Wie Männlichkeit und Fremdenfeindlichkeit zusammengehen

Sind Rassisten die besseren Männer? Ist Rassismus eine Praktik, um männliche Identitätsansprüche durchzusetzen? Im vorliegenden Beitrag argumentieren wir, daß Identitäten durch alltägliche Praktiken als geschlechtliche, ethnische Klassenidentitäten hergestellt werden und dabei vor dem Hintergrund kollektiver Identitäten ihre je spezifische Bedeutung annehmen. Kulturelle Identität und Geschlecht durchkreuzen und überlagern sich; solche Bedeutungsfixierungen und Repräsentationen sind niemals abgeschlossen, sondern immer aufgeschoben und verschoben. Rassismus ist eine Praktik, um Bedeutungen zu fixieren; allerdings wird dadurch nicht nur die eigene ethnische oder kulturelle Identität konstruiert, sondern z.B. auch eine männliche. Wir versuchen, Männlichkeit zu analysieren, ohne einerseits in die Falle biologistischer Zirkelschlüsse zu tappen, ohne aber andererseits die bestehende männliche Dominanz in ihren unterschiedlichen Spielarten zu leugnen oder zu marginalisieren. Dazu bedienen wir uns der Begriffe Dominanz, Artikulation und Identitätspraktik. Diese theoretischen Überlegungen versuchen wir im zweiten Teil des Artikels an einem Beispiel aus unserem Forschungsprojekt "Männlichkeit und Rassismus" zu belegen, das wir mit Jugendlichen beiderlei Geschlechts und unterschiedlicher ethnischer Herkunft durchführen. (1)

Geschlecht als Kombination (und andere Vorbemerkungen)

Lana Rakow (1986) bringt die prozeßhafte Alltäglichkeit von Geschlecht auf den Punkt: "Gender is something we do and think with." Unsere Vorannahme ist, daß Identität kein wie immer fixiertes oder definiertes Wesen des Menschen ist, das einmal mehr, einmal weniger verzerrt ausgedrückt wird, sondern ein symbolisches und imaginäres handlungsleitendes Konstrukt, das in alltäglichen Praktiken hergestellt, definiert und verändert wird. In diesen Praktiken werden verschiedene soziale Dimensionen kombiniert. Das heißt, daß jede Identitätspraktik immer zugleich Aussagen über eine ethnische, geschlechtliche, altersspezifische und Klassendimension zuläßt. Diese Dimensionen sind in bezug auf die je konkrete Identität unteilbar. Werden diese Kategorien in einem analytischen Prozeß getrennt und sexistische oder rassistische Anteile herausgelöst, dann, so vermuten wir, gerät ihre wesentliche Funktionslogik aus dem Blick. (2) Es geht uns daher darum, zu beschreiben, wie diese Kategorien miteinander artikuliert und/oder durcheinander ersetzt werden, wie einzelne Aspekte zur Legitimation anderer eingesetzt werden können, in welchem Kontext welche Dimension mit welcher Bedeutung versehen wird.

Da wir soziale Prozesse aus der Perspektive ihrer AkteurInnen betrachten, kann die Herstellung von Identitäten nicht nur als Negation, also Ausgrenzung eines jeweilig anderen verstanden werden: Männlickeit bildet sich nicht nur durch den Ausschluß des Weiblichen, kulturelle Identität nicht nur durch die Abwertung von AusländerInnen. Die "Positivität" von (dominanten) Identitäten ist anscheinend zugleich ihre Unsichtbarkeit, meint also vor allem jene Praktiken, die als selbstverständlich und normal gelten. Die Identität "Inländer" wird zum Beispiel wesentlich davon bestimmt, daß Räume und Ressourcen selbstverständlich in Anspruch genommen, als natürliches Recht angesehen werden.

Positivität meint aber auch, ImmigrantInnen nicht nur in Bezug auf das Dominante, also als minoritär, fremd oder nicht-integriert zu definieren. Dabei beziehen wir uns auf den Begriff der "Hybridität", wie er im Rahmen von Cultural und Postcolonial Studies verwendet wird (vgl. Morley/Chen 1996, Bhabha 1996, Grossberg 1996). Doch meinen wir damit etwas anderes als eine Mischform zwischen zwei reinen Kulturen oder den Zwischenraum zwischen zwei abgegrenzten Räumen, denn Kulturen sind nicht rein und statisch, sondern Prozesse der Verhandlung und Veränderung; sie sind nicht abgegrenzte Territorien, sondern Prozesse der Interaktionen und Verbindungen. Die vielfältigen (und widersprüchlichen) Bezüge von Jugendlichen der Zweiten Generation zu ihren Heimaten verweisen demnach auf eine Realität aller kulturellen Zugehörigkeiten: daß sie, vor allem in globalisierten Regionen, aus einem Hier und einem Anderswo, aus aktuell Erfahrenem und Imaginiertem, aus Wohnen und Reisen gebildet werden (vgl. Clifford 1992, Ferguson/Gupta 1992).

