Zivilgesellschaft
Der Begriff der Zivilgesellschaft ist mittlerweile in aller Munde. Während der achtziger Jahre kam er über die Oppositionellen Osteuropas zu den Intellektuellen im Westen. Dort stand er zwar vage, aber doch noch politisch identifizierbar für die Umorientierung der Linken weg von Klasse und Staat, hin auf soziale Bewegungen, Selbstorganisation und politische Öffentlichkeit. Das änderte sich in den neunziger Jahren: Ob der Bundespräsident in Festtagsreden das karitative Engagement von Bürgern lobt, Wirtschaftsverbände den Abbau des Sozialstaates fordern oder Schröder seine wirtschaftsfreundliche Politik der Neuen Mitte programmatisch veredeln möchte, die Zivilgesellschaft ist immer mitten dabei.
Popularität und Klarheit verhalten sich in dieser Erfolgsgeschichte allerdings umgekehrt proportional zueinander. Unumstritten ist nur, dass die Zivilgesellschaft einen Bereich freiwilliger Zusammenschlüsse und Initiativen zwischen Privatbereich und Staat bezeichnet, dem allerlei positive Effekte zugeschrieben werden (vgl. die im Text aufgeführten Definitionen).
Derartige Unschärfen sind die Regel, wenn ein politischer Begriff zur Parole des Zeitgeistes wird. Im Falle der Zivilgesellschaft liegen unterschiedliche, ja gegensätzliche semantische Bedeutungen aber auch schon deshalb nahe, weil der Begriff aus rivalisierenden ideengeschichtlichen Traditionen stammt. Der folgende Beitrag wird die Begriffs- und Ideengeschichte thematisieren, aber nur soweit, wie es mir erforderlich scheint, um die politischen Probleme seiner derzeitigen Verwendung besser beleuchten zu können. Meine Hauptthese wird lauten, dass, entgegen den mit seiner Wiederentdeckung ursprünglich verbundenen Intentionen, der Begriff der Zivilgesellschaft heute zum Vehikel einer weiteren Funktionalisierung und Entpolitisierung der Gesellschaft zu werden droht.
Die Entdeckung der Zivilgesellschaft als politischer Handlungsraum
Zunächst ist jedoch festzuhalten, dass die während der achtziger Jahre einsetzende Entdeckung der Zivilgesellschaft aufs engste mit der Hoffnung auf neue politische Handlungsmöglichkeiten verbunden war. Das gilt zunächst einmal für die Länder Ostmitteleuropas, in denen die intellektuelle Opposition eine Demokratisierung des Sozialismus nach dem Scheitern des Prager Frühlings nicht länger von innerparteilichen Reformern erwartete, sondern daran ging, um ein unabhängiges Leben der Gesellschaft (Vaclav Havel) zu kämpfen. Selbstverständlich war dieser Aufbau von Gegenstrukturen in einem Herrschaftssystem, das den Anspruch erhob, alle Lebensbereiche seinen übergeordneten Zielsetzungen zu unterwerfen, eminent politisch. Das galt für unabhängige Gewerkschaften ebenso wie für Menschenrechtsgruppen, Samisdatpublikationen oder kirchliche Friedensgruppen. Die zweite, unabhängige oder wie sie relativ spät dann auch genannt wurde, die zivile Gesellschaft konnte in einem emphatischen Sinne als selbstbestimmt gelten, solange es ihr nur gelang, sich dem direkten Zugriff der Einparteienherrschaft zu entziehen. Das Verhältnis der entstehenden Strukturen und Handlungsräume zur Ökonomie und zu institutionalisierten Formen der Politik brauchte vor dem Zusammenbruch des Kommunismus nicht sonderlich zu interessieren. Allein ihre Existenz bestritt den Führungsanspruch der Partei und unterhöhlte deren Legitimation.
