Annäherung an Europa

Editorial

In diesem Heft setzen wir die Auseinandersetzung mit Problemen des europäischen Einigungsprozesses fort, die sich im Heft 39 "Neue Mauern in Europa" auf soziale Politik in der EG konzentrierte.

"Annäherungen an Europa" versuchen wir auf verschiedenen Ebenen, in theoretischen Untersuchungen, mit Erfahrungsaustausch und gemeinsamen Veranstaltungen. Im September 1991 führte die Redaktion Widersprüche zusammen mit der "European Group for the Study of Deviance and Social Control" eine Tagung über "Soziale Gerechtigkeit und europäische Transformationen: Prozesse der Marginalisierung und der Partizipation - Veränderung der Sozialpolitik" durch. Die Artikel zum Schwerpunkt dieses Heftes basieren auf den Beiträgen zu dieser Konferenz. Nach einer ersten Zusammenarbeit zum Thema "Die Ausweitung europäischer Gefängnissysteme" (Heft 19 "Archipel Knast") haben die beiden Partner mit diesem Projekt erneut versucht, Kooperation auf europäischer Ebene praktisch zu erproben und weiterzuentwickeln. Ihre Organisationsformen sind recht verschieden, es gibt jedoch vergleichbare Wurzeln, ähnliche Träger- und Zielgruppen und vor allem das Bestreben, ohne gegenseitige Vereinnahmung gemeinsame Ziele zu verfolgen.

Wie kann Begegnung und Verständigung zwischen Menschen in einem grenzbefreiten Europa geschehen? Die Erfahrungen der "European Group" geben vielleicht einige Hinweise auf Möglichkeiten und Hindernisse im Prozeß gemeinsamer Problemlösungsversuche jenseits bürokratischer Harmonisierungsstrategien aus der Feder Brüsseler Spitzen. Was bringt Leute aus den verschiedenen Ecken Europas dazu, sich einmal im Jahr freiwillig zu treffen und das nun schon seit etwa zwanzig Jahren? Warum wollen sie, wie es heißt, Gedanken, Ideen und Erfahrungen austauschen? Wozu dieser Aufwand? Gilt es doch manchmal, recht weit zu reisen, Kosten zu tragen und immer wieder sich mit sprachlichen und Verständigungs-schwierigkeiten zu konfrontieren? Verlockt das übliche akademische Kongreßwesen? In der Tat finden Tagungen häufig in akademischen Einrichtungen statt und die Unsitte, ellenlange Referate mit fünfminütiger Diskussion zu quittieren, ist nicht immer gebannt worden. Aber es fehlte stets die Job-Börse für akademische Karrieren und es gab und gibt weitere Besonderheiten, durch die Zusammenkünfte der European Group von rein akademischen Veranstaltungen unterschieden sind.

Die Leute, die sich treffen, gehören überwiegend zu sozialwissenschaftlich ausgebildeten Berufsgruppen, die an Universitäten oder in sozialen Feldern arbeiten, einige eher als Forscher, Lehrer und Theoretiker, andere mehr als Praktiker und Aktivisten. Jedes Jahr veranstaltet die Gruppe eine Tagung mit einer breiten Palette vom Themen wie Strafvollzug und Gefangenenbewegung, psychiatrische und soziale Kontrolle, Polizeipraxis, Sozialpolitik, die hochgeschraubte Bedeutung sogenannter innerer Sicherheit in ganz Europa oder die zunehmende Staatskontrolle über Ausbildung und Forschung besonders in allen Bereichen sozialer Kontrolle.

Die vereinbarte Plattform für die Zusammenkünfte beruft sich auf "kritische" Wissenschaft und "kritische Selbsteinschätzung" ihrer Mitglieder sowie auf eine enge Kooperation zwischen Akademikern, Praktikern und sozialen Bewegungen, mit dem Ziel, diese zu unterstützten "in ihren Kämpfen gegen die Apathie und Handlungsunfähigkeit, die durch Gruppen-, Klassen-, ethnische, geschlechtsspezifische und nationale Grenzen entstanden ist".