Die 'gemeinsame' Kultur ist tatsächlich ein vielfach gebrochener, dezentrierter gesellschaftlicher Prozeß, durch dessen alltägliche wie auch imaginäre Komponenten und Strukturen Menschen differenter Herkunft, Geschichte, Klasse und Geschlecht ihr Leben wahrnehmen, ihm Sinn unterstellen und handelnd eingreifen und so ihre Identität zugleich produzieren und ausdrücken. Kulturelle Identitäten sind also nicht Wesen, sondern Positionierungen; sie bilden "instabile Identifikationspunkte oder Nahtstellen" (Hall 1994: 30). Identitäten sind im Spiel der Differenzen immer auch Positionierungen oder Artikulationen, bei denen Bedeutungen vorübergehend fixiert werden. Man kann nun zeigen, daß die Globalisierung klassische Formen kollektiver Identität in Frage stellt, weil sie zugleich die Homogenisierung kultureller Repräsentation, aber auch neue Formen partikularistischer Identitäten hervorbringt.

 

"Denn mit dem relativen Niedergang, der Erosion und Instabilität des Nationalstaats, der Autarkie der nationalen Ökonomien und somit auch der nationalen Identitäten fand gleichzeitig eine Fragmentierung und Erosion kollektiver sozialer Identitäten statt. Ich meine hier die wichtigen sozialen Identitäten, die wir als große, allumfassende, homogene, vereinheitlichte kollektive Identitäten ansehen, als etwas, über das wir wie über individuelle Akteure sprechen konnten. Diese Identitäten plazierten, postionierten und stabilisierten uns und ermöglichten uns gleichzeitig, die Imperative des individuellen Ich fast wie einen Code zu lesen und zu verstehen: es handelte sich um die großen kollektiven Identitäten der Klasse, der 'Rasse', des sozialen Geschlechts und der westlichen Welt" (Hall 1994: 69).

 

Diese Zerstückelung kollektiver sozialer Identitäten bilden einen unsicheren Kontext für individuelle Identitätspraktiken; unsicher deshalb, weil sich die Bedeutungen individueller Praktiken vor dem Hintergrund erodierter kollektiver Identitäten vervielfachen und verschieben. (3)

Die letzte Vorbemerkung betrifft den Begriff der Identitätspraktiken. Damit soll nicht auf die antiquierte Vorstellung eines kohärenten und bewußten Selbst zurückgegriffen werden. Vielmehr soll damit der Komplexität und Dynamik sozialen Handelns Rechnung getragen werden; es ist damit auch nicht eine besondere Form des Handelns gemeint, sondern ein Aspekt allen sozialen Handelns. Gegenüber dem Begriff der Handlungsfähigkeit wird das Imaginäre und Kollektive betont, gegenüber jenem der Subjektpositionen die Kreativität und Vielfältigkeit. Identitätspraktiken kombinieren individuelles Selbstbild und individuelle Handlungsfähigkeit mit Zugehörigkeit zu sozialen Entitäten (Gemeinde, Staat) oder Gruppen, der Beherrschung konkreter kultureller Codes (Sprache, Höflichkeit etc.), den Positionierungen in symbolischen Systemen...

Identitätspraktiken sind immer Repräsentation und Produktion kultureller Identität. Das tagtägliche Aushandeln der individuellen Geschlechtsidentität drückt nicht bloß individuelle Willensakte aus, die letztlich beliebig und subjektiv sind. Vielmehr finden diese Praktiken auf einem kulturellen Feld der Macht statt, das den je individuellen Akten Strukturen gibt. Identitätspraktiken werden durch dieses kulturelle Feld determiniert, begrenzt und durch Artikulation mit anderen Praktiken sowie durch Artikulation mit dem kollektiven Imaginären in ihren Bedeutungen fixiert. Das Feld der Identität, das zeigen die Gespräche mit den Jugendlichen der Zweiten Generation ganz deutlich, ist ein Kampfplatz, auf dem um Anerkennung gerungen wird: um Gehört- und Aktzeptiertwerden; um Respekt, wie die Jugendlichen Anerkennung und Zugehörigkeit bezeichnet haben.

