Armut

Editorial

Ein Rückblick auf die achtziger Jahre unter sozialpolitischem Blickwinkel zeigt, daß dieses Jahrzehnt geprägt war von der Debatte über die "Krise des Sozialstaats". In der Endphase der sozialliberalen Koalition begann der forcierte Abbau sozialstaatlicher Leistungen und es begann die Diskussion um die "Zukunft des Sozialstaats". Von Abbau, Kahlschlag, Senkung der Staatsquote, neokonservativem und grün-alternativem "Umbau" war die Rede. Dies war kein typisch deutsches Phänomen, sondern vollzog sich in fast allen führenden kapitalistischen Industrieländern: Reaganomics in den USA, Thatcherismus in Großbritannien. Diese Schlagwörter kennzeichnen gesellschaftliche und politische Projekte, die den Bruch mit sozialdemokratischen, keynesianischen, "wohlfahrtsstaatlichen" Regulationsweisen signalisieren.

Gesellschaftlich standen die Zeichen auf Massenarbeitslosigkeit und technologischer Innovation, zur Krise sozialstaatlich-keynesianischer Regulierung gesellte sich die "Krise der Arbeitsgesellschaft".

Massenarbeitslosigkeit wurde dabei als Ausdruck einer Entwicklung thematisiert, die der entwickelten kapitalistischen Industriegesellschaft die (bezahlte) Arbeit ausgehen läßt; lebenslange (männliche) Lohnarbeit wurde als Ziel der Lebensgestaltung für die Subjekte als "fraglich" bezeichnet. Und das nicht nur in dem Sinne, daß es keine Vollbeschäftigung mehr geben könne, sondern auch als gesellschaftspolitische und individuelle Norm (vgl. dazu den Text von Richard Albrecht in diesem Heft).

Wieviel an Ideologie und Mittelschichtprojektion (an unzulässiger Verallgemeinerung von Erfahrungen und Wünschen flexibilisierter Akademikerinnen) in diesem Diskurs auch angelegt gewesen sein mag: Fakt war, daß in der sozialstaatlichen Regulation das Gegenteil solcher Trends dominant war. Erwerbsarbeit war immer noch ihr zentraler Dreh- und Angelpunkt. Die Hierarchien der Lohnarbeit reproduzierten sich in den Hierarchien sozialer Absicherung. Wer unstet, wenig oder gar keine Erwerbsarbeit nachweisen konnte, für den bzw. eher für die bestand im Falle des "sozialen Unglücks" ein Armutsrisiko. Hierin liegt auch der sozialpolitische Anteil an der Entstehung der "Neuen Armut", war mit ihr doch vorwiegend die Armut gemeint, in die Menschen ausgegrenzt werden, wenn das individuelle "Aus" für Lohnarbeit (Erwerbslosigkeit, Alter, Krankheit, Geschlecht) sie auf die soziale Rutschbahn nach unten brachte: zum Sozialhilfebezug.

In der ersten Hälfte der achtziger Jahre waren Massenarbeitslosigkeit und Verarmung noch ein Hauptthema der öffentlichen Diskussion.

Die (Neo)Konservativen propagierten Entstaatlichung, Deregulierung und Sparkuren, um die berühmt-berüchtigten Selbstheilungskräfte des Marktes zur Entfaltung zu bringen. Was an staatlich-kollektiver Regulierung, an institutionalisierter, bürokratisierter Solidarität und an Leistungen abgebaut werden sollte bzw. wurde, sollte an den Privatbereich, vor allem die Familien, Frauen und subsidiären sozialen Netze zurückgegeben werden. Sozialstaatlicher Kitt für gesellschaftliche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten sollte ersetzt werden durch eine neue Kultur der gegenseitigen oder auch Selbst-Hilfe.

Materielle Armut, soziale Bedrohung und sozialer Abstieg wurden vor allem als Problem benachteiligter, organisationsschwacher Gruppen in einem korporatistischen Sozialsystem ("Gewerkschaftsstaat") thematisiert. Gleichzeitig wurde als Hauptthema des neokonservativem Diskurses die geistig-moralische Armut, die soziale Einsamkeit definiert, das heißt die "immateriellen Probleme" wurden in den Vordergrund gerückt. Logischerweise hieß das - getreu der ökonomischen Lehre der Neoliberalen - die Befürwortung niedriger Sozialleistungen, um den Arbeits-"Anreiz" bei Erwerbslosen und Armen aufrechtzuerhalten.

