Alternativen zum Bürgergeld - die Garantierte Grundarbeitszeit in der Diskussion
Editorial
Mit der Einführung des Bürgergeldes als neue Variante einer bedürftigkeitsgeprüften Grundsicherung scheint für viele Vertreter:innen der SPD und der Grünen die seit 2019 immer wieder prominent angekündigte "Überwindung von Hartz IV" Wirklichkeit geworden zu sein. Gegen diese Interpretation gibt es vielfältigen Widerspruch mit guten Gründen. "Hartz IV", verstanden als Chiffre einer rigiden Politik der Aktivierung in "Arbeit um jeden Preis" und eines Versuchs, über die Jobcenter in den Alltag von Menschen, deren Einkommen nicht für den eigenen Lebensunterhalt reicht, in umfassender Weise hineinzuregieren, ist keineswegs überwunden. Die Sanktionen sind abgemildert, aber nicht abgeschafft, die Höhe des Regelsatzes weiterhin politisch klein gerechnet, die Übernahme von Kosten der Wohnung unterliegt - trotz einer einjährigen Schonfrist für Neuzugänge - weiterhin politisch definierten Angemessenheitsgrenzen, die Zumutbarkeitsregelungen für die Annahme einer Arbeit bleiben unverändert - und wie sich die vom Vermittlungsvorrang befreite und als Kooperation beschriebene Beziehung zwischen den Jobcentermitarbeiter:innen und Leistungsberechtigten/Antragstellenden in der Praxis entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Die Beteiligung an Lohnarbeit oder an selbstständiger Erwerbsarbeit wird nach wie vor als quasi natürlich für die gesellschaftliche Integration betrachtet.
In Zusammenhang mit der Diskussion um Alternativen zu "Hartz IV" und der Einführung des Bürgergeldes hatte auch die Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) wieder Konjunktur. In dieser Debatte geht es nicht nur um einzelne sehr unterschiedliche Modelle eines BGE, wie sie sowohl von (neo)liberalen wie auch emanzipatorisch orientierten Personen und Gruppierungen vorgetragen wurden und werden. Die (neo)liberalen Vorschläge wollen den Zwang zum Verkauf der Ware Arbeitskraft strikt aufrechterhalten, die emanzipatorisch orientierten diesen Zwang verringern oder abschaffen. Es geht in diesen Diskussionen immer auch um die Frage, ob ein BGE die bestehende Form des Sozialstaates, der auf normativen Vorstellungen beruht, wie "normale" Lebensläufe aussehen sollen, komplett ersetzt oder der Sozialstaat eher umgebaut werden soll. Wesentliche Normen beziehen sich dabei auf die Rolle von "Arbeit" im Lebensverlauf und auf die Art des Zusammenlebens, der Arbeitsteilung und Verbindlichkeiten zwischen Menschen in Familien oder deren posttraditionalen Alternativen. Hieraus werden dann auch Fragen abgeleitet, wie sanktionsbewehrt oder repressionsfrei ein existenzsicherndes Sozialeinkommen sein soll, ob es ein individueller Rechtsanspruch sein soll und ob ein Sozialeinkommen Armut bekämpfen und Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen soll.
Dass Teilhabe mehr sein soll als "Geld bekommen", scheint über Parteigrenzen hinweg Konsens zu sein.
Konjunktur hat in diesem Zusammenhang auch die Diskussion darüber, welche Rolle "Arbeit" (gemeint ist Lohnarbeit/Erwerbsarbeit) im Rahmen einer Grundsicherung und der Teilhabe an der Gesellschaft spielen soll. Da gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die Grenzen politischer Parteien hinweg, dass das zentrale Moment gesellschaftlicher Teilhabe nach wie vor in "Arbeit" besteht und dass - trotz aller Debatten über die Höhe des Mindestlohnes oder über das so genannte Lohnabstandsgebot - Armut am besten mit "Arbeit" zu bekämpfen sei.
In diesen tagespolitischen Diskussionen tauchen grundlegende und immer wiederkehrende Fragen der sozialen Existenzsicherung in einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft auf, die auf sozialstaatliche Strukturierung sozialer Ungleichheiten und Klassenverhältnisse angewiesen ist:
Wer ist berechtigt, sozialstaatlich bei der Existenzsicherung unterstützt zu werden und wer nicht? Wer fällt unter die Kategorie der "würdigen", wer unter die der "unwürdigen" Armen? Von wem werden Arbeitsbereitschaft und Arbeitsleistung verlangt, wenn zur Sicherung des Lebensunterhaltes ein Sozialeinkommen notwendig wird? Welche Personen bzw. Gemeinschaften müssen subsidiär vor staatlichen Sozialleistungen für den Unterhalt von Erwerbslosen und Armen sorgen?