Männlichkeit als Dominanz

Für Birgit Rommelspacher (1994) ist Rassismus die Folge von "Dominanzansprüchen". In einer Untersuchung zeigt sie, daß männliche Jugendliche ihre Identität vor allem über Erfolgs- und Überlegenheitsansprüche herstellen. Dabei ist es zweitrangig, ob diese Jugendlichen aus privilegierten oder nicht-privilegierten Familien stammen, ob sie tatsächlich dominant sind oder nicht. Zunächst regiert die Vorstellung, daß die eigene Identität nur durch Dominanz hergestellt und repräsentiert werden kann. Genau dies aber macht, so Rommelspacher, diese Jugendlichen zu Rassisten. Dominanz funktioniert, so könnte man allgemein sagen, als Identitätspraktik. Dominanz stellt als Identitätsprakik eben jene Differenz her, durch die Dominanz wiederum legitimiert wird, so daß sie sich maskiert und als Normalität erscheint. Dominanz stellt eine Hierarchie zwischen mir und dem "Anderen" her und ist daher eine Praktik, die Differenz zugleich konstruiert und rechtfertigt. Als Identitätspraktik betrifft Dominanz jedoch ebenso individuelle wie kollektive Identitäten und verbindet radikale Taten mit normalen Vorstellungen. So ist etwa die (post )koloniale Differenzierung zwischem dem Westen und dem Rest (Orient, 3. Welt, Entwicklungsländer etc.) eine Herrschaftspraktik, weil die Konstruktion der Opposition die hierarchische Bewertung miteinschließt: hier das entwickelte, industrialisierte, moderne, rationale und demokratische Eigene, dort das unterentwickelte, archaische, religiöse, autoritäre Fremde (vgl. Hall 1994: 138).

Ähnlich wie Rommelspacher argumentierte jüngst (1997) auch Michael Kimmel, der "ethnische" Gewalt mit dem "natürlichen" Machtanspruch, dem subjektiven "Entitlement to Power" der männlichen Gewalttäter erklärte. Machtanspruch als Identitätsgrundlage scheint uns aber nicht nur ein Kennzeichen radikaler Rassisten oder abstiegsgefährdeter Kleinbürger zu sein. Denn schließlich hat Sexismus die gleiche Struktur und ist damit, nach Ansicht feministischer Theoretikerinnen, das Charakteristikum männlicher Identität. Elisabeth Grosz (1990) etwa beschreibt verschiedene Ebenen der Geschlechterhierarchie - Sexismus (Ebene der alltäglichen Praktiken), Patriarchalismus (Ebene der Institutionen) und Phallozentrismus (Ebene der Wissensproduktion) -, die zusammen Männlichkeit als Dominanz definieren. Das läßt sich auch so formulieren, daß Männlichkeit die Artikulation von Dominanz mit/als Geschlecht ist: die Verbindung zwischen einer Identitätsstruktur und einer spezifischen Differenz bzw. die Formulierung dieser Struktur in einer bestimmten Form, also ihre Bindung an bestimmte Körper/Subjekte. Als empirischer Beleg mag etwa dienen, daß alle Männlichkeitsbilder um Konzepte wie Stärke, Gewalt, Macht, Konkurrenz, Kompetenz konstruiert sind. Das heißt nicht, daß Männer, die nicht dominant sind, nicht männlich (also keine Männer) sind, sondern daß Identitätspraktiken, die nicht auf Dominanz ausgerichtet sind, sie nicht als männlich konstruieren, keinen Zugewinn an Männlichkeit bringen. Doch wenn mit dieser Formulierung impliziert ist, daß nicht alles, was Männer tun, männlich ist (schließlich tun Männer ja auch noch vieles andere außer Mann zu sein), heißt das nicht, daß Männlichkeit einschränkbar ist, etwa auf den Bereich der Heterosexualität (Geschlecht betrifft zwar alles, bestimmt aber deshalb nicht jede Praktik). Die Definition von Männlichkeit als Dominanz heißt ebensowenig, daß Frauen nicht dominant sein können, aber es heißt, daß sie Dominanz nicht als Zugewinn an Weiblichkeit verbuchen können - außer als Mütterlichkeit. Zwar ist das eine soziale Position, die Macht (Dominanz?) und Identität verbindet, aber "Mutter" ist auch eine Zuschreibung an Frauen in Machtpositionen. Bei aller Unabgeschlossenheit unserer Überlegungen dazu lassen sich einige Konkretisierungen vornehmen: erstens ist Mütterlichkeit zugleich eine Einschränkung von Macht: sie wird familiarisiert, also in eine private, emotionale Situation uminterpretiert; zweitens ist es eine Verknüpfung von Geschlecht und Macht mit Generation (für Männer ist "Vater" nur eine unter vielen möglichen Machtpositionen); drittens ist Mutter eine andere Form von Machtverhältnis als Vater, d.h. wir wissen nicht, ob Dominanz die zutreffende Bezeichnung dafür ist. Diese Fragen tauchen in unserem empirischen Beispiel wieder auf.