Gleichzeitig hieß das aber auch, bestimmte Formen der Nichterwerbsarbeit, Familienarbeit von Frauen, Selbsthilfe sozialstaatlich und ideologisch aufzuwerten (Erziehung, Pflege) und (geringe) materielle Gratifikationen zur Verfügung zu stellen.

Die Sozialdemokraten in der Opposition und die Gewerkschaften griffen in diesem Streit im Großen und Ganzen auf die alten Rezepte zurück, sprachen oder mobilisierten gegen den sozialen Kahlschlag, für Arbeitszeitverkürzung und Beschäftigungsprogramme, Qualifizierungsmaßnahmen und eine Sockelung der Lohnersatzleistungen. Im Wesentlichen hielten sie an der Koppelung von Lohnarbeit und sozialer (Versicherungs-) Leistung fest, auch wenn es bei ihnen Theoretikerinnen gab, die die Lohnarbeitszentriertheit der sozialen Sicherung und die Entwicklung zur "Zwei-Drittel-Gesellschaft" in einen kausalen Zusammenhang brachten.

Grün-Alternative, Linke, Betroffenenorganisationen und kritische Wissenschaftler forderten angesichts zunehmender Deklassierung und Ausgrenzung von Menschen den radikalen Bruch mit dem bisherigen sozialen Sicherungssystem. Von dieser Seite wurde die Diskussion um ein "Existenzgeld", "garantiertes Grundeinkommen", "Mindesteinkommen" oder "Grundsicherung" angestoßen. Grundidee war die Entkoppelung von Arbeit und Einkommen, die Tatsache, daß Armut nicht einfach durch "mehr Lohnarbeit" oder "Arbeit für alle" beseitigt werden kann, und die Idee einer existenziellen Absicherung als individuelles Recht. Ein garantiertes Einkommen sollte gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, sollte die bürokratisch-diskriminierende Armen- und Arbeitslosenverwaltung überwinden und Raum schaffen für soziale Experimente statt sozialer Angst.

In der Realgeschichte der weiteren achtziger Jahre war dann das neokonservative Projekt hegemonial erfolgreich. Den gesellschaftlichen Boden dieser Hegemonie gab eine boomende BRD-Wirtschaft ab bei einem gleichzeitig hohen Sockel an Massenarbeitslosigkeit und einer Zunahme der "bekämpften Armut", sprich der Sozialhilfeberechtigten, als auch zunehmend ungleicher Einkommensentwicklungen mit dem Ergebnis auch der Entstehung eines "Neuen Reichtums" (vgl. den Text von Walter Hanesch).

Kennzeichnend für die Entwicklung am Ende der achtziger Jahre war auch die zunehmende De-Thematisierung von Massenarbeitslosigkeit und Armut in der BRD, was zweifellos auch ein Erfolg des neokonservativen Modells auf vielen Ebenen war. Entthematisierung sozialer Konflikte heißt dabei keineswegs nur ihr politisches "Herunterspielen" und Bagatellisieren, sondern ist Ausdruck einer gesellschaftlichen "Normalisierung" von Massenarbeitslosigkeit und Ausgrenzung. Die Mehrheit der Gesellschaft hat sich an die Existenz von beidem gewöhnt und kann neben ihnen ganz gut leben. Denn trotz sozialer Spaltung konnte von Beschäftigungswunder und wirtschaftlichem Aufschwung geredet werden. Die Segmentierung des Arbeitsmarktes in gesicherte Kernbelegschaften und Randbelegschaften, Teilzeitarbeit und die regionalen ökonomischen Unterschiede tragen mit dazu bei, die sozialen Probleme zu Randproblemen zu machen.

Die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, der Wechsel zwischen Erwerbslosigkeit und Beschäftigung auf erstem wie zweitem Arbeitsmarkt lassen Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung als "natürliche", notwendige Momente ökonomischer Modernisierung erscheinen und damit zu einer grundlegenden politisch nicht weiter zur Disposition stehenden "Normalität" dieser Gesellschaft werden.

Auffällig dabei war, daß alle Befreiungsschritte und Veränderungen im Osten die Thematisierung "sozialen Sprengstoffs" - auch von Armut - "externalisierten": Arm sind immer die Anderen. Armut ist ein Problem des realsozialistischen Erbes, der "Kommandowirtschaft". Das funktioniert auf der politischen Ebene genauso wie auf der individuellen. Zum europäischen Armenhaus gehören, wenn schon Deutsche, dann die im Osten, aber "wirklich" arm, sind die osteuropäischen Länder.

