Widerstand ist noch kein Weg aus der Sackgasse

Über soziale Spaltung und Krise der Gesellschaft

Überarbeiteter Redebeitrag auf dem Frankfurter Friedenskongreß 17.-20.6.1982.

Über die Spaltung der Gesellschaft wollen wir reden. Und wir reden hier im Zusammenhang von Krieg und Frieden darüber. Was aber diesen Zusammenhang ausmacht, ist hier und heute, vor allem atmosphärisch keine Frage, die interessiert gestellt würde. Der Zusammenhang ist einer, der nicht mit Begriffen oder Thesen hergestellt wird; er hat nicht einmal einen deutlichen Namen, eher eine Farbe - nämlich: Angst. Angst steckt in unseren Begriffen, wenn wir anfangen, über "innergesellschaftliche Kriegsursachen" nachzudenken. Gründe gibt es viele, Angst vor der Spaltung der Gesellschaft zu haben.

Zum ersten sind wir gewarnt durch die geschichtliche Erfahrung der ökonomischsozialen Krise in den dreißiger Jahren. Es ist die geschichtliche Erfahrung einer Krise mit faschistischem Ausgang, einer Gesellschaftsspaltung mit gewaltsamer "Heilung", mittels Mobilisierung und Staatsterrorismus. Was in unseren Köpfen geblieben ist, ist oft nur das: "Wehret den Anfängen!". Aufklärerischer Moralismus, eine Mentalität des Verbietens und Abwehrens verbergen nur mühsam das, was eigentlich geblieben ist, nämlich: Angst.

Zum zweiten haben wir die letzten Eierschalen von Verelendungstheorie und Zusammenbruchsmythen abgeworfen; Hoffnung auf naturwüchsige Radikalisierungen durch die Krise sind zerstoben. Mit offenen Augen sehen wir, wie Kapitalsanierung und Sozial-Spar-Politik größere Teile des - politisch verabschiedeten - Proletariats in die Arbeitslosigkeit drängt, Abgearbeitete, Alte und Jugendliche zu Ausschuß entwertet, Ausländer gettoisiert und hinauswirft.

Doch ich meine, daß uns Angst auch hier blind machen kann. Halbverdaute Vergangenheiten und enttäuschte Hoffnungen mischen sich zu einem Affekt, der so gut in die gegenwärtige Atmosphäre von Apokalypse paßt. Angst vor der Spaltung versucht den großen Krisen-Rutsch nach rechts halb zu bannen, halb beschwört sie ihn. Unsere Angst sollte zur Furcht werden, zu einer begreifenden Furcht. Eine begreifende und eingreifende Furcht sollten wir entwickeln, welche zunächst einmal herausarbeitet, was die Spaltung der Gesellschaft ausmacht.

Die Krise geht tiefer

Die Rede von Spaltung und Ausgrenzung geht uns schnell von den Lippen. Zu schnell und kurzschlüssig, meine ich, reden wir von "Marginalisierung", von erster und zweiter Gesellschaft, von "Kern" und "Rand". Sicher schlagen wir so der sozialdemokratischen Solidaritäts-Ideologie die sozialen Folgen ihres eigenen "Modell Deutschland" um die Ohren. Doch die Rede von erster und zweiter Gesellschaft verdeckt auch und verschiebt etwas: Sie verschiebt die Krise, so, als hätte sie erst bei den Marginalisierten ihren Ort. Und ich höre dann ein Stück der Glotz'schen Ignoranz durch, höre das Säuseln des instrumentell-dialogischen Integrationsversuchs, das den dumpferen Ton des Polizeiknüppels nur wenig übertönt.

