Alte Menschen? zwischen Norm und Selbstbestimmung

Editorial

Aber als sichtbarste Hoffnung bleibt bei alldem der zentral steuernde Einfluß des Lebens in einer gesundgewordenen Gesellschaft auf die Krankheiten des Geboren- und Erwachsenseins selber, vorzüglich auf deren Verhütung, und auf die Lebensdauer. Ein weiter Weg bis dahin und einer, der vielleicht, was das heikle Fleisch angeht, noch auf lange Sicht sehr zufriedenstellend zurückgelegt werden kann. Innerhalb der Leistungsfähigkeit zum kapitalistischen Betrieb wird er zweifellos nicht zurückgelegt; denn Gesundheit ist etwas, das genossen, nicht verbraucht werden soll. Schmerzloses, langes, bis ins höchste Alter, bis in einen lebenssatten Tod aufsteigendes Leben steht noch aus, wurde stets geplant. Wie neu geboren: das meinen die Grundrisse einer besseren Welt, was dem Leib angeht. Die Menschen haben aber keinen aufrechten Gang, wenn das gesellschaftliche Leben selber noch schiefliegt.

Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, II. Band

Dieses Zitat von Ernst Bloch stand schon vor zehn Jahren vor dem Editorial zu Heft 7: "Lebenssatt. Alt sein und älter werden" - und es hat nicht nur nicht an Aktualität verloren, sondern bei der augenblicklichen Tendenz der Kapitalisierung aller Lebensbereiche eher noch gewonnen. Stand bei unserem ersten Versuch, uns dem Thema alt sein und alt werden zu nähern noch sehr stark die Tatsache im Vordergrund, uns selber erstmal über das Thema kundig zu machen, so war die Diskussion in der Vorbereitung dieses Heftes schon spezifischer, aber auch grundsätzlicher. Insbesondere der Zusammenhang von Lebensphasen und Tod hat uns sehr beschäftigt - unser Genösse Niko Diemer war nicht lebenssatt, als er starb. Ein Schwerpunkt der folgenden Artikel ist deshalb die Frage, welche soziale Bedeutung das biologische Ende eines Menschen hat, wie es kommt, daß es so wenigen Menschen ermöglicht wird, in Würde zu sterben.

Der andere Schwerpunkt des Heftes dreht sich um die beherrschenden Normen, die im Zusammenhang mit Altern Geltung haben: Warum sprechen wir über das Altwerden, nicht aber über das Anderswerden, wenn wir älter werden? Warum sehen wir im Altern in erster Linie etwas Homogenisierendes - ist nicht gerade ein Kennzeichen des Alters, daß lebenslange soziale Statuszuschreibungen gerade im Alter die Differenz noch besonders betonen? Ist Alter nicht nur eine Metapher, die darüber hinwegtäuschen soll, daß der alte Professor nur äußerlich etwas gemein hat mit der alten Obdachlosen? Werden wir - die 68er Generation und die Darauffolgenden - nicht anders alt werden als unsere Eltern? Wenn es trotzdem etwas wie einen gemeinsamen sozialen Sinn des Altwerdens gibt, worin liegt sein Potential, nicht nur in der individuellen Biographie, sondern auch im Sinne einer verschütteten gesellschaftlichen Utopie?

Unter dem Titel "Alter als Gegennorm" versuchte Rolf Schwendter in unserem Heft "Lebenssatt" an zwei Beispielen aus der Literatur zumindest einige Aspekte dieser Fragen thesenhaft zu beantworten. Zu Brechts unwürdiger Greisin resümiert er: "In dieser kurzen Geschichte (sie umfaßt nur sechs Seiten) wendet Brecht allein eine Seite auf, um nachzuweisen, wie normkonform die Frau vor dem Tod ihres Ehemannes bis ins 72. Lebensjahr gelebt hat. Sie hat bis zum Überdruß 'Schattenarbeit'/unbezahlte Zwangsarbeit geleistet. Sie hat ohne Magd den Haushalt besorgt, für den Mann, Gehilfen und Kinder gekocht. Sie hat mit kärglichen Mitteln fünf Kinder großgezogen; sie hat sieben geboren. Ihre Normabweichungen beginnen erst mit dem Tod ihres Mannes. Und, wie es sich gehört, nehmen auch in der Brecht'schen Dramaturgie ihre Kinder die Rolle der Agenten gesamtgesellschaftlicher Norm ein. Die Bescheidenheit, der Charakter der 'kleinen Schritte', ihre Normabweichungen wird vom Autor immer wieder hervorgehoben. So bricht sie den Kontakt mit der Familie weitgehend ab, geht ins Kino, meidet respektable Kaffeekränzchen und befreundet sich mit schlechtbeleumundeten, dafür aber interessanten Leuten, geht jeden zweiten Tag im Gasthof essen, nimmt eine Hypothek auf (das Geld verschenkt sie augenscheinlich) - macht also all das, was 'man' als alte Frau eben nicht tut." (S. 90)