Wenn wir Männlichkeit als eine bestimmte Artikulation von Dominanzansprüchen definieren, dann meinen wir damit zugleich die Konstruktion und Bedeutungsgebung einer Differenz, der sexuellen. Dominanz ist aber mehr als die Generierung und Funktionalisierung einer Differenz. Als Identitätspraxis schafft sie eine ganze Äquivalenzkette von Relationen, etwa zwischen dem Westen und Nicht-Westen, zwischen schwarz und weiß, jung und alt. Was all diese Relationen verbindet, ist die Dominanzstruktur, und diese formale Ähnlichkeit ermöglicht es, daß sie austauschbar sind: daß die Position der abgewerteten Anderen von Polen, Türken, Schwarzen, Juden, Frauen, Punks, Schwulen, Linken, StudentInnen oder sonstwas eingenommen werden kann. Ebenso kann dann die bestätigte Identität österreichisch, deutsch, europäisch, christlich, arisch, westlich, männlich oder sonstwas sein. Mit Rassisten auf der Ebene der Inhalte zu argumentieren, geht deshalb an ihrer Logik vorbei; es geht ihnen nicht um den Reichtum türkischer Kultur, die Lust schwuler Lebensentwürfe, die Wahrheit der Shoah; es geht ihnen um die Gewinnung von Identität aus der (tätlichen, verbalen, vorgestellten) Praktizierung von Dominanz. Daß jede solche Praktizierung als Männlichkeit verbucht werden kann, heißt nicht, daß Männlichkeit die primäre, natürliche oder wichtigste Kategorie ist. Es kann vorläufig so erklärt werden, daß Männlichkeit und Dominanz eine stabile bzw. leicht herstellbare Verbindung eingehen (es ist eine sehr traditionsreiche und sie ist sehr offen, d.h. sie kann mit allen anderen Herrschaftspositionen kombiniert werden).

Artikulation

Wir haben behauptet, daß Dominanz als männliche Identitätspraktik immer aus einer Artikulation unterschiedlicher Elemente besteht. Wir bezeichnen Dominanz als einen Knotenpunkt, an dem ein männliches Subjekt auftaucht: situativ, vorübergehend, immer auch imaginär. Subjektivität heißt, daß Dominanz als Knoten geschlechtliche, ethnische Identität affiziert und bündelt. Das Konzept der Artikulation beschreibt diese Subjektivierung, denn es handelt sich um vorläufige, dynamische und kontextuelle Praktiken, in denen Identität als flüchtige Fixierung zu denken ist, als Kreuzungspunkt, an dem ein Subjekt auftaucht - durch den Akt der Positionierung in einem bedeutungsvollen Macht- und Begehrensraum. Subjektivität wäre somit an die Artikulation gebunden, und Artikulation bezeichnet die Fixierung in einem bedeutungsvollen Raum bzw. auf einem diskursiven Feld. Stuart Hall verwendet articulation in der doppelten Bedeutung, die der Begriff im Englischen hat:

"(...) to 'articulate' means to utter, to speak forth, to be articulate. It carries that sense of language-ing, of expressing, etc. But we also speak of an 'articulated' lorry (truck): a lorry where the front (cab) and back (trailer) can, but need not necessarily, be connected to one another. The two parts are connected to each other, but through a specific linkage, that can be broken. An articulation ist thus the form of the connection that can make a unity of two different elements, under certain conditions" (1996: 141).

