bildung perdu
Editorial
Die theoretische Kontroverse, die auf die Kategorien "Bildung" und "Qualifikation" zurückgreift, ist alt. Stand die Diskussion in den 70er Jahren im Zeichen des industriesoziologischen Paradigmas und hat das Konzept der "Schlüsselqualifikation" den Diskurs der 80er Jahre geprägt, ist es heute der 'Standort Deutschland', der die Praxis und Theoriebildung beherrscht. Der Blick auf den aktuellen Diskurs, namentlich im Bereich der Beruflichen Bildung, läßt eine Entwicklung erkennen, die im Kern von zwei Phänomenen gekennzeichnet ist - einer begrifflichen Indifferenz resp. Beliebigkeit einerseits sowie einer theoretischen und praktischen Enteignung subjektbezogener Erkenntnisse und Begründungszusammenhänge andererseits.
Die derzeitige Kontroverse ist nicht mehr eingebunden in einen theoretischen Diskurs, der nach den Möglichkeiten und Grenzen pädagogischen Handels fragt, bestimmend ist vielmehr ein kalkulierender Pragmatismus, der sich am Tagesbedarf' und an der betriebswirtschaftlichen Logik orientiert. Die Zukunft spielt insofern eine Rolle, als sie in immer wieder neuen Szenarien die Folie dafür abgibt, vorhandene, im nationalen Diskurs entwickelte bildungspolitische Standards und bewährte Traditionen mit dem Etikett 'dysfunktional', 'nicht vergleichbar mit internationalen Modellen', 'zu teuer' resp. 'nicht kostenneutral' usf. zu belegen. Derart gerät das deutsche Bildungssystem unter degregulative Kuratel.
Die systemische Rationalisierung als globale Strategie prägt, wie im einzelen auch immer ausgeformt, den (bildungs-)politischen Diskurs und das Verhältnis von Produktion und Reproduktion. Die Verteilung von "Arbeit" sowie der Zugang zur Ressource "Bildung" stehen unter der Bedingung des nunmehr grenzenlos agierenden Kapitals, das sich als "einzig überzeugende Realitätsmacht" präsentiert, zur Disposition. Das deutsche Bildungssystem, traditionell vom Dualismus zwischen Allgemeiner und Beruflicher Bildung geprägt, gerät vor diesem Hintergrund immer tiefer in die Krise. In den Bereichen, in denen die soziale und berufliche Statusdistribuierung eine weniger bedeutende Rolle spielt - im Sektor der Beruflichen Bildung -, bestimmt nicht nur ein ordnungspolitischer Absentismus die bildungspolitische Realität der Bundesrepublik Deutschland, auch die "regulative Idee" der "Bildung", die jedwede Form und Legitimation von Utilitarismus abwehrt resp. ein Korrektiv darstellt, scheint endgültig perdu.
"Bildung zwischen Staat und Markt" erfordert einen gesellschaftlichen Diskurs, der die vielfältigen praktischen und theoretischen Erfahrungen bündelt zu einer Idee von der "Ökonomie des ganzes Hauses" (Negt). Ohne einen Begriff davon, was "Bildung" jenseits von Education, Qualifikation und Training im 21. Jahrhundert zur Transformation der 'Weltgesellschaft' zu leisten hat und ohne eine neue, zweite Bildungsoffensive, wird das (deutsche) Bildungs- und Weiterbildungssystem zu einer Agentur der Qualifikationsvermittlung und Anpassungsfortbildung.
Zu den Artikeln im einzelnen
Aus unterschiedlichen Perspektiven wird in dem vorliegenden Heft die Problematik dieser Transformation, vornehmlich im Horizont der Beruflichen Bildung, reflektiert. Theoretische Beiträge, historisch-systematische Analysen und Trendberichte bilden den Rahmen für den Schwerpunkt, der im kritischen Diskurs nach bildungspolitischen Perspektiven und dem, was es zu verteidigen gilt, Ausschau hält. Der Beitrag von Heinz Sünker unternimmt den Versuch, unter Rückgriff auf reproduktionstheoretische und bewußtseinsphilosphische Ansätze die Kategorie "Arbeit" für eine theoretische "Konzeptualisierung von Gesellschaft" zu revitalisieren, um damit zum einen deren Beitrag zur Konstitution von Subjektivität und Zivilisation, zum anderen den Diskurs zur politischen Theorie des Kapitalismus in der Absicht zu beleben, eine aktive Gesellschaftspolitik zu generieren. Zu diesem Zweck werden die gesellschafts- und bildungstheoretischen Studien von Lefebvre und Heydorn mit neueren industriesoziologischen Ansätzen konfrontiert. An die Adresse von Bildungsphilosophie, Sozialwissenschaft und Industriesoziologie gewandt, gelangt Heinz Sünker zu dem Fazit, daß ohne "Bewußtseinsbildung" - ohne "Wissen und Erfahrung" der "Kampf gegen die vorherrschenden Bedingungen" nicht glücken kann.