Ich meine, wir haben es mit einer tieferen Krise zu tun, welche sich durch soziale Ausgrenzung und Sozialabbau hindurch vollzieht. Die Spaltung der Gesellschaft geht tiefer und ist gleichzeitig breiter, verästelter. Auf den Begriff gebracht: Wir haben es mit der Sackgasse eines Vergesellschaftungsmodells, ja Zivilisationsmodells, und der Erosion der Basis dieses Modells zu tun. Die herrschende Form der sozialen Sicherheit selbst, die sozialstaatliche Vergesellschaftungsform, ist in die Krise geraten. Nur ein Symptom dafür ist, wie schnell und wie vieles die Sparoperationen des letzten Jahres amputieren konnten. Allein mit sozialpartnerschaftlicher Befangenheit der einen und mit der Atomisierung der Betroffenen läßt sich das nicht erklären. Sondern: der Widerstand gegen den Sozialabbau ist gelähmt, weil die herrschende Qualität der sozialen Sicherheit fraglich geworden ist. Das blinde Verteidigen der Sozialstaatlichkeit geht erstens nicht mehr, denn der ökonomische Boden ist weggesackt. Zweitens bleibt das bloße Verteidigen in der Sackgasse des Vergesellschaftungsmodells mit drin; die qualitative Krise bliebe den Rechten überlassen.

Krisen-Rutschbahn nach unten - Eintritt frei für alle!

Sehen wir uns nun die soziale Misere genauer an: Schnell wird uns deutlich, daß die Spaltung der Gesellschaft nicht glatt zwischen einem "Kern" und einem "Rand" durchgeht, daß eine erste Gesellschaft nicht diesseits von Ausgrenzung und Marginalisierung existiert. Denn: Es ist nicht nur so, daß die Maschen des "sozialen Netzes" weiter und unserer geworden wären. Vielmehr: Das soziale Netz ist schon gerissen und alles darauf ist ins Rutschen gekommen!

1. Die Arbeitslosen: Die Zahl liegt Etliches über den zwei Millionen Verwalteten. Und bei näherem Hinsehen verschwimmt die Kategorie immer mehr: Durch Zumutbarkeitsregelungen und Strategien, Arbeitslose in verschiedene Problemgruppen zu spalten, ist eine Rutschbahn nach unten entstanden. Immer mehr rutschen darauf aus der "Solidargemeinschaft", hinunter in die Sozialhilfe. Aber die schiefe Ebene reicht noch weiter. Massenhaft vernichten Rationalisierungsprozesse vormals sicher geglaubte Facharbeiterqualifikationen. Eine Grauzone der Entwertung entsteht, bis hin zum beispielsweise älteren, abgruppierten Stammarbeiter, dessen Rutschbahn eben unter dem Schild: "Sozialplan" nach unten geht.

2. Sozialhilfe: Diese Kelleretage platzt aus den Nähten. Dadurch, daß Regelsätze stagnieren und jegliche Mehrbedarfsleistung gekürzt worden ist, nimmt reale Verarmung rapide zu. Besonders verwaltete "Insassen", Alte, Heimbewohner, Behinderte verlieren letzte Selbständigkeiten über Taschengelder und Fahrdienste (wenn sie nicht den zweifelhaften Schutz legitimatorischer Schamschranken genießen). Daneben aber finden sich neue soziale Gruppen in der Kelleretage Sozialhilfe wieder: eben die aus der Arbeitslosenversicherung herausgedrängten, aber auch zunehmend arbeitslose Studierte, strukturell arbeitslose Intellektuelle aus vormaligen Reformbranchen und Jugendliche, sofern diesen überhaupt eine Art von Hilfe zusteht. Und sie treffen sich dort mit allen Sorten von Aussteigern. Die Kelleretage Sozialhilfe ist zur Durchgangsstation geworden; nicht mehr nur ein stiller Bodensatz von Armut, Objekt von Fürsorge, ist hier zu finden.

3. Dann rutscht noch eine andere Gruppe auf den Maschen des Netzes nach unten: die Jugendlichen. Schon daß wir im Zusammenhang von sozialer Ausgrenzung fast von einer ganzen Altersgruppe reden können, zeigt etwas von der Tiefe der gegenwärtigen Krise. Bei den Jugendlichen vor allem geht die Rutschbahn der Entwertung von Qualifikationen steil nach unten. Und die verschiedenen Förderkurse, soweit sie die Sparoperationen überlebt haben, sind eher eine Art gesellschaftlicher Zwischenlagerung oder Trockenlagerung, fast einer ganzen Generation. Sie sollen ruhigstellen und produzieren zweifelhafte Qualifikationen - auf Halde! Und diese Halde ist zumeist schon zur gesellschaftlichen Schutthalde geworden, denn Arbeitslosigkeit ist nur hinausgezögert worden. Darüber wölbt sich der Sozialstaat, der hilflos schwankt zwischen Härte (Jugendpolizei, Drogenknast) und Integrationsversuch (ein wenig Staatsknete für Aussteiger).