In dieser Weise ist Identität als "Einheit" vorstellbar: als Verbindung unterschiedlicher Elemente, die nicht notwendig zusammengehören. Deshalb kann sich die Verbindung auflösen, und die Elemente können neue Verbindungen eingehen und neue Einheiten, also neue, wiederum flüchtige Identitäten herstellen. So wie die Artikulation als kontextueller Prozeß vorstellbar ist, ist umgekehrt der Kontext die Bedingung der Möglichkeit des Entstehens von Verbindungen. (4) Konsequenterweise müßte man einen Schritt weiter gehen und behaupten, daß der Kontext selbst den gleichen Regeln der Artikulation folgt. Subjektivität entsteht also als Artikulation in einem Macht- und Begehrensraum, der selbst wiederum artikuliert ist: eine kollektive Identität, die sich aus der beständigen Re-Artikulation unterschiedlicher Elemente bildet, verändert, wieder auflöst usw.: "(...) we need to think the contingent, the non-necessary, connection between different practices - between ideology, and social forces, and between different elements within ideology, and between different social groups composing a social movement, etc." (Hall 1996:142).

Den Hintergrund für den Begriff der Artikulation bildet ein Diskursbegriff, den man als strukturierte und strukturierende Totalität verstehen könnte, die zugleich aus den Praktiken der Menschen (ihrem Sprechen, ihren Wahrnehmungs- und Handlungsweisen) hervorgeht und umgekehrt diese Praktiken strukturiert. Das heißt, die Ordnung des Diskurses legt fest, welches Ereignis als Praktik Identität produziert und repräsentiert. Und zweitens bestimmt sich durch die Ordnung des Diskurses, welche Bedeutung eine Praktik, die Teil des "Wahrheitsraumes" ist, annehmen kann. Der Diskurs ist, wenn man so will, jene Ordnung, die unser Denken und unsere Praktiken ermöglicht und zugleich beschränkt.

Identitätsräume

In unserem Forschungsprojekt haben wir versucht, den alltäglichen Kampf um Identität, also darum, wer ich bin, wer ich sein darf, wie ich mich präsentieren und ausdrücken, wie ich über mich sprechen darf, wie ich mich selber sehen und von anderen gesehen werden möchte, mit dem Begriff von Identitätsräumen zu fassen. Wir fragten unter anderem nach Räumen des Wohlfühlens und der Angst. An einer Sequenz aus einem der Gruppengespräche mit Jugendlichen der Zweiten Generation, die in dem Kulturprojekt "ECHO" arbeiten, sollen die bisherigen Überlegungen veranschaulicht werden.

Ein Jugendlicher erzählt von seinen schwierigen Familienverhältnissen und erklärt sie mit dem Konflikt mit seiner türkischen, religiösen Mutter. Offenkundig sind in dieser Erklärung mehrere Dimensionen zugleich wirksam: ein Generationenkonflikt, ein kultureller, ein religiöser und ein geschlechtlicher Konflikt. Damit kann aber die Analyse nicht aufhören. Denn diese Erzählung selbst erfolgt in einer diskursiven Situation: einerseits will der Erzähler den österreichischen, älteren Forschern etwas erklären, andererseits der gleichaltrigen Gruppe. Die Erzählung ist gelungen, weil beide, Forscher und die Gruppe, Verstehen und sogar Identifikation signalisieren: andere Gruppenmitglieder äußern sich nach der Erzählung etwa so: "Genau!", "Bei mir auch". Die Forscher wiederum drücken ihr Erstaunen aus, daß ihnen die Erzählung so vertraut vorkommt, sie an die Konflikte ihrer eigenen Jugend erinnert. Die anderen Jugendlichen hingegen sehen darin eher die typische Darstellung des Kulturkonflikts zwischen traditionellen (egal ob türkischen oder kurdischen) Familien und liberalen (also "westlichen") Individuen (hier zeigt sich also auch ein Schillern der Verbindungen zwischen Ethnie/Kultur und Werteorientierung: türkisch kann, muß aber nicht, mit traditionell gleichgesetzt werden, liberal/modern kann, muß aber nicht, mit westlich gleichgesetzt werden). Eine junge Frau meinte: "Ich bin baff, es ist als hättest du meine Geschichte erzählt!" und erzählte dann ihren Konflikt mit Teilen ihrer Familie, der in der Episode ausgedrückt wird, in der ihr Großvater sich weigert, sich von ihr die Hand küssen zu lassen, und sie als Hure bezeichnet, weil sie einen Freund hat. Ihr Konflikt, mag er sich auch ebenso um unterschiedliche Kulturen drehen, äußert sich als Form des Überwachens ihrer Moral und ihrer Sexualität. Diese Sexualisierung des Konflikts kommt in der Erzählung des jungen Mannes nicht vor, und das verweist vermutlich auf die Art des Konflikts: der Konflikt zwischem ihm und seiner Mutter ist keiner, bei dem seine geschlechtliche Identität fraglich ist: sein Streben nach Unabhängigkeit wird durchaus konform mit den Erwartungen an Männer verstanden, nur die Form seines Strebens wird kritisiert. Bei der Frau ist dieses Streben nach Unabhängigkeit nicht nur in der Form, sondern an sich problematisch, weil es im Widerspruch zu den traditionellen Erwartungen an Weiblichkeit steht. Insofern sind natürlich beide Erzählungen von Geschlecht bestimmt: im einen Fall eben genau weil es nicht auftaucht.

