Zerstörung der Autonomie
Abstract
Die wissenschaftlichen Hochschulen und Fachhochschulen haben das von Brüssel vorgegebene Datum zur nationalen Transformation der Hochschullandschaft mit dem Jahreswechsel 2010 erreicht. Auf dem Weg nach Bologna, der im Juni 1999 mit der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung durch 29 europäische Staaten begann, wurde gebummelt, überhastet gehandelt und bildungspolitisch gegängelt. Die konsekutiven Studiengänge sind trotz Umwegen und Ressourcenmangel hochschulpolitische Realität. Eine erste Bilanz zeigt: Die Gruppe der Befürworter ist klein, die Zahl der Bologna-Kritiker wächst von Semester zu Semester. Die mit der ordnungspolitischen Transformation verbundenen Erwartungen erweisen sich nach rund zehn Jahren im Praxistest als überzogen, zynisch und irreführend. Die Situation ist ordnungs- und hochschulpolitisch unübersichtlich. Sowohl die Autonomie als auch die Autorität der Hochschulen stehen zur Disposition. Die mit dem Bologna-Prozess initiierte Verlagerung hochschulpolitischer Entscheidungen an externe Gremien entmachtet die Fachkulturen und degradiert Fakultäten sowie Institute zu einem bürokratischen Annex. Auf diesem Hintergrund erlangen die vorgetragenen Klagen eine neue Schärfe. Die Verschulung akademischer Ausbildung, erhöhter Leistungsdruck, die Blockierung von Mobilität, rechtliche Systemfehler, curriculare Einfalt statt Vielfalt usf. bilden einen Kranz von Ungereimtheiten, der den institutionellen Transformationsprozess in seiner gesamtgesellschaftlichen Dimension in Frage stellt. Die ordnungspolitische Top-Down-Innovation hat mit der Implementation des angelsächsischen Bildungssystems nicht nur Auswirkungen auf die deutsche Hochschulverfassung, mit der Konvergenz von Bologna-Prozess auf der einen und Kopenhagen-Lissabon-Prozess auf der anderen Seite zielt sie auf die Umgestaltung der europäischen Arbeitsmärkte. Obschon die Transformation des deutschen Bildungs- und Hochschulsystems auch als Chance begriffen wird (Herbert/Kaube 2008, Lack/Markschies 2008) überwiegt die Kritik (GEW 2008, Hartmann 2010, Himmelrath 2009, Lieb 2009, Münch 2009, 2010; Negt/Klausnitzer 2003; Scholz/Stein 2009). - Den Hochschulen droht ein doppelter Autonomieverlust. Mit der Etablierung eines neuen Steuerungsmodells geht die Autonomie der Fachkulturen dahin, mit der Verbetriebswirtschaftlichung des Hochschulalltags die Autonomie der Subjekte mit Konsequenzen für Studium, Lehre und Forschung. Die Widersprüchlichkeiten dieses ökonomisch grundierten Transformationsprozesses aufzuzeigen, ist Ziel des Beitrags. Deshalb soll zunächst die neue Phase der Systemsteuerung des deutschen Hochschulsystems in Ansätzen beleuchtet werden (Kap. 2). In einem zweiten Schritt soll die hochschulpolitische Arena begutachtet und das Zusammenspiel von Fachkulturen bzw. Fachgesellschaften und externen Steuerungsagenturen im Rahmen von Deregulierung, Entstaatlichung, Bürokratisierung und Konvergenz der Fachkulturen thematisiert werden (Kap. 3). Die Orientierung an wissenschaftlichen Standards der Natur- und Ingenieurwissenschaften steht dabei mit einem Vergleich von Geistes- und Ingenieurwissenschaft im Mittelpunkt. Abschließend soll das Nachdenken über Alternativen der politisch verkündeten Alternativlosigkeit die Grundlage entziehen (Kap. 4).