68 wird 30 - Zur Kontinuität eines Bruches

Editorial

1968 ist längst schon nicht mehr nur eine Jahreszahl. 1968 ist ein Code. Und je nach gesellschaftlicher, politischer oder kultureller Position steht "'68" für unterschiedliche bis widersprüchliche Codierungen. Eines aber ist all diesen Codes gemeinsam: 1968 steht immer für einen Bruch mit den vorherigen Jahren. Manchen ist dieser Bruch nicht radikal genug gelungen, anderen ging er viel zu weit. Da ein Bruch immer einen Bezug zu einer Kontinuität haben muß, lassen sich die wundersamsten Kombinationen unterscheiden. Liegt der Bezugspunkt der Kontinuität in der autoritär-faschistischen Tradition des deutschen Klein- und Bildungsbürgertums, dann bezieht sich der Bruch auf die antiautoritären (Selbst-) Deutungen; bezieht sich die Kontinuität auf die Modernisierung kapitalistischer Hegemonie, dann läßt sich der Bruch als Beschleuniger eben dieser Modernisierung deuten. In eine ähnliche Richtung geht die Kennzeichnung von '68 als Ende der Nachkriegszeit, in eine andere der Vorwurf an '68, daß seit diesem Zeitpunkt die Antiautoritären für einen Werteverfall gesorgt hätten, der ursächlich für die heutigen neonazistischen jugendlichen Gewalttätigkeiten sei. Auch biographisch gibt es eine große Spannbreite von Deutungen. Manche wurden '68 so dogmatisch "undogmatisch", daß sie in den achtziger Jahren ihren ML-Dogmatismus gegen einen nationalistischen oder gar faschistischen Dogmatismus austauschen konnten - hier ist also der Dogmatismus die Kontinuität. Andere eilten von einem Bruch zum anderen und sind nun glücklich in einer bruchlosen Postmoderne angelangt, in der alles geht und alles richtig und falsch zugleich ist. Und noch eines ist allen Deutungen gemeinsam: jede hält sich für die einzig richtige. Andere Deutungen sind entweder die der unbelehrbaren Alt-68er oder die der Wendehälse verschiedener Brüche und Wenden.

Auch in der Redaktion dieser Zeitschrift gibt es keine "gemeinsame Linie", aber gemeinsam ist uns ein eher bejahender Bezug auf die von uns interpretierten Kontinuitätslinien. Wenn nach Paulo Freire die Codierung eines begrifflichen Universums die Dimensionen sinnlich und erfahrbar herausarbeitet, die für die Akteure von besonderer Bedeutung sind, und die Decodierung die Aneignung dieser Codes in einer neuen Kombination und Sinndeutung ist, dann liegt für uns die Kontinuität des Bruches in drei solchen Decodierungen. Diese Kontinuitätslinien sind für uns zugleich die Stränge, an denen sich die publizistische Arbeit der Zeitschrift orientiert. Diese Kontinuitäten lauten Subjekthaftigkeit, Demokratisierung und Gleichheit als Basis für Differenz.

Die biographisch und theoretisch leitende Decodierung von '68 ist für uns zweifelsohne die "Wiederentdeckung" der kollektiven und individuellen Subjekthaftigkeit der Akteure. Von der Parole "das Private ist politisch" bis hin zu den vielfältigen Praxen zahlreicher formeller und informeller Sozialitäten lassen sich dafür viele Belege finden. Diese Interpretation von Subjekt-sein enthielt und enthält immer zugleich auch eine Kritik der beiden grundlegenden Vergesellschaftungsformen der bürgerlichen Gesellschaft: der kleinbürgerlichen Familienstruktur und des kapitalistischen Staates als hegemonialer Formen, den beiden großen Garanten des bürgerlichen way of life.

Willy Brandts nie realisierte Parole: "Mehr Demokratie wagen!" wurde von Oskar Negt um die Aufforderung erweitert: "Nicht nach Köpfen, sondern nach Interessen organisieren". Die damit verbundene Option einer Demokratisierung aller Lebensbereiche und aller Konfliktarenen der Gesellschaft ist nach unserer Auffassung das verbindende Band aller sozialen Bewegungen seit '68 - von der Studenten- über die Frauen- bis hin zur Ökologie- und Friedensbewegung.

Daß die neue Subjektivität nicht ohne radikalen Bruch mit den autoritären Charakteren des Faschismus zu haben ist, war für viele von uns auch eine biographische Einsicht und prägende Erkenntnis. Daß diese ebenso wie alle Formen demokratischer Organisationen nur auf der Basis einer radikalen Gleichheit (und nicht von weniger Ungleichheit) zu haben ist, davon zeugen nicht nur die vielen Wohngemeinschaften, selbstorganisierten Projekte und als Widerstandsformen gegründeten politischen Gruppierungen. Insbesondere die Frauenbewegung, aber auch die Schwulenbewegung geben dafür ein Beispiel. Die Betonung der Differenz in all diesen Lebensformen und Bewegungen macht praktisch wie theoretisch nur auf der Basis einer grundlegenden Gleichheit aller Lebensentwürfe und Praxen Sinn. Diese grundlegende Gleichheit kann in einer auf Ungleichheit basierenden Gesellschaft immer nur als Utopie "getagträumt" werden. Für alle drei Codierungen gilt Adornos Diktum, daß es "kein richtiges Leben im falschen" geben kann, aber auch Peter Brückners Erwiderung, daß aber immerhin ein "richtigeres" praktiziert werden sollte.