In Westeuropa und Nordamerika ging die Übernahme des Begriffs der Zivilgesellschaft zeitlich mit der Distanzierung der Linken vom Marxismus einher. Kritiker dieser Entwicklung wie Wolf-Dieter Narr und Joachim Hirsch haben sie als ein Phänomen der Resignation, als Abschied von einer gesellschaftsverändernden Perspektive angeprangert (etwa Hirsch 1997; Narr 1991). Der damit erhobene Vorwurf des intellektuellen Opportunismus übersieht jedoch, daß ganz im Gegenteil die Umorientierung der Linken auf eine Stärkung der Zivilgesellschaft praktische Handlungsmöglichkeiten versprach, die ein auf Kapitalismuskritik und Klassenkampf setzender Marxismus nur noch in längst lächerlich gewordenen historischen Kostümierungen, als Parodie auf den Klassenkampf vergangener Zeiten anzubieten hatte. Die in den siebziger und achtziger Jahren entstandenen Initiativen und Bewegungen konnten plausibel als eine in sich plurale gesellschaftliche Gegenmacht interpretiert werden, von der aus sich staatliches Handeln zwar indirekt, aber doch wirkungsvoller beeinflussen ließe als über die vermachteten Parteien und Verbände. Und gegen die Resignation der systemtheoretischen Aufklärung, die an die Stelle politischer Perspektiven das Fortschreiten der funktionalen Ausdifferenzierung von Teilsystemen setzt, verband sich mit einem zivilgesellschaftlichen Demokratieverständnis der Anspruch, in den Netzwerken und Teilöffentlichkeiten einen Ort zu bestimmen, von dem aus die Gesellschaft reflexiv auf sich selbst einwirken könne, auch ohne sie als einheitliches Kollektivsubjekt vorstellen und organisieren zu müssen. Schließlich lässt sich mit einigem Recht behaupten, dass gerade die deutsche Linke erst im Zusammenhang mit der zivilgesellschaftlichen Umorientierung die marxismustypische Auflösung des Politischen in ökonomische Interessen aufgab und Politik als eigenen Handlungsbereich entdeckte.
Allerdings stand der zivilgesellschaftliche Diskurs von Beginn an im Zeichen zweier grundsätzlicher Unklarheiten. Die erste betrifft das Verhältnis der zivilgesellschaftlichen Strukturen zur Politik im engeren Sinn, d.h. zur politischen Willensbildung und zum Handeln staatlicher Institutionen. Der Anti-Institutionalismus der zivilgesellschaftlichen Orientierung blendet aus, wie sich gesellschaftliche Meinungsbildung in politische Entscheidungen und staatliches Handeln umsetzen lässt. Die zweite, von marxistischen Kritikern gern unterstrichene Schwäche der zivilgesellschaftlichen Orientierung liegt in der Herauslösung des öffentlichen Handlungsraumes aus sozialen und ökonomischen Bezügen. Liberale, kommunitaristische und diskurstheoretische Ansätze charakterisieren bei allen Unterschieden die Zivilgesellschaft als Raum des Verkehrs zwischen Freien und Gleichen. Unklar bleibt, wie weit es hier um ein normatives Verständnis oder um die analytische Charakterisierung eines von der Ökonomie zu unterscheidenden Handlungsraumes geht. Um dem Vorwurf zu begegnen, dem - marxistisch gesprochen - ideologischen Schein der bürgerlichen Gesellschaft aufzusitzen, wäre sowohl normativ wie analytisch das Verhältnis der Zivilgesellschaft zur sozioökonomischen Ungleichheit zu bestimmen. Beide Unklarheiten lassen sich nun allerdings nicht ohne weiteres beseitigen. Sie sind nicht nur dem Konzept der Zivilgesellschaft immanent, sondern reflektieren auch ein grundlegendes Problem der modernen Gesellschaft. Dieser Zusammenhang lässt sich am besten durch einen kurzen Exkurs in die Begriffsgeschichte verdeutlichen. Dazu müssen wir allerdings sehr weit, nämlich bis zur politischen Philosophie des Aristoteles zurückgehen.
