Abgeschaut und mitgebaut?
Editorial
"...for there is no quality in this world that is not what it is merely by contrast. Nothing exists in itself."
Herman Melville, Moby Dick
Geneigte Leserin, geneigter Leser,
wer von uns wollte schon etwas gegen Qualität haben? Ein notorischer Nörgler, der Böses dabei denkt. Qualität ist das, was alle wollen.
Die Gleichung des common sense: Qualität = gut, wird auch in der Sozialen Arbeit und den Sozialen Diensten nicht in Zweifel gezogen. Denn Qualität fällt nicht vom Himmel. Sie ist das Resultat profaner irdischer Anstrengung, deshalb ein hohes Gut und bedarf der Sicherung. Und so gilt vielen, die Ärmel aufzukrempeln und mit der Sicherung zu beginnen als das Gebot der Stunde.
Sakrosankte Themen gibt es in der Sozialen Arbeit immer - so ganz generell die Hilfe - und immer wieder neu. Zuletzt war es die Prävention, die lange unbehelligt von Kritik als Fixstern am ideologischen Firmament moderner Sozialarbeit glänzte. Wer wolle denn ernsthaft behaupten, daß es nötig sei, daß das Kind erst in den Brunnen zu fallen habe? Da sei es doch sinnvoll, diesem beizubringen, daß es, bittesehr, Distanz zum Wasser zu internalisieren habe. Es mußte eine gewisse Zeit vergehen, bis derlei Alltagslogik, die wie alle Ideologien des gesunden Menschenverstandes einen wahren Kern hat, von der Erkenntnis abgelöst wurde, daß Soziale Arbeit einen spezifischen sozialstaatlich-institutionellen Kontext und eine spezifische Formbestimmung professionellen Handelns darstellt. Und weiterhin, daß eben diese kontextuellen Bedingungsfaktoren die selbstverständliche alltägliche Vorsorge und Voraussicht im Kontext der Logik (sozial)staatlicher Präventionsstrategien transformiert in eine neue Qualität des "vorverlegten Eingriffs" (Wolfgang Reichel; Manfred Max Wambach). Die in mancherlei Hinsicht gigantomane Vorstellung war die der intentionalen Machbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse mithilfe der neuesten Methoden der elektronischen Datenverarbeitung, die aus der vorsorglich unter Generalverdacht gestellten Gesamtbevölkerung anhand jeweils relevanter Indikatoren die Risikogruppen herauszudestillieren in der Lage seien. Die so identifizierten Risikopopulationen wären im Rahmen eines übergreifenden "gesellschaftssanitären" Projektes (Horst Herold, Präsident des BKA, 1980) sodann in prophylaktischer Absicht einer entsprechenden Behandlung zu unterziehen.
Nun geht es den Protagonisten von Qualität in den Bereichen öffentlicher Dienstleistungen wie der Sozialen Arbeit zunächst einmal nicht vordringlich darum, die Gesellschaft im großen Stile besser zu machen. Sie sind realistischer. Ihnen reichte schon, wenn die Organisationen so umgebaut würden, daß sie Qualität produzierten. Allerdings: strukturell dominiert hier die gleiche Omnipotenz-Vorstellung von der Machbarkeit sozialer Verhältnisse, die schon im Rahmen der sozialstaatlichen Präventionslogik eine zentrale Rolle eingenommen hatte: Es geht um die vollständige und nachhaltige Eliminierung der Störung. Mittels strukturierter Techniken des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung sowie des Controlling, so die Behauptung, seien die Einrichtungen Sozialer Arbeit so ausrichtbar, daß sie in der Tat die Ziele erreichten, die zu erfüllen sie angetreten seien. Werden die Ziele nicht erreicht, dann liegt dies im wesentlichen daran, daß die Methoden zur Sicherung der Qualität unzulänglich, daß Regelabläufe verletzt oder aber nicht mit dem notwendigen Nachdruck eingehalten werden. Als Ursache erscheint damit die mangelhafte Ausführung "neutraler Techniken"; allein deren konsequente Anwendung sei in der Lage, Qualität zu sichern.