Die Art und Weise, in der die versammelten Menschen aus so verschiedenen Ländern und Kulturen sich während der Konferenz verständigen, war selber ein lebendiges Beispiel für den Versuch, Grenzen zu überschreiten, teilzunehmen und teilzuhaben. Die Diskussionen in den Arbeitsgruppen waren getragen von aufmerksamen Versuchen, sich verständlich zu machen, zuzuhören, nachzufragen, sich auszutauschen, Englisch war erstes sprachliches Medium. Durch die Teilnehmerinnen aus den ostdeutschen und aus den osteuropäischen Ländern wurde in Potsdam offenbar, daß Englisch als bisherige Konferenzsprache nicht allgemeine Verständigungsgrundlage sein konnte. In teilweise mehrfachen Stufungen wurde ad hoc übersetzt, beispielsweise von Englisch in Deutsch, von Deutsch in Polnisch und umgekehrt. Es dauert auf diese Weise seine Zeit, bis wirklich jede/r jede/n verstanden hat. Aber wenn es soweit war, gab es jene Aha-Erlebnisse, die über das übliche Maß an Wortverständnis hinaus auch Problemkontexte aus dem jeweils anderen kulturellen Hintergrund einbegreifen. Das Andersartige wahrnehmen, die anderen und sich selbst befragen, Widersprüche offenlegen, nicht sofort urteilen, sich Zeit lassen, also sich Zeit nehmen und Zeit geben: erst ein solches Vorgehen ermöglicht die Auseinandersetzung, die Kontroverse und den mühseligen Einstieg in gemeinsame Lösungsstrategien.

Es wurde deutlich, wie intensiv solche Analysen, die nicht von oben und außen, sondern von den Menschen selbst in und aus ihrem Lebenszusammenhang vorgenommen werden, die Komplexität realer Verhältnisse, das Geflecht persönlicher, gruppenspezifischer und gesellschaftlicher Strukturen zu erfassen vermögen. Ein solches Vorgehen bringt aber mit sich, daß die Vermittlung von Forschungsergebnissen und Lösungsansätzen an andere Personen und in andere Kontexte viel schwieriger ist als der übliche Austausch "standardisierter" wissenschaftlicher Ergebnisse.

Diese Zielsetzungen und Herangehensweisen beeinflussen die Entscheidungen zum Konferenzthema und zur Organisation des Treffens. Sie manifestieren sich auch in der Regel, sich mit einem politisch aktuellen Problem sozialer Kontrolle im Gastland auseinanderzusetzen und zu diesem Zweck direkte Kontakte zu Personen und Gruppen aufzunehmen.

Der Konferenzort, Potsdam, Brandenburg, war mehr als nur die Lokalität einer Versammlung von neunzig Menschen aus fünfzehn verschiedenen Ländern. Potsdam war geografischer Verbindungsort zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd. Die sozialen Probleme vor Ort, dargestellt von lokalen und regionalen Initiativen, führten exemplarisch und sehr konkret in das thematische Zentrum: Marginalisierung, Partizipation und soziale Gerechtigkeit.

Im einleitenden Hauptreferat nähert sich Marie-Eleonore Karsten Europa an, indem sie die durch transeuropäische Migrationsprozesse von Arbeitskräften hergestellten sozialen Verhältnisse, vor allem die Geschlechterverhältnisse, ins Auge faßt. Die soziale Integration männlicher Arbeitskräfte scheint abgesichert und vorbereitet zu sein, wenn auch auf verschiedenen Niveaus. Für (Familien)Frauen wird dagegen verstärkt die Abhängigkeit vom (mobilen) Ehemann bestimmend, beginnt unter den Bedingungen der Migration ein neuerlicher Prozeß begrenzender Privatisierung. Die Kosten der Migration werden allemal von Familien-Menschen, also überwiegend von Ehefrauen und Müttern aufgebracht werden. Frauen werden künftig, so Karsten, zwischen den gleichermaßen unbefriedigenden Alternativen zu wählen haben, nämlich ehe- und familiengebunden = mobil und (partner)abhängig oder singularisiert = immobil und doppelbelastet zu leben.