Die Frage nach der Rolle von "Arbeit" erfordert in ihrer Beantwortung einen differenzierten Blick auf die jeweilige Ebene, auf der argumentiert wird. Diskutieren wir die Frage in Analogie zu Marx' quasi überhistorischer Definition von Arbeit als "gesellschaftlicher Stoffwechsel von Mensch und Natur"? Oder befinden wir uns auf der Ebene der kapitalistischen Formbestimmtheit von Arbeit als Lohnarbeit, noch dazu unter ganz konkreten historischen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen? Oder auf der Ebene der alltäglichen Praxis von Arbeiter:innen im Rahmen ihres Ausbeutungszusammenhangs und damit auch auf der Ebene der stofflichen, gebrauchswertschaffenden Arbeitsprozesse und damit auch auf der Ebene der subjektiven Bedeutung von Arbeiten als Moment sozialer Anerkennung und Kooperation? Sprechen wir über die gesamtgesellschaftliche Arbeit und über die ihr zugrundeliegenden Arbeitsteilungen? Wie reflektieren wir die kapitalistische Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit? Oder streiten wir über den Arbeitsbegriff auf der Ebene der Einheit von gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion und damit unter Einbezug von privater Hausarbeit als Voraussetzung für das Funktionieren der Gesellschaft?
Solche Fragen waren und sind durchgängig Gegenstand von Diskussionen in der Arbeiter:innenbewegung, in anderen sozialen Bewegungen, nicht zuletzt den feministischen und in der kritischen Gesellschaftstheorie, die sich mit der Realität und der Zukunft der "Wertschaffenden"/Arbeiter:innen und der gesellschaftlich notwendigen Arbeiten und der Sozialstaatlichkeit auseinandersetzt.
Auch in dieser Zeitschrift wurden solche Fragen und die damit verbundenen Kontroversen immer wieder aufgegriffen. Beispielhaft sei mit ausgewählten Zitaten auf unsere Debatte zu sozialen Garantien und darin insbesondere zur Diskussion um ein BGE verwiesen:
"Mindesteinkommen, unabhängig von Lohnarbeit, würde <...> bedeuten, sich von der "Leitfigur" der sozialstaatlichen Sicherheit, dem Lohnarbeiter - und dessen Arbeitsfähigkeit - unabhängig zu machen. Andere gesellschaftliche Tätigkeiten: Hausarbeit, Ausbildung, sinnvolle und selbstbestimmte Tätigkeit, jenseits herrschaftlich anerkannter Produktion, müßten von der "Sozialen Garantie" abgesichert werden." (Redaktion Widersprüche 1984: 126)
"Erst die Verbindung von je nach Geschlecht, Alter und Lebens- bzw. Klassenlage unterschiedlichen Interessen an der Teilhabe an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen mit einer entsprechenden finanziellen Absicherung macht die politische Brisanz garantierter Mindestabsicherung aus, zumal so "Tagesforderungen" und "Utopie" verbunden werden können." (Redaktion Widersprüche 1985: 91)
"Allerdings scheint es unlogisch und unproduktiv, das Recht auf Teilhabe in einen Gegensatz zur Lohnarbeit zu stellen, <...>. Lohnarbeit ist immer noch die zentrale Form der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. Nur wenn man Lohnarbeit gleichsetzt mit allen Übeln dieser Welt und Nichtlohnarbeit als Befreiung von diesen Übeln <...>, ergibt die Entgegensetzung einen Sinn." (Redaktion Widersprüche 1985: 93)
"Es fehlt im Ansatz eine Perspektive, die Nicht-(Lohn-)Arbeitende und (Lohn-)Arbeitende strategisch vereint. Wenn zu diesem Problem keine Vorstellungen erstellt werden, ist die Gefahr groß, daß die im "formellen Sektor" Beschäftigten eine Rechtsentwicklung durchmachen, die in Teilen der Gewerkschaften und der SPD schon jetzt auszumachen ist. Die Arbeitenden brauchen ja Gründe, weshalb sie bereit sein sollten, die Nichtarbeitenden zu "alimentieren"." (Redaktion Widersprüche 1985: 93)
