Angestellte und Bildungsarbeit
Editorial
Gegenwärtig erleben "die" Angestellten von vielen Seiten Interesse und Aufmerksamkeit. Politische Parteien, Gewerkschaften und Kulturkritik nehmen sich ihrer an. Gerade die in der jüngsten Bundestagswahl unterlegene SPD hat schon seit geraumer Zeit bemerkt, daß sie sich notwendig auf die wachsende "naturwissenschaftlich-technische Intelligenz" orientieren muß, will sie nicht nur aus der Oppositionsrolle wieder heraus, sondern als Regierungspartei den gegenwärtig laufenden "Modernisierungsschub" - hinein in die befürchtete "Zwei-Drittel-Gesellschaft" - "sozial-verträglich" abfedern. Die Härte für das verbliebene Rest-Drittel der Gesellschaft kann nur abgefedert werden, wenn Teile der "Rationalisierungsgewinner" und -befürworter für eine halbwegs solidarische, sozialstaatliche "Lösung" mobilisiert werden. Der Organisationsform durch Solidarität der Schwachen, der gespaltenen und an den Rand gedrängten Gruppen und Individuen traut man wenig zu. Vor allem nicht, wenn es sowieso nur um mobilisierbare Wählerpotentiale geht.
Nicht viel anders liegen die Überlegungen in den Gewerkschaften, nur daß sie mit der Organisierung "neuer Gruppen von Lohnabhängigen" unmittelbar die eigene Existenz als berechtigte Interessenvertretung in den Betrieben sichern wollen. Weniger die Spaltung innerhalb betrieblicher Arbeitsmärkte müssen solidarisch durch Rationalisierungsgewinner gesichert werden, als die eigene Legitimation. Obwohl viele Angestellte gar nicht grundsätzlich einer gewerkschaftlichen Organisierung entgegenstehen, befürworten sie doch oft ganz andere Konfliktlösungs- und Austragungsstrategien als die eher "proletarisch" orientierten DGB-Gewerkschaften. Der Druck, der von innen auf die Organisationsformen innerhalb der Gewerkschaften ausgeht, ist absehbar.
Die gesellschaftliche Beobachtung jenseits der politisch-gewerkschaftlichen Organisierung weist auf ein weiteres gegenwärtiges Interesse hin. In der "kulturellen Sphäre" von der Kneipe zur Boutique, von den Konsummustern bis zum Bild ganzer Stadtviertel herrscht seit einiger Zeit eine "Avantgarde" junger Erwachsener etwa im Alter zwischen 18-30 vor, die aus ihrem luxuriösen Bedürfnissen keinen Hehl macht. Die "Young Urban Professionals", kurz Yuppies genannt, bilden den Kern einer Elite, die als "neue Selbstständige" an der gesellschaftlichen und ökonomischen Umgestaltung mittels High-Tech aktiv beteiligt sind. In einer Kurzcharakterisierung wären sie zu beschreiben als ellenbogenbenutzende Aufsteiger, individualistisch aber auch "gesellig", betont distinguiert und sensibel, durchgestilt und wie aus dem Ei gepellte Wonneproppen ihrer Eltern, ganz nach deren durch den Wiederaufbau geprägten Leistungs- und Konsum wünschen. Selbstverständlich sind sie neokonservativ bis liberal und vielleicht, im Gegensatz zu ihren Eltern keine tumb-undynamischen Spießer mehr, ohne schlechtem Gewissen und mit weniger Ressentiments. Als solches "Gegenbild zur Protestgeneration" (FR, 27.12.86) bilden sie sehr wohl eine - legere - Avantgarde. Das ist nicht nur für die Alltagswahrnehmung verwirrend, sondern gleichzeitig so verdächtig "neumodisch", als spielte sich altbekanntes ab.
Etwas neidisch und verliebt in diese Schickeria, die so selbstbewußt den prallen Wohlstand präsentiert, verliert sich die Kulturkritik selber in Details und fast schon beliebige Phänomen-Beschreibungen. Mitten im dicksten Krisenwinter flöten die "neuen Selbstständigen" alte Melodien davon, daß "das Geld zum Aufheben auf der Straße liege und jeder zugreifen könne, wenn er nur wolle". Wer gegen solche versöhnende Töne der Self-made-männer Einspruch erhebt, ist gewiß ein dröger Miesmacher.