"Der Turm stürzt ein ..." (Ton, Steine, Scherben)

In der gegenwärtigen sozialen Misere verschwimmen "Kern" und "Rand"; Ausgegrenzte und Aussteiger sind nicht mehr so deutlich zu unterscheiden. Die Spaltung der Gesellschaft geht durch alle hindurch, denn unter den Wellen der ökonomischen Krise fließt ein breiter Unterstrom einer anderen Krise: Die Begriffe "Erosionskrise", "Sinnkrise" und "Krise der bürgerlichen Hegemonie" sind erst Annäherungen an diesen tiefgreifenden Prozeß. Einzelne Teilströme können genannt werden:

  • Die Krise der kapitalistischen Arbeit, weil die Selbstverdinglichung der Menschen für einen abstrakten Prozeß immer weniger klappt, mehr Opfer kostet, weil abstrakte Rationalität und ökonomische Krisenwirkung das Arbeitsethos zersetzen; weil sich die naturzerstörende Kehrseite der kapitalistischen Arbeit und Technik nicht länger draußen, vor der Fabrik, halten läßt.
  • Die Krise der Sozialisation, denn es gelingt immer weniger, die rationalisierten und sich selbst instrumentalisierenden Identitäten hervorzubringen.
  • Die Krise des Sozialcharakters, der Tod der calvinistischen Aufschub-Moral, und die beginnende Krankheit des Konsumismus, des kompensatorischen Waren-Glücks.

Doch konzentrieren wir uns auf ein Moment dieser umfassenden Krise, auf die Krise der sozialstaatlichen Vergesellschaftung. Der qualitativen Krise des Sozialstaats ist zunächst eine andere, nämlich die ökonomische Krise des Sozialstaats vorausgesetzt: Sozialabbau und Sparpolitik sind ja die Resultate davon, daß der Sozialstaat in einer ökonomischen Klemme festsitzt. Auf der einen Seite drücken niedrigere Staatseinnahmen, Steuergeschenke auf den Altar des Profits und direkte Profitsubventionen auf den Sozialstaat; auf der anderen Seite müssen die schlimmsten Löcher bei den Renten und der Arbeitslosenversicherung - trotz Sparschnitten allerorten - gestopft werden. Der sozialstaatliche Ausgleich der "schmerzhaften" Anpassung ans Weltniveau, sprich: das Auffangen der Verschlissenen, Überzähligen, Arbeitslosen, Verrücktgemachten im sozialen Netz ist nicht mehr zu bezahlen. Doch dieser Mechanismus des Ausgleichs, die "kompensatorische Logik der Sozialstaatlichkeit" funktioniert auch inhaltlich immer weniger. Die Kompensation kann nicht mehr heilen und, vor allem: immer mehr Menschen verweigern sich dem Mechanismus der Kompensation.

Meine These ist: Wir haben es mit einer qualitativen Krise der kompensatorischen, bürokratischen und herrschaftlich-rationalen Logik der Sozialstaatlichkeit zu tun!

"Umwälzungen finden in Sackgassen statt" (Me-ti)

Fächern wir diese Krise etwas auf:

Erstens: Die sozialstaatliche Kompensation der gesellschaftlichen Zerstörungen scheitert zunehmend an der Dynamik der gesellschaftlichen Verursachung.

Intensivierte und zunehmend "abstraktifizierte" Produktionsprozesse erzeugen psychosomatisches Elend in einem Ausmaß und Grad, welches die gesellschaftlichen Systeme der medizinisch-psychologischen Rehabilitation zum offenen Bankrott zwingt: Reparatur schlägt in bloße Sedierung um. Die vorkapitalistischen (oder nichtkapitalistischen) Auffangstrukturen (Familie) und Sinn-Systeme (Religion) zerfallen; alles Leid richtet die Augen auf die sozialstaatlich vermittelte Tröstung. Die umfassende Krise der über Arbeit vermittelten Identitäten zersetzt Motivationen und Selbstdomestizierung; die gesellschaftliche Basis von Leistungsprinzip und Triebaufschub-Moral schmilzt dahin. Geld-Versprechen und Waren-Glück von morgen können das Leiden von heute nicht mehr aufwiegen.