An die damals formulierten Thesen schließt die in diesem Heft vorgestellte Idee einer "Garantierten Grundarbeitszeit" (GGA) an. Die Idee nimmt zentrale Aspekte des Vorschlags eines BGE auf, beansprucht aber, in einer sozialistischen Perspektive über diesen Vorschlag hinauszugehen. Eine "Garantierte Grundarbeitszeit" will nicht nur ein Einkommen garantieren, von dem man leben kann. Sie will zugleich alle menschlichen Tätigkeiten als gleich wichtig für gesellschaftlich produktives Handeln wertschätzen. Damit bekommt die umstrittene Forderung nach einem "Recht auf Arbeit" einen neuen, emanzipatorischen Sinn. Ob und wie so etwas wie ein BGE oder eine GGA realisiert werden kann, hängt von den gesellschaftlichen Bedingungen ab - beide sind insofern also nicht bedingungslos. In den dafür erforderlichen politischen Auseinandersetzungen geht es darum, die Errungenschaften des fordistischen Modells sozialer Sicherung nicht nur zu verteidigen, sondern darüber hinaus auch neue Formen zu entwickeln. Ob die GGA solche Möglichkeiten eröffnet, soll in den Beiträgen dieses Heftes kritisch erörtert werden. Zur Diskussion darüber sind alle Leser:innen eingeladen.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Timm Kunstreich stellt in seinen Texten "Kooperation statt Alimentierung: Garantierte Grundarbeitszeit statt Bedingungsloses Grundeinkommen" und "11 Thesen zur Garantierten Grundarbeitszeit" die Idee der GGA vor. Er sieht in der Programmatik eines BGE eine Verkürzung der Gesellschaftskritik an Ausschließung und Benachteiligung im Kapitalismus auf Fragen des Einkommens. Er problematisiert Staatsfixierung, Ökonomismus und Individualismus solcher Konzepte. Demgegenüber plädiert er für eine GGA, verbunden mit einem "living wage" als Moment einer Sozialpolitik als Infrastruktur. Notwendig ist dabei die Abkehr vom Leitbild der (männlichen) Lohnarbeit und die Anerkennung der Vielfalt von Arbeiten als gesellschaftlich notwendige: Erwerbsarbeit, Care-Arbeit, kulturelle Arbeit und politische Aktivitäten. Alle Menschen kombinieren in ihrem Alltag diese Arbeiten in ihren sozialen Kooperationszusammenhängen in je spezifischer Weise. Durch GGA und "living wage" erhalten sie eine soziale Garantie, mit der sie, ergänzt durch die Leistungen der Infrastruktur, gestalten können. Notwendig ist dazu auch die weitgehende Finanzierung der Infrastruktur durch eine Kapitaltransfersteuer, die die Bildung eines demokratisch kontrollierten Sozialvermögens erlaubt.
In der Dokumentation/im Transkript des Fachgesprächs vom 24. April 2023 zur Idee der GGA wird deutlich, welche Diskussionsanstöße diese Idee gibt: Diskussion über einen emanzipatorisch orientierten Umbau des Sozialstaats; Diskussionen über das Verhältnis von Einkommen, Sozialeigentum und gratis zur Verfügung gestellter Infrastruktur für Soziales, Gesundheit, Bildung, Mobilität. Auch die Frage, ob die GGA einen defensiven politischen Charakter gegen soziale Ausgrenzung und Verarmung hat, oder ob sie ein transformatorisches Potenzial für mögliche gesellschaftsveränderungswillige Bündnisse enthält, wird z.B. durch die Entwicklung neuer Formen kollektiven, gesellschaftlichen Eigentums thematisiert. Hier stellen sich nicht zuletzt Fragen nach Anknüpfungspunkten zu Konflikten, Kämpfen und Debatten um Klimagerechtigkeit, betriebliche und gewerkschaftliche Auseinandersetzungen um Entlohnung, Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten.
Wolfgang Völker stellt in seinem Text "Anfragen an das Programm einer GGA" aus der Perspektive eines garantierten Grundeinkommens "plus", verstanden als Erweiterung des Sozialeigentums und des kollektiven Konsums/ der Infrastruktur öffentlicher Güter. Er problematisiert Gegenüberstellungen wie Alimentierung - Kooperation, Individuum - Kollektiv und Normen gesellschaftlicher Nützlichkeit und weist darauf hin, was die Aktivist:innen der Initiativen von Erwerbslosen und Armen selber an politischen Forderungen stellen.
