondere am Beispiel freier Software. Christian Siefkes hebt dabei deren "doppelte Funktionalität" hervor:
"einerseits muss die Keimform (des Neuen - Red.) im Rahmen der alten Logik funktional sein, um sich überhaupt so weit verbreiten zu können, dass sie dem Alten irgendwann gefährlich werden kann. Andererseits muss sie im Kern ihrer eigenen Logik mit der alten Logik unvereinbar sein, so dass das Alte sie sich nicht einfach komplett einverleiben kann" (2012: 28f.).
Eine zweite grundlegende Perspektive formuliert Annette Schlemm: "Insoweit Eigentum als identisch betrachtet wird mit dem Ausschluss der Menschen von den von ihnen selbst produzierten Gütern und Mitteln, bedeuten Commons und Peer-Produktion die Abschaffung dieses Eigentums" (2012: 29).
Wenn wir allerdings davon ausgehen, wofür Commons der Sache nach stehen, so ringen wir seit Gründung dieser Zeitschrift um die Frage, wie jenseits aller dogmatischen Revolutionsfantasien und jenseits des TINA-Prinzips, der Alternativlosigkeit, grundlegende Transformationsprozesse hervorgebracht und unterstützt werden können. Schon im ersten Heft ging es in dem für die spätere Diskussion richtungsweisenden Artikel von Niko Diemer und Wolfgang Völker unter dem Titel "Im freien Flug übers Handgemenge?" um die Frage der Veränderung von Kräfteverhältnissen in Richtung von Alternativen im Hier-und-jetzt:
"Die Vergesellschaftung der Reproduktion, gerade als kapitalistische, enthält notwendig dies Sprengmoment, das die Reproduktion in ein Kampfterritorium von struktureller Macht, von Gegenbewegungen und Kräfteverhältnissen verwandelt. Ein Kampffeld, auf dem die Frage nach dem sozialen Inhalt der Reproduktion und damit ein möglicher Bruch mit den objektiviert-herrschaftlichen Beziehungen, Bedürfnissen und Identitäten, gespeist aus den immanenten Brüchen, ansteht. ....
'Alternative Hegemonie' kann aber nicht bloßer Austausch von Werten bedeuten, sondern muß die Umwälzung der Bedürfnisbasis, von Sozialisation und Beziehungen gegen den 'stummen Zwang der Verhältnisse' voraussetzen und durchsetzen...
Doch ist die Durchsetzung dieser 'alternativen Hegemonie' nur im Zusammenhang mit einer gesellschaftlichen Bewegung denkbar, die im Produktionsbereich die Logik der kapitalistischen Arbeit umwälzt. Nur mit einer Bewegung, die im (Gewalt)Zentrum der kapitalistischen Vergesellschaftungsform aus Kämpfen gegen kapitalistische Rationalisierung und Intensivierung der Arbeit eine bedürfnisbestimmte, selbstbestimmte Vergesellschaftung der Arbeit hervortreibt, ist ein Kräfteverhältnis mit nötiger sozialer Breite und bedürfnis-radikaler 'Tiefe' vorstellbar" (1981:89f.).
Hier sind so gut wie alle Elemente angesprochen, die die Diskussion bis heute prägen. So ist es heute unstrittig, dass eine grundlegende Transformation alle gesellschaftlichen Bereiche und alle Formen von Tätigkeiten erfassen muss, auch wenn es hier notwendigerweise zu (durchaus produktiven) Ungleichzeitigkeiten kommen kann und tatsächlich kommt, wie nicht zuletzt die Care-Debatte zeigt (vergleiche das Schwerpunktthema in Heft 134, 2014). Im Laufe der Zeit konkretisierten wir zumindest analytisch, was es bedeutet, sich an "Gebrauchswertsorientierung und demokratischer kollektiver Kontrolle" im Reproduktionsbereich zu orientieren, die "die reale Verfügungsgewalt über die Problemdefinition und über die Mittel ihrer Durchsetzung" bei den Betroffenen verortet (AKS Hamburg 1983: 69f.). In den Thesenpapieren zur Herausarbeitung einer Politik des Sozialen als einer Alternative zur hegemonialen Sozialpolitik (Widersprüche-Redaktion: "Verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich!" 1984) forderten wir
- "soziale Garantien gegen die Spaltungen der Gesellschaft,
- eine Produzenten-Sozialpolitik gegen die Hilfe-Herrschaftslogik sowie
- gegen die sozialstaatliche Hegemonie eine "selbstbestimmte Vergesellschaftung im Sozialstaat" (131 f.).
Ob ein bedingungsloses Grundeinkommen derartige soziale Garantien gegen die Rutschbahn in die Armut sein könne, diskutierten wir ebenso intensiv und auch kontrovers (Widersprüche-Redaktion 1989) wie den Ansatz, Sozialpolitik als Infrastrukturpolitik zu verstehen (Widersprüche-Redaktion 1997; 2005). Mitten in der Diskussion stehen wir bei der Frage, welche Bedeutung die Care-Debatte in einer Politik des Sozialen spielt (Schwerpunktthema in Heft 134, 2014).