Zweitens: Die Apparate der Kompensation sind selbst "kontraproduktiv", krankmachend und leidenserzeugend geworden.

Medizin in Form der technizistischen, separierenden Anstalt produziert mehr an psycho-physischer Zerstörung, als die naturwissenschaftlich bornierte Reparatur heilen kann. Hier ist die "Dialektik der Aufklärung", die "Dialektik der bürgerlichen Naturbeherrschung" bereits umgeschlagen. Die Maschinerien des Fortschritts sind zur Krankheit selbst geworden.

Drittens: Die bürokratische Sozialstaatlichkeit ist der Vergesellschaftung der Reproduktion gegenüber anarchronistisch, und, der sozialstaatliche Zugriff begegnet zunehmend der Verweigerung.

Der säkulare Prozeß der kapitalistischen Vergesellschaftung der Reproduktion ist die Reaktion auf den Verlust der vorkapitalistischen Sozialformen, wie auch Reaktion auf neue Anforderungen, vor allem aus der Produktion, seit Beginn des "tayloristischen Zyklus" des Kapitalismus. Seither wird Sozialpolitik zunehmend zur Produktion von Sozialisationen, statt nur Korrektur, Abstützung oder Ersatz leisten zu wollen. Sozialpolitik wird zum öffentlichen Sozialisationsprozeß, deren Lebensalltäglichkeit gegen das Korsett der bürokratischen Logik von Parzellierung, Rechtskausalität und Einzelfall stößt. Dies ist ein struktureller Konflikt, den die Vergesellschaftung der Reproduktion in sich trägt, eine offene Wunde der Sozialpolitik, an die Sinn-Krise und alternative soziale Bewegungen rühren.

Viertens: Auch die herrschaftliche, wissenschaftlich-instrumentelle Rationalität ist in Frage gestellt; sozialtechnokratisch erzeugte gesellschaftliche Beziehungen greifen nicht im funktionalen Sinne.

Wie Technologie und abstrakte Naturwissenschaft haben auch die Sozialwissenschaften ihre Unschuld verloren; die Kritik an der Funktion ("Anpassung", "Unmündigkeit") wird zur Rationalitätskritik: Infrage steht die Qualität des Wissens und der Methoden selbst, infrage stehen z.b. objektivierende, verdinglichende Kategorien der Diagnose, kausalmechanische Denkweisen, mathematisch-deduktive "Vergewaltigungen" ganz anders verfaßter Beziehungsrealitäten. Deutlichster Ausdruck der Inadäquatheit und der Ablehnung des "Herrschaftswissens" sind die Bewegungen des "Wissens von unten", die Selbsthilfe- und Selbstorganisationsinitiativen im Sozialbereich. Sicher sind sie eine ambivalente Gestalt der Herrschaftskritik, anfällig für die "alternative" Vermarktung der Waren: Methoden, Therapie und stellenweise auch zu vereinnahmen in "entstaatlichende" Sparpolitik. Doch bei aller Ambivalenz tragen sie der qualitativen Krise der Sozialstaatlichkeit Rechnung und sie brechen aus aus der Sackgasse der sozialstaatlich regulierten gesellschaftlichen Beziehungen.

Ich meine, daß jeder Widerstand gegen die soziale Ausgrenzung, gegen die Spaltung der Gesellschaft auf der Höhe des kritischen Impulses dieser Bewegungen sein muß. Sonst fechten wir aussichtslose Kämpfe in Sackgassen, während die Rechte draußen das Vakuum an Sinnverlust auf ihre Weise zu füllen vermag. "Umwälzungen finden in Sackgassen statt"; doch Alternativen müssen die Zirkel sprengen und Wege herausfinden.