Ellen Bareis und Helga Cremer-Schäfer reflektieren in ihrem Artikel die Rolle von Haushalten bei der Verwirklichung einer Infrastruktur zum Betreiben des eigenen Lebens. Sie gehen davon aus, dass Haushalte die Vermittlungsebene zwischen Infrastruktur und dem Alltag der Leute sind. Sie begreifen Haushalte als selbstorganisierte Zusammenschlüsse und soziale Orte, an denen sich Schnittpunkte finden lassen von Arbeitsformen, Einkommensformen, sozialen Beziehungen sowohl herrschaftlicher als auch emanzipatorischer Art. Sie analysieren die Leistungen der Haushalte für die soziale Reproduktion der Gesellschaft und entdecken auf Basis ihrer Forschungen zur Arbeit am Sozialen "from below", welche Beziehungen sich im Spektrum zwischen Abhängigkeiten auf der einen und solidarischer Unterstützungspraxis auf der anderen Seite im Alltag von Haushalten finden. Schließlich fragen sie in ihrem Text danach, was Vorschläge wie BGE oder GGA an Ressourcen hervorbringen können, mit denen die Leute Konflikte um disziplinierende Lebensweisen oder Situationen sozialer Ausschließung in einem emanzipatorischen Sinne bewältigen können.
Horst Müller weist in seinem Text darauf hin, dass die sozialen Garantien und Möglichkeiten gravierende sozial-systemische Veränderungen und enorme finanzielle Spielräume erfordern. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse hin zu einer Sozialstaatswirtschaft, in der diese Garantien verwirklicht werden könnten, kann - so argumentiert Müller - aus der gegenwärtigen Herrschaft des Mensch und Welt zerstörenden kapitalistischen Wachstumszwangs umgedreht werden. Dabei spielt der Sozialstaat als besteuernde, fiskalisch und politisch steuernde und moderierende Zentralinstanz eine wesentliche Rolle. Zentrale These von Müller ist, dass systemische Veränderungen an dem Verhältnis zwischen Hauptabteilungen der kapitalistischen ökonomischen Reproduktion ansetzen müssen. Wesentliches Element einer Systemalternative ist eine Kapitaltransfersteuer, aber nicht verstanden als neue Gewinnsteuer, sondern als Transfer von konstantem oder Sachkapital von einer zur anderen wirtschaftlichen Abteilung, nämlich dem Bereich des Öffentlichen oder Sozialen in einer Sozialstaatswirtschaft. Der Beitrag versteht sich als Aufforderung zur Diskussion um eine neue soziale Infrastrukturpolitik und ihren Möglichkeiten als Einstieg in eine Systemalternative.
In Susanne Maurers Kommentar "Erinnerung(en) an feministische Einsprüche und Visionen" werden die Ideen und konkreten Vorschläge zur Umsetzung einer "Garantierten Grundarbeitszeit" vor dem Hintergrund feministischer Analysen und (u.a. literarischer) Gedankenexperimente reflektiert. Neben erkennbaren Resonanzen werden dabei auch Problemsichten exemplarisch angesprochen, die sich z.B. auf das Verhältnis von Individualität und Kollektivität oder die Frage des Umgangs mit Dissens beziehen. Als besondere Herausforderung für die intendierten Transformationsprozesse wird die Arbeit an einer dafür förderlichen politischen Kultur bzw. an (ermöglichenden) "gesellschaftlichen Atmosphären" angesehen.
Die Gruppe Blauer Montag setzt sich in ihrem Beitrag kritisch mit dem Vorschlag der GGA auseinander. Die Kritik bezieht sich vor allem auf drei Punkte: auf die spezifische Lesart eines bedingungslosen Grundeinkommens im Basistext, auf den produktivistischen Grundtenor, der den Gegenentwurf durchziehe und das Verständnis von "Arbeit" und "Arbeiten", das von einem ahistorischen bzw. gesellschaftsneutralen Arbeitsbegriff ausgehe. Es wird bestritten, dass die Wertigkeiten von produktiven, wie reproduktiven Arbeiten unter kapitalistischen Verhältnissen einfach verschoben werden könnten. Stattdessen wird auf die grundsätzliche Formbestimmtheit aller Arbeiten im Kapitalismus hingewiesen. Der Text erinnert an die Existenzgeldforderung der Erwerbslosen- und Jobber-Initiativen in den 1980er Jahren. Diese wird als Kritik an der real existierenden Sozialstaatlichkeit und als Kritik am kapitalistischen Produktionsprozess und dem Prinzip der Verwertbarkeit bzw. einem Nützlichkeitsprinzip interpretiert. Vor diesem Hintergrund diskutieren sie, inwieweit im Vorschlag der GGA Momente derartiger Unterordnungen individueller Ansprüche auf Existenzsicherung unter herrschaftliche gesellschaftliche und staatliche Verhältnisse in sich trägt. Im Konsens mit der Argumentation des Basispapiers weisen sie auf die Rolle von aktuellen sozialen Kämpfen und Bewegungen für die Herstellung einer sozialen Infrastruktur zum Betreiben des eigenen Lebens hin.