Karl-Heinz Schöneburg, Mitglied des Rundes Tisches und der Verfassungskomission des Landes Brandenburg vermittelte vielen Teilnehmerinnen nicht nur die aufsehenerregenden Inhalte des Verfassungsentwurfs, sondern auch eine neue Sichtweise auf das Verhältnis von Verfassungsfrage und sozialen Grundrechten.

Die Verankerung sozialer Grundrechte, wie Recht auf Arbeit oder auf Wohnung, als einklagbare Rechte der Einzelnen würde, in die Tat umgesetzt, eine neue Dimension deutscher Verfassungswirklichkeit begründen. Das Tauziehen um die Verabschiedung des Entwurfs hält deswegen verständlicherweise weiterhin an. In diesen Debatten spielen ebenso die Bestimmungen über die Verankerung des politischen Mitwirkungsrechts von Basis- und Bürgerinitiativen eine große Rolle.

Nicht wenige Zuhörerinnen fanden es überraschend, die Verfassungsfrage in einem so unmittelbarer Nähe zur praktischen Politik wiederzufinden. War es nicht so, daß viele Leute, nicht zuletzt in der alten BRD, mit der Frage nach der Verfassung jenen Spruch von Ex-Innenminister Höcherl assoziierten, er, der Innenminster, der einer illegalen Telefonüberwachung überführt worden war, könne doch nicht immer mit dem Grundgesetz unterm Arm herumlaufen. Hatte nicht eine nachlässige Einschätzung der Bedeutung von Verfassung und Grundrechten bei den Linken jener herrschenden Interpretation unserer parlamentarischen Demokratie Vorschub geleistet, die allein den Parteien die Gestaltung der Politik überließ? Hätte nicht ein Blick in das Bonner Grundgesetz offengelegt, daß den Parteien lediglich eine Mit-Wirkung zusteht, eine Regelung, die konsequent gewendet, den seinerzeit starken Basisinitiativen eine andere politische Mitwirkungsweise garantiert hätte als den Sackgassenweg in die Partei der Grünen? Die entsprechenden Passagen des Brandenburgischen Verfassungsentwurfs geben da eine späte, aber hoffnungsweisende Richtung an.

Die versammelten Tagungsteilnehmerinnen gaben ihre Unterstützung der Intentionen des brandenburgischen Verfassungsentwurfs zu erkennen und richteten in einer Resolution ihren Appell auf baldige Verabschiedung des Entwufs an den Verfassungsausschuß in die Parteien des Landtags.

Ein ganzer Tag des Programms war in Potsdam dem Kontakt mit Vertretern lokaler und regionaler Initiativen gewidmet. Der Bericht von Ingrid Hall und Karen Lee vermittelt sowohl die wichtigsten Inhalte der vorgestellten Informationen, wie auch die Sichtweise und Rezeption der englischen Autorinnen aus Liverpool. Vertreten waren das Frauenzentrum Potsdam, der Verband der Arbeitsloseninitiativen in den neuen Bundesländern, der Jugendwerkhof Lehnin und der Personalrat der Akademie der Wissenschaften.

Zum Thema "Festung Europa" gibt Massimo Pastore einen aktualisierten Überblick über administrative Maßnahmen der EG-Staaten zur Inneren Sicherheit (Polizeikoordination und zentrale Personendateien durch die TREVI-Gruppe) und zur Steuerung bzw. Abwehr von ImmigrantInnen nach dem Schengener Abkommen.