Unterhalb dieser Auseinandersetzungen war es aber auch der alltägliche sozialstaatliche Gang, der Arbeitslosigkeit und Armut zu entthematisieren half. Die Deklassierung wird kleingearbeitet zu "Fällen" für das Sozialamt; bei Langzeitarbeitslosigkeit wird immer gleich von "Problemgruppen" gesprochen, womit Erwerbslosigkeit als individuelles, persönliches Merkmal erscheint. Die Schönung der statistischen Erfassung von Erwerbslosen ist also ein folgerichtiger Bestandteil der Dethematisierung.

Wenn Arbeitslose und Arme in der Öffentlichkeit politisch thematisiert werden, dann hauptsächlich als Kostenverursacher für öffentliche Haushalte und im Rahmen der Mißbrauchsdiskussion.

Zwar hat der Anschluß der ehemaligen DDR zur BRD die sozialen Konflikte um, Armut, ungleiche Einkommensverteilung wieder zur Sprache gebracht, doch wie dies geschieht, ist es selbst wieder eine Variante des politischen Spiels auf der Tastatur gesellschaftlicher Spaltung. Arbeitslosigkeit im Osten wird zur notwendigen "Übergangsarbeitslosigkeit" erklärt, denn die DDR-Wirtschaft war im Prinzip ja nur ein fauler Zauber zur Verdeckung der Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung bzw. von "zuviel Frauenerwerbstätigkeit" (s. Text von Gerhard Bäcker).

Grundvoraussetzung der meisten politischen Vorschläge, die sich dem "Sozialneid" stellen wollen, ist die These von den begrenzten Mitteln und Möglichkeiten. So wird dann eine Gruppe Unterprivilegierter gegen die andere ausgespielt: deutsche Arbeitslose gegen ausländische Arbeiterinnen, West-Arme gegen Ost-Arme, arbeitswillige Ostarbeitslose gegen arbeitsscheue Westarbeitslose, Asylbewerber gegen Aussiedler. Das moralische Erschrecken erscheint dann als groß, wenn im öffentlich-politischen Diskurs kreierte "Problemgruppen" sich plötzlich rassistischer Gewalt ausgesetzt sehen.

Es soll hier nicht der Vereinfachung Vorschub geleistet werden, als ließe sich Fremdenfeindlichkeit nur aus sozialer Unterprivilegierung und Verunsicherung erklären oder als habe die deutsche Fremdenfeindlichkeit ihre soziale Basis vor allem unter sozial Aus-gegrenzten. Richtig scheint dennoch zu sein, daß soziale Ängste, soziale Bedrohung eine nicht zu leugnende Rolle spielen in diesem Prozeß der Verrohung gesellschaftlichen Verhaltens bzw. für diesen instrumentalisiert werden können.

Könnte nicht der Haß auf ethnisch Fremde wie auf sozial Fremde so miterklärt werden aus dem Wunsch der Besitzstandsverteidigung - selbst wenn Besitzstand gar nicht real für einen existiert, sondern nur in der Projektion auf ein nationales Kollektiv?

Auf diesem Hintergrund wäre es besonders fatal, wenn Kritiker der neokonservativem Spaltungspolitik selbst noch die Melodie der Lohnarbeitszentriertheit sozialpolitischer Strategien mitspielen. Denn die Probleme des Reichtums gegenüber der Armut, soziale, regionale Ungleichheiten, völlig unterschiedliche Lebenschancen und entsprechende Migrationsbewegungen sind die gesellschaftlichen Fragen, die die neunziger Jahre bestimmen werden; und das in einer internationalen Stimmungslage, in der das Glück nur noch alternativlos in der einen kapitalistischen Marktwirtschaft zu liegen scheint und Projekte der Gerechtigkeit, sozialer Gleichheit und Solidarität nach wie vor mit den überwundenen autoritär-bürokratisch verstaatlichten "Fabrikgesellschaften" des realen Sozialismus in eins gesetzt werden oder ihnen zumindest eine Komplizenschaft unterstellt wird.

Der Prozeß der Dethematisierung und Neuformulierung von Massenarbeitslosigkeit, Armut und sozialer Ausgrenzung verlief aber nicht ohne kritische Gegenstimmen: Es gab eine relativ breit geführte Debatte um Grundsicherung und Mindesteinkommen. Die (fach)politische und kritisch wissenschaftliche Diskussion über Gegenstrategien zu Armut und Ausgrenzung war nicht stillgestellt. Es gab Armutsstudien und Armutsberichte vom DPWV und aus dem DGB-Umfeld (vgl. die Texte von K.A. Chassé und Walter Hanesch in diesem Heft).