Was kann unter solchen Perspektiven die Beschäftigung mit "den" Angestellten noch bringen, wenn man von bornierten Organisationsinteressen diverser politischer Organisationen absieht und die Kulturkritik jedes Interesse an gesamtgesellschaftlichen Bewegungen und Entwicklungen vermissen läßt? Worin soll überhaupt der Sinn eines Schwerpunkt-Themas "Angestellte" für eine "Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich" bestehen?
Zunächst einmal wäre hier eine weitere Einschränkung und gleichzeitig Annahme zu machen. "Die" Angestellten gab es eigentlich noch nie. Nur jede spezifizierende Abgrenzung und genauere Bestimmung - von welchen Angestellten die Rede ist -, unterliegt der Schwierigkeit, Kriterien dafür postulieren zu müssen. Die historisch ursprüngliche Abgrenzung dieses Teils der Lohn- und Gehaltsabhängigen gegenüber "dem" Arbeiter liegt in der unterschiedlichen Sozialversicherung, eine Unterscheidung, die zunehmend an Gültigkeit verliert.
Eine weitere - nur scheinbar - unbefangene Klassifizierung könnte darin vorgenommen werden, indem auf die wissenschaftlich-technische Intelligenz, auf die klassischen Dienstleistungsberufe in der industriellen Verwaltung und sozialen, (sozial-)pädagogischen Diensten verwiesen wird. Nur solche Unterscheidungen sind nicht minder hilflos, wenn man bedenkt,
- daß "Dienstleistung" nur eine verwaschene und durchaus ideologieträchtige Bezeichnung ist, die vom Arzt bis zum Kellner alles vermischt,
- daß auch in den industriellen Sektoren die Abgrenzung zwischen Arbeitern und Angestellten (gleich weiteren Untergliederung) dann unbedeutend wird, wenn auf die Rolle im konkreten Produktionsprozeß Bezug genommen wird. Erhebliche Teile auch der "technischen Intelligenz" sind nämlich dort beschäftigt (vgl. Lothar Hack, Bestens bedient, in: links, Nr. 203)
Sinnvoll bleibt für eine Begrenzung und Auseinandersetzung mit dem Phänomen "des" Angestellten, genau die historische und gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung selbst.
Verstärkt seit der konservativen Wende, genauso aber schon unter der sozialdemokratischen Regierung, stellte die technologische Durchsetzung und "Erneuerung" der Volkswirtschaft einen Versuch dar, das Verhältnis von gesamtgesellschaftlicher Produktion und Reproduktion überhaupt in eine Neuordnung zu formieren, - unter der Voraussetzung, daß die neuordnenden Kalküle, Strategien und auch Logiken des Kapitals nicht als bewußt-stringente und konfliktlose Strategie im Zusammenspiel mit den staatlichen Apparaten begriffen wird. Umgekehrt aber auch nicht als ein vollkommen blinder Prozeß bedeutete es in erster Linie die Veränderung der gesamten Binnen- und Berufsstruktur innerhalb der "produktiven", innovativen Kerne der Industrie. Unter dem in allen Branchen einsetzenden Modernisierungsschub durch sog. Hochtechnologie werden die Qualifikationen der verbleibenden (und neugeschaffenen) Arbeitsplätze grundlegend verändert. Erforderlich werden Einzelqualifikationen, die bisher nur in den sozialen Berufen vorkamen: "sensibles" Vorausschauen, "phantasievolles" und soziales Kooperationsverhalten, das vielfältig zum Ausdruck kommen muß und nicht an stupiden Arbeitsabläufen klebt. Für welche Konzernabteilungen auch immer es wirklich zutreffen mag - in der Ideologie und Stellenanzeigen werden solche Charakteristika hervorgehoben. Entsprechend eignen sich die Großunternehmen noch weitere Eigenschaften des "sozialen" Dienstleistungssektors an, weiten ihre pädagogischen und sozialfürsorglichen Arbeitsfelder aus. Sie pflegen, je nach Branche und anderer Eigenheit, ihre Firmen"kultur" in Verbindung einer entsprechenden "Familienideologie".