Der geschlechtliche Konflikt wird zum Konflikt dadurch, daß der eine Kontrahent eine Machtposition einnimmt, die aus seinem/ihrem Alter, seinem/ihrem(?) Geschlecht, seiner/ihrer Kultur definiert wird. Der geschlechtliche Konflikt funktioniert, weil er ein Generationen- und kultureller Konflikt ist. Und umgekehrt; denn unsere Interpretation soll nicht den Eindruck erwecken, daß wir den geschlechtlichen Konflikt für den eigentlichen und wichtigeren halten. Es geht vielmehr um die Verbindungen, die Überdeterminierung der Erzählungen. (Die Bedeutung der dargestellten Konflikte entsteht ja auch erst in der Darstellung, ist von den Interaktionen in dieser Gruppensituation, den Interpretationen und Reaktionen der Zuhörenden abhängig.) Wir wollen also nicht die eine Wahrheit der Konflikte offenlegen, sondern die komplexen Konstruktionen in den Erzählungen der beiden Jugendlichen rekonstruieren: wie wird Kultur einem Geschlecht zugewiesen und wie wird Geschlecht als Kultur praktiziert?

Kulturen werden üblicherweise als selbstreproduzierende Systeme betrachtet, die an definierte Räume gebunden sind: die türkische Kultur ist in der Türkei; in Österreich ist die österreichische Kultur. Immigration stürzt diese praktizierte Fiktion in die Krise. Letztere läßt sich aber aufrechterhalten durch eine weitreichende Fortsetzung von Spaltungen: etwa indem den ImmigrantInnen ein definierter Raum zugewiesen wird: metaphorisch jener der "Minderheitenkultur", real städtische Halb-Ghettos. Damit können einerseits die tatsächlichen Interaktionen zwischen den beiden Kulturen verringert werden, vor allem aber die Konsequenzen für die Repräsentation des Eigenen: denn würde die türkische Kultur nicht mehr als das isolierte Fremde im Körper der Stadt/Nation/Kultur betrachtet, sondern als funktionaler Bestandteil dieses Körpers, dann verschöbe sich das Selbstverständnis dieses österreichischen oder Wiener Körpers und Fremdenfeindlichkeit erschiene als ein Akt der Selbstamputation. Doch die Spaltung und räumliche Aufteilung kann sich im Leben der ImmigrantInnen weiter fortsetzen: zwischen öffentlich und privat, Familie und Arbeit, Frauen und Männern. Die erste Generation der EinwanderInnen kann zwei parallele Kulturen leben; die Parallelität ist jedoch aufrechtzuerhalten nur durch die Gleichsetzung der Getrenntheit der Kulturen in eine Geschlechterspaltung: die Frauen bleiben zu Hause und türkisch; die Männer gehen arbeiten und bewahren ihre kulturelle Identität durch das Türkische des Zuhause. Diese Spaltung gerät demnach offenkundig dann in die Krise, wenn die Frauen - die Töchter - beginnen, sich in die österreichische Kultur zu bewegen. (Diese schematische Darstellung ist natürlich nur eine von vielen Umgangsweisen mit Immigration; wir behaupten nicht einmal, daß es auf die Familien der beiden Jugendlichen zutrifft. Es ist nichts als ein plausibles Modell, das die Erzählungen der Jugendlichen erklären kann.)