Diese zeigen material- und kenntnisreich die Lebenslage der betroffenen Menschen, die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Mechanismen der Spaltung und Ausgrenzung. Doch ihre mahnende Stimme findet keinen angemessenen politischen Ausdruck. Weder die Gewerkschaften noch die Grünen, geschweige denn andere Parteien stellen gegenwärtig eine politische Kraft für ein Projekt der Solidarität dar. In den sozialpolitischen Fachkreisen ist die Notwendigkeit einer sozialen Grundsicherung als "Basisreform" des lohnarbeitszentrierten Systems sozialer Sicherung zwar unbestrittener Konsens, doch ihre konkreten Ausformulierungen bringen immer wieder grundlegende Konflikte zu Tage: das Geschlechterverhältnis bei der Frage der Unterhaltspflicht, das Verhältnis von Individualisierung sozialer Leistungsansprüche und subsidiären Einheiten, die Bedeutung von Erwerbsarbeit bei der Frage, ob Bezieher einer Grundsicherung verpflichtet sein müssen, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Die Grundsicherungsdebatte ist inzwischen weitgehend vom revolutionären Pathos der Anfangszeit befreit, das glaubte, über ein garantiertes Grundeinkommen könnte die Befreiung der Lohnarbeit gelingen.

Grundsicherung wird inzwischen realistischer betrachtet als Versuch, die Armutsgrenze neu zu definieren, d.h. nach oben zu verschieben. Es gibt auch Stimmen, die angesichts der politischen Macht-Realitäten vom "großen Wurf" abraten und vorschlagen, eher das BSHG zu reformieren, dabei die Bedeutung des individuellen Bedarfsprinzips zu würdigen und die armenpolizeilichen, diskriminierenden, strafenden und kontrollierenden Anteile des Gesetzes abzuschaffen. Daß die Diskussion um Grundsicherung dennoch politisch blockiert ist, hängt wesentlich mit dem Solidaritätsmangel dieser Gesellschaft zusammen, hängt mit der Schwierigkeit zusammen, mit der Grundsicherung den gesicherten Beschäftigten "Angebote" zu machen, die ihre eigenen Interessen an veränderten Arbeitsverhältnissen und Lebensrhythmen wecken könnten.

Der gewerkschaftliche Konservativismus und Rigorismus, mit dem in der Deregulierungsdiskussion an der Idee des (männlichen) Normalarbeitsverhältnisses festgehalten wird und lediglich dessen Schutzfunktion verteidigt wird, spielt hier ebenso eine Rolle wie die Tatsache, daß seitens der Gewerkschaften in ihrer praktischen Arbeit so gut wie nichts getan wird, die klassische Trennung von "Arbeiterpolitik" und "Armenpolitik" zu überwinden.

Aber auch unter den betroffenen ausgegrenzten Menschen scheint diese Idee nicht gerade eine mobilisierte Anhängerschaft zu besitzen. Trotz faktischer Entkoppelung von Arbeit und Einkommen, trotz aller Tendenzen zur Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses und der Normalbiographien als für die Subjekte verbindlichen Orientierungen läßt sich feststellen, daß "Normalarbeit" gerade für die noch einen hohen Stellenwert hat, die von der gesellschaftlichen Teilhabe über sie ausgeschlossen sind. Und wenn "Arbeit" (verstanden als Produktiv-Sein; als sich stofflich-konkret Abarbeiten an Objekten; als Besitz eines sozialen Zusammenhangs) einem Großteil von ihnen noch ein soziales Bedürfnis ist, dann reicht die Perspektive eines gesicherten Einkommens zur Zufriedenheit und als Ziel nicht aus. In den Diskussionen innerhalb von Betroffenengruppen und Sozialarbeitszirkeln wurde es jedenfalls zunehmend deutlich, daß Teilhabe über Arbeit und Teilhabe über Einkommen nicht als gegensätzliche Wege begriffen werden können.