Nun sind die Institutionen der Sozialen Arbeit in erster Linie soziale Institutionen, versehen mit einer gesellschaftlichen Funktion. Aber diese funktionale Beauftragung setzt sich prinzipiell nicht ungebrochen in den institutionellen Maßnahmen und den Handlungsstrategien der Professionellen durch: Sie werden je nach der relativen Stärke der jeweiligen Handlungskontexte gefiltert, zurückgewiesen, akzeptiert, unterlaufen und transformiert. So wird dann aus der gesellschaftlichen Beauftragung, Fürsorge bereitzustellen, die "Produktion von Fürsorglichkeit" (Stefan Wolff), also die auf Legitimation abzielende Herstellung des Anscheins von Fürsorge durch die Professionellen. Die Implementation neuer Politiken und Strategien trifft auf spezifische institutionelle Logiken, organisationelle Kulturen, professionelle Interessen und Vorstellungen von Handlungssinn, die eine je eigene Dynamik wie Resistenz aufweisen. Will sie erfolgreich sein, dann liegt der Schlüssel dazu in dem Grad der Herstellung von Übereinstimmung mit diesen spezifischen Interessen - womit wir wieder bei Kind und Brunnen und der Gleichsetzung von Qualitätssicherung und uneingeschränkter Wertschätzung angelangt wären - und damit beim Problem der Hegemonie.
In der Tradition der Gesellschaftsanalyse von Gramsci und Poulantzas können wir einerseits vor dem Hintergrund der Kritik funktionalistischer Vorstellungen, die das Handeln von Personen auf die Exekutierung gesellschaftlicher Funktionslogik reduzieren, davon ausgehen, daß das Handeln der Akteure nicht in der Logik der Funktionen aufgeht. Zum anderen geht die Analyse moderner kapitalistischer Gesellschaften in der Kritik staatsontologischer Staatstheorie davon aus, daß "der Staat" weder ein autonomes Subjekt, noch ein passives Instrument in der Hand der ökonomisch Herrschenden ist. Vielmehr stellt er ein konfliktorientiertes soziales Feld, eine "Arena" dar, in der die verschiedenen Akteure, jeweils ausgestattet mit je unterschiedlichen Machtressourcen, ihre Kämpfe führen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß sie aufgrund ihrer Position über je verschiedene Interessen und Machtpotentiale verfügen. Die empirisch immer wieder zu beobachtende Zustimmung der Subalternen zur Politik der Herrschenden trotz "objektiv" unterschiedlicher Interessenlagen verweist somit auf das Problem der "Hegemonie", d.h. die Anschlußfähigkeit der mächtigen Interessen an die alltäglichen Sinnhorizonte der übrigen Mitglieder einer Gesellschaft. Dies ist der Grund, der uns angesichts der allgemeinen Wertschätzung von Qualität sogleich irritieren muß. Denn je nach Positionierung der Akteure in der machtstrukturierten Arena des Sozialstaates und seiner Institutionen bedeutet Qualität etwas -manchmal vollständig - anderes. Geht es z.B. den öffentlichen Finanzierungsträgern mit der Thematisierung von Qualität(ssicherung) primär darum, Effizienzsteigerungen über die Re-Organisation Sozialer Dienste zu erzielen, so wird dies von den in den Techniken des Sozialmanagements geschulten Nachwuchsführungskräften als Chance zur Aufwertung ihres beruflichen Status' gewertet, erscheint es den Professionellen als Überwachungsinstrument und Herausforderung ihrer Berufsethik der "guten Arbeit", währenddessen bei den Klienten Sozialer Dienste die Frage nach dem tatsächlichen Nutzen und der Aufrechterhaltung ihrer Würde zentral ist. Die verschiedenen Interessenlagen gehen unter der Hegemonie des Qualitätsdiskurses Konstellationen und Amalgamierungen ein, die höchst widersprüchlich sind. Letztlich aber ist auch hier die Frage zentral: "Who defines?", welche Interessengruppe verfügt über die Machtressourcen, ihre Definition von Qualität in welchen Kompromißresultaten durchzusetzen?