Politische, wirtschaftliche oder assoziative Zivilgesellschaft
Aristoteles bestimmt den Menschen bekanntlich als zoon politikon (Aristoteles 1994: 1253 A). Im Lateinischen wurde daraus das animal sociale, der Mensch als ein soziales, auf Zusammenleben mit anderen hin angelegtes Lebewesen. Diese Lesart nimmt der aristotelischen Position jedoch ihre eigentliche Pointe. Wenn Aristoteles die menschliche Natur als politisch bestimmt, so meint er damit, dass unter den empirisch vorfindbaren Gemeinschaften eine in ganz besonderer Weise der Natur des Menschen entspricht, nämlich die koinonia politike, die herrschaftsfreie Assoziation freier und gleicher Bürger. Diese politische Gemeinschaft heißt in der lateinischen Übersetzung societas civilis, englisch civil society und im Deutschen ursprünglich bürgerliche Gesellschaft. Bleiben wir jedoch erst einmal bei Aristoteles. Seine koinonia politike bezeichnet eine Form des politischen Zusammenlebens, die sich von Herrschaft im deutschen Wortsinn grundsätzlich unterscheidet. Wenn wir im Deutschen von verschiedenen politischen Gemeinwesen als Herrschaftsformen sprechen, etwa von der Demokratie, der Monarchie oder Aristokratie, verwischen wir, worum es Aristoteles mit seiner Bürgergesellschaft ging: nämlich um ein Gemeinwesen ohne Herrschaft. Im deutschen Begriff der Herrschaft steckt der Herr, und wo es einen Herr gibt, gibt es logischerweise auch Knechte. Anders gesagt, das Politische wird nach dem Muster der Befehls-Gehorsamsbeziehung gedacht. Von einer solchen asymmetrischen Beziehung wollte Aristoteles seine Idealform des politischen Zusammenlebens aber gerade abgrenzen. Herrschaft hatte für ihn ihren Platz im Haushalt, im Verhältnis des Patriarchen zu Frau, Kindern und Sklaven. Darauf bezogen spricht er von Despotie, politisch dagegen nennt er das Regieren unter Freien und Gleichen. Deren Verhältnis untereinander beruht nicht auf Gewalt und Unterdrückung, sondern auf Recht und wechselseitiger Anerkennung. Die eigentlichen Herrschaftsverhältnisse des Haushalts werden von Aristoteles dagegen naturalisiert und bleiben aus seinem Politikbegriff ausgeklammert. Insofern lässt sich die aristotelische Sicht der Polis nicht auf heutige Gesellschaften übertragen. Freiheit, Gleichheit, die Verkehrsform des Rechts sowie Autonomie oder Selbstbestimmung bilden dennoch entscheidende Charakteristika der aristotelischen Bürgergesellschaft, die sich bis heute in allen Versionen der Zivilgesellschaft als normative Elemente wiederfinden lassen.
Im Gegensatz zur republikanischen, auf Aristoteles zurückgehenden Tradition wird in der Neuzeit die Zivilgesellschaft oder societas civilis nicht mehr mit der politischen Gemeinschaft oder dem Staat identifiziert, sondern ihm vorausgesetzt oder gar entgegengestellt. Das lässt sich am besten am Denken John Lockes verdeutlichen. Seine Kritik am absolutistischen Staat basiert auf der Annahme eines vorpolitischen gesellschaftlichen Naturzustandes. In diesem Zustand produzieren und tauschen die Menschen und orientieren sich an ihrer natürlichen Vernunft (vgl. auch Taylor 1991). Sie sind insofern gleich, als sie keine Privilegien genießen und zwischen ihnen keine Autoritätsverhältnisse vorausgesetzt werden können. Eine politische Gemeinschaft gründen sie qua Vertrag, um die Sicherheitsmängel des Naturzustandes zu beheben. Unschwer scheint durch Lockes Argumentation die bürgerliche Gesellschaft im sozialökonomischen Sinne durch, die bereits als Wirtschaftsgesellschaft integriert ist, aber eines positiven Rechts und staatlichen Schutzes bedarf. In der weiteren Entwicklung des liberalen Denkens bezeichnet Zivil- oder bürgerliche Gesellschaft dann nicht mehr die politische Gemeinschaft, sondern diesen vorpolitischen Bereich. Er gilt nun als Ort der Freiheit und Gleichheit, der gegen staatliche Übergriffe zu schützen ist. Freiheit bezeichnet nun auch nicht mehr die aktive Mitgestaltung der res publica, sondern beginnt für den Bürger dort, wo die Politik aufhört.