Wenn in diesem Heft Ansätze zu einer kritischen Analyse der Begrifflichkeit von Commons, Gemeingütern usw. damit verbunden werden, welche Aspekte, Fragestellungen und Tendenzen in dieser Auseinandersetzung die bisherigen Fäden einer Politik des Sozialen aufnehmen und mit neuen Aspekten weiterführen, dann hoffen wir, dass mit dieser Diskussion das unterstützt wird, was Joachim Hirsch "radikalen Reformismus" und Frigga Haug (mit Bezug auf Rosa Luxemburg) "revolutionäre Realpolitik" genannt haben.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Wenn mit den Commons Widersprüche, Konflikte und ungelöste Fragen gesellschaftlicher Transformation verbunden sind, ist die Gefahr nicht weit, dass dieser Begriff zu einer Mode werden könnte, die bald enttäuscht zur Seite gelegt wird. Thomas Gehrig sieht diese Gefahr und verweist auf die mit den Commons verbundenen vielfältigen Zuschreibungen und widersprüchlichen Positionierungen zwischen Marktliberalismus und unterschiedlichen Utopien. Neben grundsätzlichen, kritischen Fragen an das gesamte Konzept von Commons arbeitet er die verschiedenen mit diesem Begriff verbundenen Hoffnungen heraus: liberale, sozialdemokratische, utopisch-sozialistische Optionen thematisiert er ebenso wie die Gefahr einer "grünen" Romantisierung. Von der Sozialen Arbeit fordert er abschließend, den Horizont bürgerlicher Wissenschaft zu durchbrechen und in Richtung "einer selbstbestimmten Aneignung von Gesellschaft zu denken" (23).
Diesen Faden nehmen Johannes Euler und Florian Muhl mit der Frage nach dem "Gemeinen" in der Sozialen Arbeit auf. Nach einer kurzen historischen und theoretischen Begriffsbestimmung erörtern sie die grundlegende Frage, inwieweit Commons als Keimform einer nicht warenförmigen Gesellschaft begründet werden können und welche Perspektiven denkbar sind. Dabei werden zwei Optionen deutlich: Zum einen braucht es engagierte Menschen, denn "etwas wird erst zu einem Commons, wenn sich Menschen auf eine bestimmte Art auf etwas beziehen" (30), ein Common ist also ein gesellschaftliches Verhältnis, zum anderen braucht es eine gewaltfreie Machtstruktur, einen "Polyzentrismus". Wie beide Aspekte zu Elementen einer kritischen Sozialen Arbeit werden können, z.B. in Form von Assoziationen, Vereinen oder sich selbst regulierenden Sozialitäten, schließen die Überlegungen ab.
Den so gerahmten Zusammenhang konkretisiert Joscha Metzger am Beispiel der neoliberalen Umformung der Stadt: "Vom sozialen Wohnungsbau zu Recht auf Stadt und Urban Commons". Ausgehend von der fordistischen Formierung auf kultureller, sozialer und ökonomischer Ebene (Wohnungszuschnitt auf die bürgerliche Kleinfamilie, soziale Segregation in Großwohnanlagen, paternalistische Zuweisungen) nimmt er die Kritik Lefebvres auf und arbeitet das neue politisch-ökonomische Regime heraus, das auf Fragmentierung, Verdichtung, zivilgesellschaftlichen Aushandlungen zwischen staatlichen und privaten Regulierungen sowie einer durchaus ambivalenten Aktivierung der BewohnerInnen basiert. Vor diesem Hintergrund insistiert die Recht-auf-Stadt-Bewegung darauf, die Gebrauchswerte einer lebenswerten Stadt in den Vordergrund zu stellen. Inwieweit dabei Urbane Commons eine emanzipative Rolle spielen, erörtert Joscha Metzger abschließend ebenso wie darüber hinaus weisende Formen von Selbstregulation.
Selbstregulation in Form von selbst gewählten, gemeinschaftlichen Wohnformen im Alter ist das soziale Feld, das Patrick Delaney daraufhin befragt, in wieweit hier tatsächlich Commons als durch die Akteure selbst gestaltetes, nicht warenförmiges gesellschaftliches Verhältnis entstehen oder ob sich hier eine hegemoniale "Aktivierung" hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzt. Ausgehend von neoliberaler Gouvernmentalität prüft der Autor Kriterien für Commons zwischen den Regulationen von Staat und Markt. Deren Bedeutung rekonstruiert er an Wohnkonzepten für die "neuen Alten" in einer Diskursanalyse, die auf Ratgebern, Projektbeschreibungen und Publikationen zum Wohnen im Alter basiert. Darin wird ein Widerspruch zwischen den kooperativen Praxen der Commons und den politischen Rationalitäten des Neoliberalismus deutlich, dessen Aufhebung sowohl von unterstützenden institutionellen Rahmenbedingungen als auch von einer kooperativen Praxis der beteiligten Gruppen abhängt.
Gerade weil Übereinstimmung darin besteht, dass Commons sich in erster Linie dadurch realisieren, das Commoner regelhafte Praxen ("Commoning") entwickeln, die sowohl politisch eingreifend als auch Gebrauchswert-orientiert sind, stellt sich die Frage, wer die sozialen Träger und die Protagonist_innen sind, wenn es darum geht, in neuen gesellschaftlichen Feldern nicht nur über Commons nachzudenken, sondern Ansätze zu ihrer Politisierung mit der Perspektive ihrer Realisierung zu finden. Einen Vorschlag dazu entwickelt Timm Kunstreich. Mit Bezug auf die historischen Erfahrungen, dass Revolten und grundsätzliche Opposition immer dann entstanden sind, wenn bislang gültige Kollektivrechte gebrochen oder verweigert wurden, entwickelte Kunstreich die Idee, Commons als Sozialgenossenschaften zu konzipieren, deren Genossenschaftsanteile von staatlichen Geldgebern zwar finanziert werden, über die die Genossenschaften aber selbstständig verfügen können. Diesen Übergang von individueller Berechtigung bzw. individueller Nachfragemacht zu kollektiver Teilhabemacht konkretisiert er an den Beispielen aus der Sozialen Arbeit.
Die Redaktion