Ein umgekehrter Prozeß spielt sich auch in den staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen, Behörden und Verwaltungen des Sozialbereiches ab. Die massenhafte Arbeitslosigkeit und die wachsende Zahl von Dauerarbeitslosen zwingt allgemein dazu, daß neben Arbeitslosen-Verwaltung und "Grundsicherungen" für ein minimales Überleben traditionelle Aufgaben übernommen werden müssen, die bisher nur im Bereich von Beschäftigung und Lohnarbeit auftraten. Nischen, alternative Produktions- und Ausbildungsstätten für einen "anderen" (zumindest als den traditionellen Arbeits-)Markt müssen eingerichtet und aufrecht erhalten werden. Und das heißt auch, Rechte und Qualifikationen müssen erkämpft und gesichert werden, auch wenn sie niemals im industriell-"ersten" Sektor zur Anwendung kommen.
Dieser zunächst vordergründig angedeutete doppelte Prozeß innerhalb der Gesellschaft von der Neuordnung des Verhältnisses gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion kann hier nicht weiter und genauer verfolgt werden. Nur scheint er Grundlage auch für die Auseinandersetzungen um die ideologische Neudefinition des gesamten Reproduktionsbereichs zu sein, - angefangen bei Ehe, Familie, Erziehung und Sozialisation der Kinder - "der Keimzelle", wenn auch verändert, des "Volks"- oder gesellschaftlichen Ganzen.
Vor dem Hintergrund technologischer Rationalisierung und Neuformierung des gesellschaftlichen Verhältnisses von Produktion und Reproduktion weisen die "klassischen" Dienstleistungsberufe von angestellten Frauen und Männern exemplarische Entwicklungen auf. An einzelnen Beispielen und im historischen Zusammenhang sollen die Konsequenzen für die Individuen dargestellt werden und vor allem für die Bildungsarbeit fruchtbar gemacht werden.
Thomas Kuchinke gibt einen allgemeinen Überblick über die unterschiedlichen Interessen, unter denen ,die' Angestellten theoretisch und politisch bisher betrachtet wurden. Die Unterstellung einer kleinbürgerlichen Lebensweise ist bis in die jüngste Vergangenheit genauso nachzuweisen, wie die Behauptung, die verbreitete Existenz von Angestellten sei als Indiz für das Ende der Klassengesellschaft zu werten.
Ellen Lorentz verdeutlicht an der historischen Entwicklung des Bürosektors, seinen Rationalisierungswellen und dem gezielten Einsatz vor allem weiblicher Arbeitskräfte, wie dies unmittelbar den gesellschaftlichen Reproduktionsbereich veränderte und die Frauen zu einer Neuorganisation von Lebensstilen und der Verhältnisse in Ehe und Familie zwang (und immer noch zwingt).
Max Peschkin-Schäfer berichtet aus dem "allerneuesten Deutschland". Die Bildungserfahrungen mit Bank- und Versicherungskaufleuten weisen darauf hin, daß die klassischen Konzepte der "Arbeiterbildung" erweitert und verändert werden müssen. Genauso wie die nachfolgenden Beiträge zieht er thesenartig Konsequenzen für eine zukünftige Bildungsarbeit, die weder "Arbeiten und Leben" vernachlässigen, noch politische Ansprüche einschränken will.
Helmut Schuchardt setzt den Bericht fort mit Beispielen aus der Bildungsarbeit mit "Jungen Angestellten" und mit Angestellten in krankenpflegerischen Berufen. Auch dieser Bericht zieht Konsequenzen aus den je spezifischen Arbeitsbedingungen. Gerade die Pflegeberufe im Krankenhaus gehören zu den weniger beachteten, wenn es allgemein um "die" Angestellten geht. Da die Erfahrungen aus dem "exotischen" Augenschein geholt werden sollen, geht es allen Beiträgen nicht um vorschnelle Verallgemeinerungen, sondern darum, sie diskutierbar zu machen. Damit reichen die Beiträge über die unmittelbare Auseinandersetzung um die Bildungsarbeit hinaus und greifen in die politische Debatte um die "neuen" Mittelschichten und die "individualisierte" Gesellschaft ein.
Frankfurt/Offenbach, im Februar 1987