Schon bald nach Locke, und lange vor Marx, nimmt das politische Denken einen grundlegenden Widerspruch dieser vorpolitischen Gesellschaft wahr: Sie ist eben nicht nur ein Bereich der Freiheit, Gleichheit und der natürlichen Vernunft, sondern ein Ort der Konkurrenz, der sich wechselseitig instrumentalisierenden Partikularinteressen, der ökonomischen Ungleichheit und der Entfremdung. Dagegen richtet sich Jean-Jacques Rousseaus Vorstellung, durch eine an der antiken Polis orientierte Wiederherstellung des Primats der Politik die Vermögensdifferenzen demokratisch zu begrenzen und die Dynamik der freigesetzten Produktions- und Bedürfnisentwicklung durch den politischen Souverän zu kontrollieren. Dazu bedarf es eines allgemeinen Willens, der volonté générale, der sich der Einzelne unterzuordnen hat. Die Republik Rousseaus konstituiert sich als Moral- oder Kollektivkörper. Die antiplurale Tendenz dieser Lösung, ihre Anfälligkeit für eine gewaltsame Durchsetzung des postulierten Allgemeinwohls ist hinreichend bekannt. Und obwohl Marx meinte, eine herrschaftsfreie Aussöhnung von Allgemein- und Partikularinteresse könne gelingen, wenn man den Idealismus Rousseaus überwinde und in den materiellen Verhältnissen der Produktion die Grundlagen von Egoismus und Ungleichheit beseitige, hat gerade der Sozialismus den totalitären Kern der erstrebten Wiederherstellung einer Einheit von Allgemein- und Partikularinteresse freigelegt.
Gegen Rousseau setzten die liberalen schottischen Moralphilosophen nicht auf eine Wiederbelebung der antiken Polis, sondern auf gesellschaftsimmanente Kräfte als Gegengewicht zum Egoismus der Individuen (vgl. dazu Seligman 1992). Sprichwörtlich ist die unsichtbare Hand, von deren wohltuender Wirkung Adam Smith erwartet, dass sie die Verfolgung von Einzelinteressen in einem quasi automatischen Prozess in die Förderung des Allgemeinwohls verwandelt. Über Smiths berühmtem Zitat wird allerdings gern übersehen, dass die klassischen Liberalen nicht auf einen systemischen Prozess im modernen Sinn setzten. Die ökonomische Aktivität selbst hat bei Smith nämlich einen ethischen Grund, sie ist Ausdruck des Bedürfnisses der Menschen nach sozialer Anerkennung. Das erlaubt es ihm, natürliche Sympathie und ethische Gefühle (moral sentiments) als Gegenkräfte zu einer wechselseitigen Instrumentalisierung der Individuen zu benennen. So kann er (theoretisch) Ethik und Ökonomie in der (Wirtschafts-)Gesellschaft selbst zusammenführen. Der positiven Anthropologie der Aufklärung, die hinter dieser Einbettung instrumenteller Vernunft in eine Ethik wechselseitiger Anerkennung steht, werden wir nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts kaum mehr zustimmen können. Lange zuvor zeigte aber schon die sozialökonomische Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften, daß eine solche Synthese innergesellschaftlich nicht geleistet wird. Der Kapitalismus schafft Reichtum, indem er dessen Springquellen, die Erde und den Arbeiter untergräbt (Marx).
Eine dritte Traditionslinie des politischen Denkens siedelt die Zivilgesellschaft in einer Sphäre zwischen Wirtschaftsgesellschaft und Staat an. Dafür lassen sich Anhaltspunkte in den unabhängigen Körperschaften, den corps intermediaire bei Montesquieu finden, vor allem aber im Denken Charles de Tocquevilles. In seiner Analyse der Demokratie in den Vereinigten Staaten beschreibt Tocqueville die freiwilligen Assoziationen der Bürger als entscheidende Innovation der amerikanischen Demokratie. Nicht zuletzt ihnen sei es zu verdanken, dass Amerika das französische Schicksal eines nachrevolutionären Scheiterns der Demokratie erspart blieb. Unter den Bedingungen einer auf rechtlicher und politischer Gleichheit basierenden Gesellschaft ersetzen Assoziationen die Körperschaften und den Adel des Ancien R