Es ist eben nicht nur eine Frage der Terminologie, wenn die derzeitige Diskussion "Qualität" und nicht "gute Arbeit" oder den "Gebrauchswert" Sozialer Arbeit zum Thema macht. Diese Qualitätsdebatte ist auch keine, die von den Professionellen oder gar den Nutzern Sozialer Dienste angezettelt worden wäre. In der Tradition des Sozialmanagements und affirmativer Dienstleistungsansätze steht sie offensichtlich im Zentrum der Bemühungen zur Rationalisierung und Reorganisation des Sozialstaates. Dabei erledigt sie dreierlei auf einen Streich: So stellt sie einmal in organisatorischer Hinsicht ein probates Mittel zur Kontrolle der mittels contracting-out ausgelagerten Dienstleistungen auf dezentrale Träger dar, indem diese den Nachweis führen müssen, daß sie über Qualitätssicherungssysteme verfügen, die definierte Standards zu garantieren beanspruchen. Insofern ist die Existenz von Qualitätssicherungssystemen die Voraussetzung für die Neuen Steuerungsmodelle. Zweitens ist die Eliminierung von Störungen im internen Ablauf bei stagnierenden und reduzierten Sozialbudgets und erhöhtem quantitativen wie qualitativen Aufgabenanfall das wesentliche Mittel, um Effizienz zu erzielen. Der angestrebte Effekt der Qualitätsbemühungen findet nicht primär in den "Außenbeziehungen" zu den Nutzern der Dienste oder einer diffusen Öffentlichkeit seinen Niederschlag, sondern in der "internen" Steigerung der Effizienz der Dienstleistungsagentur. Und schließlich ist sie ein Projekt zur Legitimationsbeschaffung für einen angeschlagenen Sozialstaat, der angesichts der Spaltung der Gesellschaft von den ihm zur "Lösung" übertragenen Problemen überfordert wird und durch die Steigerung der Effektivität und Effizienz seiner Einrichtungen die Kritik an seinen Kosten unterlaufen will. In modernen kapitalistischen Staaten wird allgemein "Legitimation durch Verfahren" erzielt - die derzeitige Thematisierung von Qualität ist ein Beispiel par excellence. Nichts ist formaler als die Verfahren der Qualitätssicherung - paradigmatisch zu sehen an den Verfahren der Zertifizierung nach DIN-ISO 9000ff. Jede Frage nach der inhaltlichen 'Qualifizierung von Qualität' ist dort eliminiert: Zertifiziert wird, daß die untersuchte Organisationseinheit über Verfahren der Qualitätssicherung verfügt, die den Grad der Zielerreichung abbilden können und Optimierungen der organisationellen Arbeit ermöglichen, nicht mehr.
Die ausschließliche Ausrichtung der gegenwärtigen Qualitätsdebatte an der Implementation und Umsetzung von Verfahren der Qualitätssicherung dethematisiert und tabuisiert damit zugleich die inhaltliche Seite, also die Bedeutung Sozialer Arbeit in den je verschiedenen Kontexten. Unterstellt wird, daß es lediglich Verfahrensdefizite seien, die zu den real existierenden Formen der Dienstleistung führten. Die technizistische Vorstellung von der Herstellbarkeit institutioneller und organisationeller Rationalität mittels optimierbarer Verfahren im Verein mit der hohen allgemeinen Wertschätzung von "Qualität" tabuisiert damit sowohl die kontrovers zu verhandelnde Frage nach den Herrschaftsverhältnissen in der Sozialen Arbeit als auch die nach der Sinnhaftigkeit und Angemessenheit sozialpädagogischen Handelns.
Das vorliegende Heft begreift sich als ein Beitrag zur kritischen Analyse der gängigen Qualitätsdiskussion. Es steht in loser Reihung, aber in inhaltlicher Kontinuität zu den bisher vorgelegten Heften (Nr. 52, 53, 59) zur Debatte über "Dienstleistung" und den dort geführten Auseinandersetzungen.
Zu den Artikeln im einzelnen
Der Beitrag von Rudolph Bauer spannt einen weiten Bogen von dienstleistungstheoretischen Überlegungen über die Voraussetzungen verschiedener Qualitätsbegriffe hin zu einer Analyse der Grundlagen der aktuellen Vorstellungen über Qualitätssicherung. Seine umfassende Untersuchung basiert auf werttheoretischen Überlegungen, wie sie in der Kritik der politischen Ökonomie vorgelegt wurden, und schließt mit einer Differenzierung zwischen den für den Bereich der Ökonomie res
die Felder Sozialer Dienstleistungen konstitutiven Prinzipien, die eine umstandslose Ökonomisierung der Sozialen Arbeit nicht gestatten.
Barbara Rose weist anhand der Voraussetzungen, auf die die Einführung des Qualitätsmanagements in Gestalt der Neuen Steuerungsmodelle (NST) und des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) mit deren Aufforderung zur Bedarfs- und Outputorientierung trifft, nach, daß die betriebswirtschaftliche Logik des Qualitätsmanagements sich relativ problemlos an die in der Institutionenlogik der Sozialen Arbeit zum Ausdruck kommenden Planifikations- und Standardisierungstendenzen anschließt. Die "Neuen Steuerungssysteme" beförderten damit eher einen Rückfall in die längst überwunden geglaubte "Aktenführungsfachlichkeit", denn die Chance auf eine Reflexion dessen, was als normative Gehalte und damit inhaltlich gefüllte Qualitätsbestimmungen in die Vorstellungen der Professionellen von Guter Arbeit immer schon eingelassen sei.