In einem ideologiekritischen Zugriff fragt Karin Büchter, die "Weiterbildungseuphorie" der letzten zehn Jahre in den Blick nehmend, nach den propagandistischen Effekten und symbolischen Komponenten der Bonner Weiterbildungspolitik. Die Positionen der offenen und heimlichen Apologeten der "Qualifizierungsoffensive" werden ebenso dargestellt und kritisiert, wie der Beitrag der Betrieblichen Weiterbildung zur "Vergemeinschaftung im Innern" und zur "Remythisierung" von Herrschaftsverhältnissen einer Analyse unterzogen wird. Wider einen "falschen Optimismus", der sich von vagen (berufs-)pädagogischen Konzepten und einem zweifelhaften Subjektbegriff leiten läßt, klagt Karin Büchter kritische Auseinandersetzungen mit dem instrumenteilen und symbolischen Charakter der "Weiterbildungspropaganda" ein.
Zu dem nüchternen Befund, daß die Integration von Beruflicher, Allgemeiner und Politischer Bildung "weiter auf sich warten" läßt, gelangt Klaus Ahlheim nach der Auswertung der jüngeren erwachsenenpädagogischen Literatur. Die Hoffnungen, so die Analyse, daß die institutionalisierte Betriebliche Weiterbildung dem Anspruch Beruflicher Bildung, berufliche Handlungsfähigkeit ebenso wie "Mündigkeit" und "Persönlichkeitsbildung" zu vermitteln, in der Praxis der 90er Jahre gerecht wird, haben sich weitgehend zerschlagen. Wenngleich der Subjektivierung der "Qualifikation" das Wort geredet wird und das Konzept der "Schlüsselqualifikation" eine bildungstheoretische Anleihe vornimmt, sind die Widersprüche zwischen Qualifizierung und Bildung keineswegs aufgehoben. Vielmehr, betont Klaus Ahlheim, stehen die "Forderungen eines offensiven Ausbaus der politischen und kulturellen Weiterbildung" quer zur Politik der Modernisierung des 'Standortes Deutschland'.
Die Tatsache, daß der seit Beginn der 90er Jahre geführte Diskurs über die "Krise des Dualen Systems" das Phänomen "Jugendliche ohne Ausbildung" systematisch ausblendet, wird von Friedhelm Schütte zum Anlaß genommen, den quantitativen und qualitativen Horizont des bildungspolitischen Problems zu analysieren. Die von der Jugendarbeitslosigkeits-Debatte der späten 70er Jahre hin zu einem Benachteiligten-Diskurs gewandelte Forschung und Kommentierung reflektiert die einschlägigen Programme nicht mehr im Kontext einer breit angelegten und systematischen Beruflichen Grundbildung und des "Berufskonzepts". Vielmehr orientiert sich die Maßnahmenpolitik zur "Integration der Schwachen", folgt man dem Autor, zusehends an den individuellen Benachteiligungen und dem didaktisch Machbaren. "Theoriegeminderte Berufe" werden deshalb in jüngster Zeit ebenso ins Gespräch gebracht wie auf einzelne "Module" reduzierte berufliche Bildungsgänge. Die Verteidigung des bisher erreichten Standards Beruflicher Bildung, von dem alle Jugendlichen profitieren sollten, gerät damit zur zentralen Forderung des Beitrags.
Einen Einblick in den Transformationsprozeß gewerkschaftlicher Bildungsarbeit vermittelt Christoph Weischer mit der Darstellung einer Typologie aktueller Seminarkonzepte in der Grundlagenbildung der IG Metall. Unter Rückgriff auf die Ideengeschichte und Praxis der gewerkschaftlichen politischen Bildung seit den 1960er Jahren werden, in idealtypischer Absicht, drei, in den grundbildenden Seminaren miteinander konkurrierende Modelle dargestellt. Die im gewerkschaftstheoretischen Diskurs als Alternative auftretenden Konzepte "Gegenmacht" und "Mitgestaltung" finden in der didaktischen Theoriebildung insofern eine Entsprechung, als die Lehr-Lernziel-Matrix zwar eine Differenzierung zwischen "Subjekt- und Themenorientierung" zu erkennen gibt. Die Frage von (politischer) "Qualifikation" und "Bildung" steht dabei jedoch, folgt man dem Autor, nur theoretisch zur Disposition. Für die Seminarpraxis hat sie, pragmatischen Imperativen folgend, keine Relevanz.
Die Redaktion