Matthias Weser nimmt den im GGA-Konzept vertretenen erweiterten Arbeitsbegriff zum Anlass, darüber nachzudenken, inwieweit wissenschaftliche Arbeit auf Basis der Existenzsicherung durch GGA verändert werden könnte. Er geht davon aus, dass die institutionalisierte Wissenschaft vom Lohnabhängigkeitsverhältnis der dort Tätigen geprägt wird. Dieses Verhältnis verhindert den Bedeutungsgewinn reproduktiver, kultureller und politischer Aspekte von Wissenschaft. Der Text nimmt die Perspektive eines Wissenschaftlers in der Qualifikationsphase ein, analysiert die Mechanismen der Konkurrenz und Ökonomisierung im Wissenschaftsbetrieb und beschreibt, wie Dimensionen des Sorgens, des Erkenntnisgenusses und der emanzipatorischen politischen Verantwortung im wissenschaftlichen Alltag verschüttet werden. Im Rückgriff auf den im GGA-Konzept formulierten Anspruch einer materiellen Absicherung lädt er zur Diskussion darüber ein, wie in einem kollektiven Prozess der Defragmentierung Wege zu einem anderen Betreiben von Wissenschaft geebnet werden können.
Stefan Schoppengerd diskutiert in seinem Beitrag, welche Bedeutung der Kampf um die Verkürzung der Lohnarbeitszeit in einem emanzipatorischen politischen und gesellschaftlichen Projekt hat. Sein Text befragt die im Vorschlag der GGA genutzte Vier-in-eins-Perspektive von Frigga Haug auf ihre Relevanz für Fragen der Verkürzung und Veränderung der Lohnarbeit. Der Autor stellt die Geschichte des Kampfes der Arbeiter:innenbewegung um kürzere Arbeitszeiten in Grundzügen, Motiven und Konfliktdimensionen bis hin zu aktuellen gewerkschaftlichen Forderungen in der Stahlindustrie vor. Er fragt anhand der im Konflikt um Arbeitszeitverkürzung wirksamen Interessen auch danach, welche emanzipatorischen Bündnisse sich zwischen betrieblichen, gewerkschaftlichen, feministischen, ökologischen Perspektiven entwickeln lassen. Dabei benennt er auch die Gefahren der Verdrehung des Wunsches nach weniger Lohnarbeitszeit in höhere Belastung in der Lohnarbeit. Stefan Schoppengerd besteht darauf, die alltägliche Praxis von Arbeiter:innen als Individuen zu begreifen, die in einem widersprüchlichen gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang kooperieren. Aus Sicht des Autors muss das emanzipatorische Ziel einer Befreiung (von) der Lohnarbeit, wenn es im Sinne einer Bündnisinitiative aufgegriffen wird, vor dem Hintergrund der komplexen alltäglichen betrieblichen und gewerkschaftlichen Realitäten betrachtet werden. Dabei seien die utopischen Überschüsse alltäglicher Kämpfe nicht zu übersehen.
Im Forum dieses Heftes diskutiert Jörg Reitzig die möglichen Verbindungen eines erweiterten Bildungsverständnisses und einer als Infrastruktur konzipierten Sozial- und Bildungs-Politik. Dabei reflektiert er auch die Widersprüche zwischen emanzipatorischen Möglichkeiten und durch neoliberale Gesellschaftspolitik verfestigten Ungleichheiten zwischen Reichen und Armen. Nicht zuletzt aus diesem Grund - so sein Fazit - muss politische Bildung die Legitimation solcher Verhältnisse infrage stellen. In der Rubrik Eingriffe und Positionen dokumentieren wir die Forderungen des Bündnisses "AufRecht bestehen!" für die Aktionswoche im Oktober 2023.
Ein literarischer Abschluss des Editorials von Ernst Jandl aus dem Jahr 1976:
menschenfleiß
ein faulsein
ist nicht lesen kein buch
ist nicht lesen keine zeitung
ist überhaupt nicht kein lesen
ein faulsein
ist nicht lernen kein lesen und schreiben
ist nicht lernen kein rechnen
ist überhaupt nicht kein lernen
ein faulsein
ist nicht rühren keinen finger
ist nicht tun keinen handgriff
ist überhaupt nicht kein kein arbeiten
ein faulsein
solange mund geht auf und zu
solange luft geht aus und ein
ist überhaupt nicht.
Die Redaktion