Die beiden Erzählungen verweisen auf diese Spaltungen: in der Erzählung des Mannes ist es die Mutter, die die Kultur bewacht. Der Vater verschwand vor Jahren; er selber ordnet sich einer globalen großstädtischen (eher männlichen) Jugendkultur, HipHop, zu. Die geschlechtliche Aufteilung der Kulturen bleibt intakt. In der Erzählung der Frau wird sie von ihrem Großvater bestraft für ihre Teilhabe an der Normalität von Jugendlichen in Österreich: eine Beziehung zu haben. Diese geschlechtliche Aufteilung der Kulturen drücken die beiden auch in ihrer unterschiedlichen Haltung zur Türkei aus: während der junge Mann sich als Österreicher begreift ("irgendwie schon") und auf keinen Fall in die Türkei zurückgehen möchte, fühlt sich die Frau in der Türkei zu Hause, und will irgendwann auch dort leben und arbeiten, und zwar mit den Frauen dort.

Die spezifische Mühsal dieser Jugendlichen ist also die Vermittlung von zwei Welten; die Erwachsenen verweigern sich der notwendigen Interaktionsarbeit, den Mühsalen der Vermittlung und Übersetzung. Der Konflikt entsteht eigentlich nicht als Kulturkonflikt (der Begriff impliziert die Gleichwertigkeit und damit Relativität verschiedener Bezugssysteme), sondern aus der praktizierten Vorstellung, daß die beiden Kulturen trennbar sind, einander ausschliessen. Dadurch, daß sowohl die österreichischen Einheimischen als auch die Eltern der Jugendlichen die Vermittlung der beiden Kulturen verweigerten, werden die Jugendlichen mit zwei sich widersprechenden Normalitäten konfrontiert. Denn unreflektiert praktizierte Kulturen offenbaren sich als Selbstverständlichkeiten, als Norm. Von dieser Normalität hängen dann wiederum auch die selbstverständlichen Identitätspraktiken der Eltern ab. Anders gesagt: die Identitätsstiftungen der Jugendlichen der Zweiten Generation sind mitunter so anstrengend, weil sie gegen die selbstverständlichen Identitätspraktiken ihrer Eltern und der Einheimischen ankämpfen müssen.

Schlußfolgerung

Aus unseren Überlegungen ergeben sich mögliche Richtungen politischen Handelns. Erstens geht es um die Funktionalisierung von Dominanz als Identitätspraktik. Dagegen gilt es andere mögliche Identitätskonzepte zu betonen. Männlichkeit sollte ein politisches Thema nur insofern sein, als sie Dominanz ist. Der Propagierung "besserer" Männlichkeiten stehen wir skeptisch gegenüber, weil sie Geschlecht essentialisiert und weil sie übersieht, wie sehr jede Definition von Geschlecht ein Dominanzverhältnis voraussetzt oder zumindest inkludiert oder mitnimmt. Zielführender erscheint es uns, die Bedeutsamkeit von Geschlecht zu verkleinern, also etwa die geschlechtliche Artikulation von Macht aufzulösen. Antisexistische Politik sollte sich auf Praktiken der Dominanz konzentrieren, nicht auf deren wesenhaft gedachte Träger. Anders gesagt: Dominanz bekämpfen, nicht Männer. Zweitens gilt es das Funktionieren von Dominanz als Äquivalenzkette (also jene Logik, nach der z.B. Sexismus, Rassismus und Nationalismus verknüpft werden) zu behindern; statt sich auf einzelne Dominanzverhältnisse zu konzentrieren, glauben wir, daß es darum geht, ihre Verknüpfungen und Verknüpfbarkeit zu analysieren und damit die Unsichtbarkeit und scheinbare Natürlichkeit dieser Verknüpfungen zu dekonstruieren. Das verstehen wir als Kritik an einer Geschlechterforschung, die Geschlecht isoliert und damit die Zusammenhänge von Dominanzverhältnissen verschleiert. Der Anspruch ist nun nicht, bei jeder Analyse möglichst viele Ungerechtigkeiten - also neben Geschlecht auch Klasse und Ethnie - zu berücksichtigen, sondern ihre Verknüpfbarkeit und Interfunktionalität zu beachten. Weiter meinen wir nicht, daß statt der Hypostasierung einer radikalen Differenz (zwischen Geschlechtern oder Kulturen) eine universale Menschlichkeit betont werden sollte; im Gegenteil, wir verstehen unsere Ausführungen als einen Aufruf zur Auseinandersetzung mit Differenzen und über Differenzen, zu einer aktiven Verhandlungsarbeit von Identitäten, also der Reflexion und Relativierung der eigenen Bedingtheiten in der Kommunikation mit anderen.