Nicht Angst vor der Angst, sondern: aktive Furcht vor einer Politik der Angst!

Im Zusammenhang mit Krieg und innergesellschaftlichen Kriegsmentalitäten müssen wir eines wirklich fürchten: Eine Politik der Krisenlösung durch Krisenverdrängung, eine Politik der - Ängste projizierenden - Spaltung der Gesellschaft von rechts. Noch einmal: Bloße Angst vor Gesellschaftsspaltung muß lähmend und blind bleiben, denn sie kann der tieferen Krise der Gesellschaft nur das Festklammern an einer infragegestellten Form versachlichter Sicherheit entgegenhalten. Furcht sollten wir haben und zwar eine aktive, konkrete und perspektivische Furcht, die eingreifen kann in die Mobilisierung der Verunsicherung, die sich einem rechten Populismus mit Sündenböcken am Anfang, mit Feinden später und Kriegszustand zuletzt, entgegenstellt.

Die Politik der Krisenlösung durch Spaltung wird versuchen, die Sozialstaatskrise durch Ausgrenzung von Menschen einerseits, durch Ausgrenzung von innerpsychischen "Krisenherden" andererseits gewaltsam zu verschieben: Die ökonomischfinanzielle Sanierung muß noch mehr Sündenböcke zum Abschuß freigeben; die Demagogie des "Mißbrauchs" ist nur die Vorstufe zur Kriegserklärung gegen die Opfer der ökonomischen Sanierung, gegen kapitalistisch nur "belastende" Frauen, Arme, Behinderte... Gegen die qualitative Krise der Sozialstaatlichkeit wird eine "ideologische Sanierung" versucht werden: Die Rechte wird versuchen, die angstmachende, verunsichernde Seite der Erosion von Leistungsprinzip und Sozialbeziehungen zu mobilisieren. Der Verunsicherung soll ein Feind geschaffen werden: "Bürokratie" und "leistungsfeindlicher Versorgungsstaat". Und alles Unbehagen soll sich hierauf konzentrieren und gegen diesen Feind richten, in gewaltsamer Kanalisierung und verdrängender Verkehrung: Kanalisierung derart, als es einen "Schuldigen" an der gesellschaftlichen Krise in ihrer ganzen Breite, von den Zusammenbrüchen der Familie bis zu den Zusammenbrüchen des vormals "sicheren" Stammarbeiters, geben soll. Und in die Köpfe soll die Verkehrung, daß die "Bürokratie" und der Staat an der gesellschaftlichen Erosion der alten Sicherheiten schuld sein soll.

Die entscheidende Frage wird sein, ob die rechte Sozialstaatskritik den "Druck" derart umlenken und konzentrieren kann, und ob das Ventil "Bürgerfreiheit" und "Leistungsbejahung" sich öffnen läßt. Die Frage wird sein, ob es der "Politik der Angst" gelingt, einen innergesellschaftlichen Kriegszustand herbeizuführen, der eine "neue Mehrheit" in gewalttätiger Krisenverleugnung zusammenhält gegen atomisierte, ausgegrenzte Minderheiten.

Die Wölfe heulen, die "Wende" ist schon im Gang...