Unter dieser Fragestellung - welche Kontinuitäten der Bruch von '68 hervorgebracht hat - haben wir die Autorinnen und Autoren dieses Heftes angeschrieben und gebeten, sich mit diesen Decodierungen auseinanderzusetzen. Jede Leserin und jeder Leser wird je nach Hintergrund und eigener Positionierung ihre oder seine eigenen Interpretationen zu der Frage entwickeln, ob es in den Beiträgen gelungen ist, die Kontinuitäten des Bruches produktiv weiter zu entwickeln. U.E. liegt das gemeinsame Band der unterschiedlichen, teils auch gegensätzlichen Beiträge in den verschieden akzentuierten Aspekten von Subjekthaftigkeit, Demokratisierung und Differenz ermöglichender Egalität.

Zu den Beiträgen im einzelnen

Das Verbindende der ersten vier Essays ist der wissenschaftlich-universitäre Hintergrund der AutorInnen, das Unterschiedliche die biographisch-politischen Positionen. C.W. Müller (Jahrgang 1928) stellt den Bruch von '68 in die Kontinuität der von John Dewey repräsentierten Tradition nordamerikanischer demokratischer Pädagogik, Inga Kypke (Jahrgang 1944) zeichnet den biographisch-politischen und biographisch-wissenschaftlichen Bruch von '68 nach und läßt erahnen, wie schwer und ambivalent die Emanzipation aus einem faschistischen Familienhintergrund ist. Hier setzt Tjark Kunstreich (Jahrgang 1966) an und fragt kritisch nach, ob der Bruch von '68 tatsächlich Auschwitz verarbeitet habe. Maitreya Gipser (Jahrgang 1975) schließlich macht deutlich, daß es dem Bruch von '68 augenscheinlich nicht gelungen ist, eine eigenständige Kontinuität erfahrbar zu machen.

Roland Roth eröffnet den zweiten Teil des Schwerpunkts mit einem Überblick über den Zusammenhang von Sozialpolitik und gesellschaftlichen Bewegungen in der Zeit nach '68, der zusammen mit den Essays von Müller, Kypke und Kunstreich zugleich auch als die Thematisierung von '68 in dem einen gesellschaftlichen Reproduktionsfeld gelesen werden kann - der Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Die anderen beiden Felder - Gesundheitswesen und Schule - werden von Heiner Keupp am Beispiel der Psychiatrie und von Wilfried Manke und anderen am Beispiel der Schule reflektiert. Während Keupp den Schwerpunkt auf den in seiner Person vermittelten Zusammenhang von 68er-Generation und Psychiatriereform exemplarisch hervorhebt, knüpft Wilfried Manke in Form eines Briefwechsels mit GenossInnen aus dem damaligen ARBEITSFELD SCHULE an Positionen um 1980 an, die die Offenheiten und Ambivalenzen, aber auch die Produktivitäten der bildungspolitischen Auseinandersetzungen der letzten 30 Jahre deutlich machen. Michael Daxner schließt diesen Band mit einer kritischen Positionsbestimmung des hegemonialen "Kampffeldes" Universität ab, das ein wesentliches Element der Verbindung der hier vorgestellten Akteure und Akteurinnen ist.

Die Redaktion ist sich bewußt, daß sie mit dieser Schwerpunktsetzung zu '68 und dieser AutorInnen- und Themenwahl viele andere Erfahrungen und Bezugspunkte zu '68 nicht thematisiert hat. Das trifft insbesondere auf die Bedeutung von 1968 in der ehemaligen DDR zu. Wir können dieses Manko hier nur feststellen. In der Diskussion um dieses Thema waren wir zu sehr mit unseren eigenen Bezügen zu '68 beschäftigt, als daß wir diese Ausgrenzung frühzeitig bemerkt hätten. Als wir das Fehlen ostdeutscher AutorInnen konstatierten, war es zu spät: Das Heft war voll, der Redaktionsschluß war verstrichen. Wir nehmen das als Ausdruck der realen Spaltung und hoffen, in Zukunft derartige Ausblendungen zu vermeiden, indem wir mit Autorinnen und Autoren aus dem links-oppositionellen Milieu Ostdeutschlands stärker kooperieren. Denn eigentlich wissen wir ja: Die Grenze verläuft nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Bejahung und Kritik hegemonialer Verhältnisse.

Die Redaktion