Anmerkungen

1. Ein Projekt des Instituts MEDIACULT im Rahmen des Forschungsschwerpunktes "Fremdenfeindlichkeit" des österreichischen Ministeriums für Wissenschaft und Verkehr. Wir danken Alfred Smudits und Gerlinde Affenzeller für ihre konstruktive Kritik.

2. In diesem Sinne argumentiert etwa auch Sylvia Junko Yanagisako (1997), daß Menschen nicht in Diskursen, sondern an den Schnittpunkten von Diskursen denken und handeln.

3. Kevin Robins (1996) legt am Beispiel des Verhältnisses zwischen "Europa" und "Türkei" dar, wie sich solche "großen" Identitäten verschieben und reaffirmieren: wie die Identität "Europa" der EU (unter anderem) durch die Abgrenzung von einem islamischen Anderen aufgebaut wird und wie umgekehrt der islamische Fundamentalismus in der Türkei (unter anderem) als Versuch gelesen werden kann, sich anders denn als das Andere Europas zu definieren.

4. Aus dieser Sicht hat für Stuart Hall (1994: 141) die Theorie der Artikulation eine doppelte Funktion: sie versucht, die Bedingungen für das Zustandekommen von Verbindungen zu erklären und sie fragt danach, warum es einmal zu solchen identitätsstiftenden Verbindungen kommen kann und ein andermal nicht. Allgemein zu dem Begriff der Artikulation siehe Laclau/Mouffe 1991 und Slack 1996.

Literatur

Bhabha, Homi K. 1996: Culture's In-Between. In: Hall/duGay, pp. 53-60

Clifford, James 1992: Traveling Cultures. In: Grossberg/Nelson/Treichler (eds.): Cultural Studies. Routledge, London, New York, pp. 96-116

Michel de Certeau 1988: Kunst des Handelns. Berlin

Ferguson, James; Gupta, Akhil 1992: Beyond "Culture": Space, Identity, and the Politics of Difference. In: Cultural Anthropology 4, pp. 6-23

Galtung, Johan 1990: Cultural Violence. In: Journal of Peace Research 3, pp. 291ff.

Grossberg, Lawrence 1996: Identity and Cultural Studies - Is That All There Is? In: Hall/duGay, pp. 87-107

Grosz, Elisabeth 1990: Contemporary Theories of Power and Subjectivity. In: Gunev, Sneja (Hg.): Feminist Knowledge. Critique and Construct. London, pp. 59-121

Hall, Stuart 1994: Rassismus und kulturelle Identität. Argument-Sonderband 226, Hamburg

Hall, Stuart 1996: An Interview with. In: Morley/Chen, pp. 131-150

Hall, Stuart; duGay, Paul (eds.): Questions of Cultural Identity. Sage, London et al.

Kimmel, Michael 1997: Reducing Men's Violence: The Personal Meets the Political. Paper given at the UNESCO conference "Masculinity and Male Roles in the Perspective of a Culture of Peace", Oslo

Knapp, Gudrun-Axeli 1992: Macht und Geschlecht. Neuere Entwicklungen in der feministischen Macht- und Herrschaftsdiskussion. In: dies./Wetterer (Hg.): TraditionenBrüche. Freiburg, S. 287-325

Laclau, Ernesto; Mouffe, Chantal 1991: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. (Übersetzt Michael Hintz und Gerd Vorwallner.) Wien

Morley, David; Chen, Kuan-Hsing 1996: Stuart Hall. Critical Dialogues in Cultural Studies. Routledge, London, New York

Rakow, Lana 1986: Rethinking Gender Research in Communication. In: Journal of Communication 4, pp. 11-26

Robins, Kevin 1996: Interrupting Identities. Turkey/Europe. In: Hall/duGay, pp. 61-86

Rommelspacher, Birgit 1994: Rassismus und Rechtsextremismus: Der Streit um die Ursachen. In: Tillner, Christiane (Hg.): Frauen - Rechtsextremismus, Rassismus, Gewalt. Feministische Beiträge. Münster, S. 11-26

Slack, Jennifer Daryl 1996: The Theory and Method of Articualtion in Cultural Studies. In: Morley/Chen, pp. 112-130

Yanagisako, Sylvia Junko 1997: Geschlecht, Sexualität und andere Überschneidungen. In: Schein/Strasser (Hg.): Intersexions. Feministische Anthropologie zu Geschlecht, Kultur und Sexualität. Wien, S. 33-66