Der innergesellschaftliche Kriegszustand ist keine Frage der Zukunft. Denn diese Zukunft hat bereits begonnen, bevor Kriegserklärungen formuliert (wie die eines Grafen Lambsdorff) und die Neugruppierung der Armeen vollzogen worden ist. Denn, wie schon die "naturwüchsigen" Krisenwirkungen - Spaltung der Arbeitenden, Vereinzelung der Opfer - das Terrain vorbereiten, so sind die Kräfte gegen den "Krieg" gelähmt, der gewerkschaftliche Widerstand ausgehöhlt und zerstört durch die Politik der sozialpartnerschaftlichen Nachgiebigkeit. Doch insbesondere die Politik der Machterhaltung um jeden Preis von Seiten der SPD, trägt (mittlerweile: trug) dazu bei, die Fronten zu eröffnen: Sündenböcke sind bereits zum Abschuß freigegeben worden, als sich die SPD auf die "Mißbrauchs"-Diskussion und auf ein reaktionäres "Umdenken" gegenüber Ausländern opportunistisch einließ. Hier ist ein Übergang bereits vollzogen worden, der Übergang von einem "Modell Deutschland" des Klassenkompromiß, sozialstaatlicher Kompensation (das nicht mehr geht) zu einer Volksgemeinschaft der (für den Weltmarkt) Fitgemachten à la Löwenthal. Die SPD-Politik der Machterhaltung hat den Boden für die "neue Mehrheit" vorbereitet, auf dem ein CDU-Populismus bald ernten wird. Die Pro-Reagan-Demo war eine erste Probe auf die "moralische Mehrheit" nunmehr hierzulande, und weitere populistische Mobilisierungen ("Für das Leben" etwa) stehen an. Und die offene, politische "Wende", der "Machtwechsel" zugunsten eines ins Deutsche übersetzten, neoliberalen Thatcherismus wird den Bankrott des "Modell Deutschland" nur noch offiziell machen. Was in der Sackgasse sozialdemokratischer Politik an gesellschaftlicher Spaltung in Kauf genommen wurde, wird in einer populistisch mobilisierenden Politik der Spaltung fortgesetzt werden! (Eine Fortsetzung, die in der Zwischenzeit eine deutliche Physiognomie und Zielrichtung gewonnen hat!)

Konturen der "Neuen Mehrheit"?

Wenn wir nach dem gesellschaftlichen Potential eines rechten Populismus fragen, dann ist das zum einen die Frage, welche Menschen sich in eine Politik der Angst integrieren lassen könnten. Zum anderen aber muß es eine Frage sein nach der anderen Möglichkeit, danach, wie wir eingreifen können, andere Auswege aus der Sackgasse gangbar machen können. Ein rechter Populismus wird nicht eine Angelegenheit von verängstigten Mittelständlern und arrivierten, "leistungsbejahenden", neuen Mittelschichten bleiben. Auch traditionell sozialdemokratische Stamm- und Facharbeiter werden zu seinem Potential, wenn ihre mit Selbstdisziplinierung zusammengehaltene Welt aus Qualifikation, Aufstieg und geldförmiger Kompensation zusammenbricht. Und der Schritt vom "Angebot" einer Löwenthal-Volksgemeinschaft samt Produktivismus, Nationalismus, Atomkraft, Exportmentalität auf Weltniveau samt "Ausländer raus!", der Schritt zum rechtspopulistischen, neoliberalen "Angebot" ist nicht groß und zudem sozialdemokratisch möglich gemacht. Ob Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger atomisiert bleiben, ob eine nationale, die Sündenbockzuschreibung nach unten verschiebende Identifikation greifen kann, ist auch eine Frage unserer politischen Anstrengungen. Das gleiche gilt gegenüber den Jugendlichen, bei denen es neben und in Strömungen des Revoltierens auch Nationalismus gibt; wo das Kokettieren mit starken Männern manchmal mehr als Kokettieren ist. Unsere Antworten werden eine Rolle spielen: Ob wir blind, rationalistisch die Scherben eines überholten Vergesellschaftungsmodells zusammenzuhalten versuchen, oder ob wir die Momente des Bruchs, der Revolte mit einer sozialen, ökonomischen und kulturellen Alternative verbinden können. Was wir erreichen müssen, ist, den noch vereinzelten Widerstand gegen Sozialabbau zur qualitativen Kritik am sozialstaatlichen Vergesellschaftungsmodell zu radikalisieren und gleichzeitig die Zähigkeit und Kraft einer sozial-ökonomischen Alternative herauszubilden.

Der real-existierende Widerstand und darüber hinaus ...

Sozialhilfeempfängergruppen, Arbeitslosenzentren, Ausländerinitiativen haben damit begonnen, den Widerstand gegen die soziale Ausgrenzung zu organisieren. Sie haben mit der Selbstorganisation gegen Resignation, Atomisierung und materiellkulturelle Entwertung begonnen, für die sich die Gewerkschaften nur zögernd und viel zu spät öffnen. Diese Gruppen leisten Aufklärung gegen die krisen-naturwüchsigen und demagogischen Ausgrenzungen, aber auch Sozialarbeit, eine Selbsthilfe, die nicht in den christlich-neoliberalen Rahmen von "Entstaatlichung" und Subsidiarität paßt, sondern sich der Sprachlosigkeit und Konkurrenz des Opfer-Seins verweigert.