Die bisher den betroffenen Menschen angedienten Wege der "Teilhabe" über den zweiten und dritten Arbeitsmarkt und mittels einfacher Beschäftigungsmaßnahmen, sind diskriminierend. Sie beinhalten die Gefahr, "Arbeit an sich" zum pädagogischmoralischen Prinzip zu machen. Sie beinhalten die Gefahr "Arbeit an sich" zum pädagogisch-moralischen Prinzip zu machen. Sie beinhalten die Gefahr, über die Kurzfristigkeit und mangelnde soziale Qualität der Maßnahmen die betroffenen Personen weiter zu destabilisieren und sie dauerhaft vom regulären Arbeitsmarkt und "Normalarbeit" fernzuhalten. Es liegt in der Logik des zweiten Arbeitsmarktes, das Prinzip der Sortierung von Menschen in Leistungsstarke und Leistungsschwache mitzumachen. Warum sollte also nicht mehr Energie darauf verwendet werden, subventionierte Arbeit für Ausgegrenzte in regulären Betrieben zu schaffen, statt Benachteiligtenarbeitsmärkte mit Ghettocharakter auszuweiten, auf denen ABM- und Paragraph-Neunzehner-Kolonnen damit beschäftigt werden, den ökologischen Unsinn der Gesellschaft zu reparieren (Müllrecycling) oder die Wohlstandsreste der Gesellschaft aufzuarbeiten (Altkleider). Zumindest ist absolut nicht einzusehen, weshalb diese eigentlich notwendigen Arbeiten über ABM etc. als "zusätzlich" (gleich nicht-normal) definiert und finanziert werden. Zweifellos gibt es auch sinnvolle Projekte und Arbeiten außerhalb des ersten Arbeitsmarktes. Diese müssen sich allerdings - wollen sie nicht der Logik der Ausgrenzung folgen - verschiedenen Anforderungen genügen: sie müssen den einzelnen eine dauerhafte Perspektive bieten; sie müssen den einzelnen Arbeitnehmerinnen sozial Unterstützung und Begleitung bieten und sie müssen so organisiert sein, daß sie in ihren Formen des Arbeitens und Lebens nicht wieder erneut "Verlierer" produzieren.

Zum Thema "Gegenstimmen" gehört auch die Frage danach, was denn aus den "Bewegungen" oder besser der Hoffnung auf Bewegungen gegen Arbeitslosigkeit, Armut und Ausgrenzung (vgl. den Text von A. Wacker in diesem Heft) geworden ist.

Klar gibt es immer noch die bundesweiten Arbeitsgruppen der Arbeitsloseninitiativen, die Initiativen der Sozialhilfeempfängerlnner haben einen Bundesverband gegründet und in der Ex-DDR wurde flugs ein Arbeitslosenverband gegründet. Doch der "Schwung ist raus", das läßt sich bundesweit beobachten. Die Vielzahl an aktiven Gruppen haben es nicht geschafft zu einer politisch bedeutsamen Bewegung zu werden. Innerhalb der Bewegungsreste wird das zum Teil auf die "Professionalisierung" und "Institutionalisierung" der Arbeit zurückgeführt. Das Argument ist allerdings wenig stichhaltig, unterstellt es doch den Aufschwung von Selbsttätigkeit und Selbstbewußtsein sobald die Profis weg sind. Selbst die zaghaften Ansätze politischer Bewegung in diesem Bereich hätten ohne die politisch verstandene Arbeit von Profis und Verbänden nicht gelingen können.

Würde man eine Realgeschichte der Arbeitslosen-"Bewegung" schreiben wollen, so müßte man konstatieren, daß viele der Erwerbslosen, die in den Initiativen und Zentren aktiv waren, andere Betätigungsfelder gefunden haben - sei es auf dem regulären Arbeitsmarkt, sei es in der alternativen Projektelandschaft. Viele Initiativen, Beratungsstellen, Zentren sehen sich in einer Situation, daß zu ihnen heute gerade die als "Dauergäste" kommen, die zu Langzeitarbeitslosen degradiert worden sind und zum Teil noch ein ganzes Paket an Beschädigungen mitbringen. Für politisch engagierte Profis zerplatzen damit oft die Hoffnungen auf (Selbst)organisation von Erwerbslosen und Sozialhilfeberechtigten. Vielleicht sind manche Profis auch nur gekränkt, daß sie von Betroffenen nur benutzt werden als soziale Dienstleistung. Denn warum sollte es für einen Sozialhilfeberechtigten kein vernünftiges Verhalten sein, in seiner Lebenslage die diversen Angebote zu nutzen, die ihn "bereichern": Beratung im Konfliktfall mit dem Amt (auch Selbstqualifikation), Gemütlichkeit und soziale Kontakte.

Freilich sind Arme nicht nur "Opfer". Sie sind tätige Subjekte, die eventuell auch Überlebensstrategien entwickeln; aber sie sind Subjekte in einer gesellschaftlich-sozialen Lage, in der sie ständig zum Objekt gemacht werden. Ihr Bedarf an Lebensmöglichkeiten wird ihnen verordnet. Solange nicht wesentliche soziale Gruppierungen aus dem Zentrum der Gesellschaft mit ihnen eine politische und praktische Solidarität entwickeln, bleibt ihnen nichts als der alltägliche Kampf, ein Sich-Durchschlagen, der Rückzug in die Depression und "Privatheit" oder...

Offenbach, im Dezember 1991