Der (un)heimlichen Koketterie mit dem Steuerungsmodell des kybernetischen Regelkreises geht Michael Lindenberg in seiner Analyse gängiger Vorschläge zur Qualitätssicherung nach. Da Kunde und Anbieter sozialer Dienstleistungen wesentlich (immer noch) über gesetzliche Alimentierung und sozialstaatlichen Auftrag und eben nicht auf dem "freien Markt" 'zueinander finden', muß die intendierte Ökonomisierung der Sozialen Arbeit sich eines die heilsamen Wirkungen der Konkurrenz simulierenden Analogons bedienen. Doch noch jedes scheinbar selbstregulative System basiert auf einer immanenten Programmierung, sprich: der Festsetzung von Sollwerten und Zielvorgaben. Daß die Attraktivität des Qualitätsmanagements in Gestalt von ISO 9000ff.-Verfahren sich dem in Absetzung zur sozialstaatlichen Klientelisierung scheinbar bis zur Inhaltsleere gesteigerten Formalismus der Qualitäts'vorgaben' verdankt, gleichwohl die Form den Inhalt nicht unberührt läßt, ist die Ausgangsthese, von der aus Lindenberg die Widersprüchlichkeiten zwischen ökonomischem Funktionalismus, bürokratischen Kontrollnotwendigkeiten und normativen Prämissen der Sozialen Arbeit entwickelt.
Eberhard Bolay begründet seine Skepsis gegenüber dem naiven "Demokratisierungsversprechen" des Dienstleistungsgedankens in der Sozialen Arbeit aus einer subjekttheoretischen Perspektive. Die paradoxe Struktur der verberuflichten Hilfe führt systematisch zur Verzerrung der Interaktion zwischen Hilfesuchenden und Helfenden: ein subtiles "Spiel" wird "inszeniert", das zu verweigerter Anerkennung sowohl der Person wie der Anliegen von Hilfesuchenden führen kann. Die Hoffnung, Bedarfsorientierung und neue Verfahren der Qualitätsdefinition führten weg von entmündigender Expertokratie, erweist sich, beurteilt man sie vor dem Hintergrund der subjekttheoretischen Fallen, die in der inneren Logik der professionellen Hilfesituation angelegt sind, als problematisch.
In der Pflegeversicherung als aktuellem "Testfall" für die Anwendbarkeit des Qualitätsmanagements ist der mit dem Wechsel vom Bedarfs- zum Budgetierungsprinzip verbundene Primat der Beitragsstabilität, der in der Gesetzlichen Krankenversicherung ex post eingebaut wurde, von vornherein konstitutiv. Der gesetzlich verankerte Auftrag zur Qualitätssicherung und dessen Ausformulierung operiert damit zwar unter klaren Prämissen in Form von abrechenbaren, wohldefinierten "Leistungskomplexen", zeitigt jedoch kontradiktorische Folgen, indem Qualität - wie sich an einer Reihe von Elementen aus der Anwendung des Gesetzes in der Pflegepraxis zeigen läßt- gerade nicht gesichert wird. Resultat: "Piedestalpflege per Warenkatalog zur Förderung hegemonial-familialer Pflegebereitschaft" - so Berthold Dietz' Fazit.
In seinem Interview mit Bernd Maelicke trifft Michael Lindenberg auf eine pragmatisch-reformorientierte Variante zur Verteidigung des Qualitätsmanagements im Strafvollzug. Auch innerhalb des Widerspruchs zwischen staatlichem (Gewalt)Monopol auf Freiheitsentzug und Dienstleistungsorientierung könne, so sein Kontrahent, ein "Angebots- und Chancenvollzug unter humanen, rationalen und effektiven Kriterien verwirklicht werden". Wenn die Übelszufügung in der Freiheitsstrafe an sich liegt, moralische Sühneansprüche damit also abgegolten seien, dann bestünden Spielräume hinsichtlich der Modalitäten des Vollzugs, die es zu nutzen gelte.
Auf einer nur vordergründig abgelegenen Ebene geht Hans-Walter Gumbinger in seinem Forums-Beitrag einem, wenn nicht dem Basisproblem Sozialer Arbeit, der Frage nach dem Maßstab zur Begründung ihrer "Einmischung", nach. Anhand der Überlegungen Axel Honneths prüft er die Tragfälligkeit subjekt- und anerkennungstheoretischer Argumentationen und läßt sich so an Eberhard Bolays Beitrag zur "paradoxen Grundstruktur" professioneller sozialer Hilfebeziehungen anschließen.
Die Redaktion