Die andere Geschichte ist die von Jean Giraudoux, dessen Aurélie als Irre von Challiot bezeichnet wird. Diese lebt mit Kellnern, Straßensängern, Hausierern, Küchenmädchen, behinderten alten Frauen zusammen und zwar seit Jahrzehnten. Sie lebt wie in einer anderen Welt, ihre Mißachtung der realexistierenden drückt sich unter anderem darin aus, daß sie täglich nur eine einzige Zeitung liest, und zwar die vom 7. Oktober 1896, und sie ist - das ist erstaunlich für 1944 - Ökologistin "selbstredend ohne diesen Namen zu kennen. Sie haßt Benzin und Erdöl. Nichts schlimmeres kann sie über eine Person sagen, als daß diese Pflanzen oder Tiere schädigt. Sie ist stolz darauf, keinen Müll zu hinterlassen: sie verbrennt ihre abgeschnittenen Nägel und streut ihre Asche aus. Nach der Befreiung erscheinen Deputationen der Retter von Tierrassen und Pflanzenarten. Ebenso ist sie gegen Stadtsanierung und Vergeudungsproduktion". (S. 91)

Rolf Schwendter zieht aus beiden Geschichten folgendes Fazit: "Obgleich beide alte Damen von den sie beschreibenden Autoren in höchst verschiedene Lebensumstände gesetzt worden sind, haben sie doch so viel miteinander gemeinsam, daß von ersten Ansätzen des Alters als Gegennorm gesprochen werden kann: Beide ziehen aus der Tatsache ihrer verwertungsprozeßlichen Unbrauchbarkeit den Schluß, an die entsprechenden gesamtgesellschaftlichen Normen nicht mehr gebunden zu sein. Beide leben allein, haben aber lockere, sie befriedigende Kontakte zu Gruppierungen, die gesamtgesellschaftlich als nicht respektabel gelten. Beide geraten in gemäßigter Weise in ein politisch radikales Umfeld, die eine in ein sozialdemokratisches, die andere (wie wir heute sagen würden) in ein ökologisches (nebenbei sind beide zufälligerweise mit einem Küchenmädchen befreundet). Beide gestatten sich 'gewisse Freiheiten, die normative Leute gar nicht kennen', und bei beiden hängt dies mit der Durchbrechung linearer Zeitstrukturen zusammen... Beide schließlich zeichnen sich durch zunehmende Gleichgültigkeit gegen hochgeschätzte materielle Güter aus... Durch beide Frauengestalten zieht sich auch eine Art permanentes abweichendes Verhalten im Alltagsleben: Was der Einen Kino und Pferderennen bedeuten, ist für die Andere die Wertschätzung des Imaginären und die immer gleiche Zeitung." (S. 92/93)

Hartmut Diessenbachers Essay über Jean Améry belegt in mehrfacher Weise die These, daß nicht die "Abweichenden" in Frage gestellt werden sollten, sondern die Norm, von der abgewichen wird: Die Ausschaltung der Dialektik von Revolte und Resignation aus der herrschenden Gerontologie ist Sanktion dafür, eben auf dieser Dialektik zu bestehen. Der Abweichende - Jean Améry - wird totgeschwiegen, damit weder die Norm des Defizitären noch die "Mittelschichts"-Norm des kompetenten Alten hinterfragt werden muß. Daß diese Provokation von einem Menschen stammt, dessen Leben - Häftling in Auschwitz; linker Jude im nachfaschistischen Deutschland - und dessen Tod - theoretisch begründeter und praktisch selbst durchgeführter Freitod - scheint für die normangebenden Schichten dieser Gesellschaft so schwer verdaulich zu sein, daß sie Jean Améry am liebsten verdrängt und vergißt.