Daneben gab und gibt es Initiativen, die einen umfassenderen Anspruch im Kampf gegen Krise und Sparpolitik haben. Ich meine zum einen die "Aufschrei"-Initiativen, zum anderen die "Initiative Soziale Sicherheit", die Organisierung um den "Sozialappell": Der "Aufschrei" begann mit einem offenen Brief an die "politisch Verantwortlichen", einer polemischen Anklage gegen Austerity und Sparpolitik und der Drohung mit Kampfmaßnahmen von Seiten der Sozialarbeiter und der "Drohung" mit Steinen, "Züricher Zuständen" von Seiten der Krisenopfer. Was als "Aufschreien", als Bruch mit Dialog und fachlichem Protest begann, ausgehend von Sozialprofis in Randbereichen des Sozialstaats, konnte bis zum Pol einer sozial und kulturell bunten Protestbewegung werden. Höhepunkte waren Streiks in einzelnen Sozialinstitutionen und das Auf-die-Straße-tragen der sozialen Misere in phantasievollen Aktionen der Regelverletzung. In den kulturellen Formen dieser Bewegung konnte ausgedrückt werden, daß der Widerstand gegen Sparpolitik etwas Qualitatives meint, nämlich Verteidigung selbstbestimmter Lebensformen und selbsttätiger sozialer Hilfe sein will. Sicher war dieses Qualitative zu diffus, zu wenig gesamtgesellschaftlich orientierte Strategie und die soziale Basis war noch schmal. Aber es sind nach den Aktionsphasen Kräfte und Gruppen geblieben, die den "kulturrevolutionären" Impuls des "Aufschrei" in andere Sozialinitiativen und in Wahlbewegungen (z.B. in die GAL in Hamburg) einbringen.

Der "Sozialappell", ausgehend von den "Falken" und linken Betriebs- und Gewerkschaftsleuten aus dem Ruhrgebiet, ist wirklich mehr "Appell" als "Aufschrei": Appell innerhalb eines im weitesten Sinne sozialdemokratisch, reformistischen Konsens über soziale Sicherung per Sozialstaatlichkeit, als Basis "der" Demokratie. Deutlich ist das Bestreben, an die SPD-Basis heranzukommen, den Reformismus einer Basis einzuklagen, "deren" Regierung sich vom Reformismus, nach rechts hin, entfernt hat. Einzig die 35-Stunden-Woche geht als betrieblich-gewerkschaftliche Forderung über den Horizont der bloßen Wiederherstellung von Sozialstaatlichkeit hinaus. Im Unterschied zum "Aufschrei" ist hiermit eine Perspektive benannt, die auf die ökonomischen Krisenursachen bezogen ist; doch die schon zu Opfer der Krise Gewordenen werden mit Sozialstaatlichkeit bedacht, deren ökonomische Basis es doch nicht mehr gibt. Obwohl mittlerweile in den Äußerungen des "Sozialappells" mehr von den Ausgegrenzten, von Frauen und Ausländerfeindlichkeit zu lesen ist, obwohl etwas mehr an "Buntheit" bei Aktionsformen gefordert wird, ist das Bewußtsein von der qualitativen Krise des Sozialstaats noch sehr in den Kinderschuhen. Bisweilen scheint es sogar, als verschwinde die "soziale Frage" hinter der - sicher richtigen - gewerkschaftspolitischen Kampagne; auch Tendenzen der parteipolitischen Instrumentalisierung der "Bewegung gegen Sozialabbau" gibt es (siehe auch den Bericht über den 3. Kongreß vom 24.10.82).

Kein Widerstand ohne Bruch, kein Widerstand ohne gesellschaftliche Alternative!

Wenn ich mir die beiden Strömungen nun ansehe, dann tue ich das sicher parteiisch. Meine Sympathien sind auf der Seite des "Aufschreis", auf der Seite des radikalen Bruchs, in aller Buntheit und sicher auch Diffusität, auf der Seite selbstbestimmter Lebenszusammenhänge. Und ich empfinde eher Distanz zu bedächtigen Sozialappellen, die die Sicherheit von gestern einklagen und dies auch in den politischen Formen von gestern tun. Sicher, ich sehe Probleme auf beiden Seiten:

Zum ersten sehe ich die Gefahr, daß das Nebeneinander von "Aufschrei" und "Sozialappell" eine gesellschaftliche Spaltung verdoppeln, sogar verfestigen könnte: nämlich die Spaltung in sozialstaatlich "Garantierte", auf der Basis von Wachstum, rationalisierter Industrie einerseits und subkulturell gettoisierte, kapitalitisch Überflüssige und Aussteiger andererseits. So hätten wir nur die Spaltungstendenzen des - in die Krise geratenen - "Modell Deutschland" sozial und kulturell vollstreckt.

Zum zweiten sehe ich, trotz einseitiger Sympathie, daß beiden Seiten etwas fehlt: Dem "Aufschrei" fehlt die nötige soziale und kulturelle Breite, um in den Ansätzen der selbstbestimmten Lebensformen eine gesamtgesellschaftliche Alternative sozialer Beziehungen, auch: sozialer Sicherheit beginnen zu können. Und es fehlt hier der Bezug auf die Ökonomie, die Perspektive eines Ausgangs aus der Krise, eines qualitativ alternativen Ausgangs in Richtung gesamtgesellschaftlicher Selbstbestimmung von Arbeits- und Lebensformen.

Dem "Sozialappell" dagegen fehlt die "kulturrevolutionäre" Tiefe, die Radikalität im Widerstand gegen die Krise. Eine Alternative zur bürokratisch-sozialstaatlichen Vergesellschaftung bleibt weitgehend außerhalb des Blickfelds und die gewerkschaftlich-betrieblich verengte Perspektive ist weder eine kapitalistisch immanente Krisenlösung (zu neuem Wachstum und Umverteilung im Anschluß daran), noch ist damit ein qualitativ anderer Ausgang aus der Krise angedeutet.

Forderungen zur Arbeitszeit und zur Arbeitsbeschaffung allein sind noch keine Perspektive. Eine Alternative zu kapitalistischer Intensivierung der Arbeit und Rationalisierung muß von qualitativ veränderter Arbeit reden, von Hierarchie, Arbeitsteilung und menschengerechter Technologie. Arbeitsbeschaffung muß nach qualitativen Kriterien gefordert werden, muß Arbeitsplatz-, Humanisierungs- und ökologische Auflagen erfüllen. Sonst bleibt es bei der staatlichen Förderung menschenfeindlicher und naturzerstörender "Modernisierung" des Kapitals. Sonst bleibt es bei einer matten Neuauflage eines Keynesianismus, der weder ökonomisch noch funktionieren kann, noch eine Antwort auf die gesellschaftliche Spaltung und die Krise des Vergesellschaftungsmodells ist.

Alles in allem: Widerstand gegen die Spaltung der Gesellschaft geht nicht, ohne der Krise der Sozialstaatlichkeit Rechnung zu tragen und, eine selbstbestimmte Alternative zur Sozialstaatlichkeit geht nicht jenseits einer veränderten Produktions-"logik" und einer "alternativen Hegemonie" (von Werten, Bedürfnisstrukturen, sozialen Beziehungen) im Staat und in den Institutionen selbst.

Ich meine: Wir sind an einem historischen Punkt angelangt, wo kein Widerstand, keine Verteidigung mehr gelingen kann, ohne daß wir Wege aus der gesellschaftlichen Sackgasse finden, ohne daß wir Antworten auf die umfassende Krise der kapitalistischen Lebensform geben. Denn, verdrängen wir aus Angst den umfassenden, gesellschaftlichen Bruch, dann werden die Zweifel und Ängste der Rechten gehören. Und ein deutsches Falkland, welches Angst und Sinnkrise gewalttätig heilt, wird sich finden lassen, und der Krieg muß nicht einmal außer Landes sein...