Von selbstbestimmtem Leben ausgeschlossen - so beschreibt Beate Dörr die Situation der Pflegenden, in großer Mehrzahl Frauen. Sinnvoll erfülltes Leben der Pflegenden wird zu Momenten, die zwischen der mühseligen und gesellschaftlich nicht anerkannten Pflegetätigkeit und den Restriktionen, die sich gegen die eigene Lebensgestaltung bilden, zermürbt werden. Die Überforderung der Pflegenden wird von diesen als eigenes Defizit erfahren und durch Mehrbelastungen auszugleichen versucht. Damit aber reproduzieren sie nolens volens die herrschende Logik der Sozialpolitik gegenüber Alten.

Die ideologische und materielle Bedeutung in der Produktion normativer Altersbilder untersucht Marianne Meinhold und kritisiert unter anderem, daß mit Metaphern wie "Überalterung" und "Frauenüberschuß" die Unfähigkeit der herrschenden Sozialpolitik verdeckt wird, alternative Modelle der Alterssicherung auch nur zu überlegen, geschweige denn ernsthaft anzugehen. Unter der Devise "Erfolgreich altern - Gesund sterben" werden Altenbilder propagiert, die die Ausgrenzung der am stärksten belasteten Menschen noch forcieren.

Daß die normativen Zumutungen der herrschenden Altersbilder durch Wissenschaft eher verdoppelt, denn kritisch aufgehellt werden, dafür ist das Thema Alterssexualität ein gutes Beispiel. Ingelore Ebberfeld kritisiert entsprechend die wissenschaftlichen und Alltagsvorstellungen von Sexualität insbesondere bei alten Frauen. Unter der Überschrift "Vermessene Alterssexualität bei Frauen - Abbild oder wissenschaftliche Vorstellung" stellt sie sowohl das "Messen" der Wissenschaft, als auch die Spezifik einer homogenisierenden Alterssexualität in Frage: Eine 75jährige Frau hat nicht eine altersspezifische Sexualität, sondern ihre Sexualität ist 75 Jahre alt geworden - mit sehr spezifischen Erfahrungen.

Daß Altern im Sinne von Ausscheiden aus dem Berufsleben auch immer etwas mit Entwertung zu tun hat, gilt sowohl in Ost wie in West. Von einer doppelten Entwertung berichten Denise Kraetsch, Karl-Otto Richter und Birgit Seering anhand ihrer Befragung von alten Menschen in Rostock, die sich - über Parteigrenzen hinweg - gegen die Kolonisierung ihrer Lebenswelt und ihrer Geschichte wehren. Bleibt zu hoffen, daß gerade die alten Menschen in der ehemaligen DDR, die nicht mehr über den Arbeitsplatzverlust erpreßbar sind, in Selbstorganisation ihre Interessen gegen die Westnormen zumindest in Ansätzen vertreten werden.

Weniger der politischen Aktion zugänglich als dem Weg der mühsamen Veränderung im Alltag sind die Normen des Wohnens. Ulrike Petersen schildert anschaulich die Erfahrung mit alternativen Wohnformen im Alter (und nicht nur von Alten allein) und stellt das "Forum für gemeinschaftliches Wohnen im Alter e.V." vor - denn ohne politische Aktion ändert sich auch hier nichts.

Der Bericht von Tim Köhler über das Sterben auf einer Intensivstation bzw. im Krankenhaus allgemein schildert, was wir alle wissen, aber nicht wahrhaben wollen: Das Sterben hat keinen gesellschaftlichen Ort, ist nicht einmal auf der Abrechnungsliste der Krankenkassen zu finden. Daß hier nicht subjektive "Versagen" das zentrale Problem ist, sondern die Feinmechanismen einer machtvollen totalen Institution, deren normative Wirkungsweisen nicht schrittweise, sondern nur durch Abschaffung außer Kraft gesetzt werden können, läßt noch einmal wieder die Frage nach den Normen bzw. deren Veränderung laut werden: Die Rückkehr des Sterbens in die gesellschaftliche Selbstverständlichkeit ist dann auch das Thema des abschließenden Essays von Edith Halves, die sich fragt, warum Frauen- und Gesundheitsbewegung es geschafft haben, die Geburt weitgehend der medizinischen Definition zu entziehen, beim Sterben aber erst in Ansätzen gesellschaftliche Reformulierungsversuche auszumachen sind.

Der für diese Nummer vorgesehene Beitrag von Ulli Otto über Seniorengenossenschaften erscheint leider erst in Heft 49.