Verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich?

Probleme mit dem Sozialstaat

Der folgende Text ist die veränderte Fassung eines Artikels, den wir im Januar/Februar 1982 für die "Widersprüche" Heft 2 geschrieben haben; aus Platzgründen kann der Beitrag erst jetzt abgedruckt werden. Uns ging und geht es darum, daß im Widerstand gegen den Sozialabbau die qualitative Kritik an sozialstaatlicher Kontrolle und Kompensation nicht in Vergessenheit gerät.

Mittlerweile hat die Realität unsere Aussagen eingeholt: Die sozialdemokratische Sparpolitik - nach dem Konzept: Gürtel enger schnallen, damit's uns allen später wieder besser geht - hat keineswegs eine neoliberale Krisenlösung verhindern können, sondern war der Übergang zu ihr. Indem die Sozialdemokratie das liberale sozialpolitische Konzept von Selbstbeteiligung und Selbstverantwortung mitgetragen hat, hat sie sich selbst überflüssig gemacht. Sie hat so die neue rechte Regierungsmehrheit selber mit zustande gebracht.

Festzuhalten ist, daß das sozialdemokratische Konzept gescheitert ist und den Boden bereitet hat, auf dem die neue Mehrheit und Aussichten, wie sie das Lambsdorff-Papier eröffnet, munter sprießen können.

Ganz wie es einer Sozialdemokratie in der Opposition ansteht, werden wir sie bald als neue Freunde im Kampf gegen den noch massiveren Sozialabbau begrüßen können. Um so mehr ist es nötig, daß die Linke im Kampf gegen den Sozialabbau auf Alternativen zur bankrotten und herrschaftlichen Sozialstaatlichkeit besteht.

Die Sozialdemokratie frißt ihr Kind

Die Jahreslosung 1982 der sozialliberalen Bundesregierung lautete: "Deutsche, schnallt den Gürtel enger". Die Regierung machte reinen Tisch in ihrem Haushaltsbüro. Auch für Sozialdemokraten gab es kaum noch Tabus. Den angeblichen Sachzwängen begannen sie sogar ihr politisches Wunderkind, den Sozialstaat zu opfern. Die naturwüchsige Folge dieser Sparpolitik war die verstärkte Ausbreitung einer Wolfsmentalität in der BRD-Gesellschaft. Man gebraucht wieder mehr Ellenbogen, die Konkurrenz verschiedener Gesellschaftsgruppen diesseits der Klassengrenze hat sich verstärkt. Die eh kaum vorhandene Einheitlichkeit von Lohnarbeiterinteressen, die sich in der Krise verflüchtigte, wurde so von der sparwütigen Sozialdemokratie politisch noch mehr aufgelöst. Die Sozialdemokratie war auf dem Weg, sich - in Anerkennung ökonomischer Sachzwänge - von ihrem Sozialstaat zu verabschieden.

Die politischen und sozialen Gefahren dieses Abschiednehmens liegen auf der Hand: "Leistungsstarke" Gruppen werden gegen "Leistungsschwache" mobilisiert, ganze Gesellschaftsgruppen werden vom "Wohlstand" abgetrennt, bei der gewerkschaftlichen Interessenvertretung können Branchen-"Egoismen" zunehmen, die ökonomische Krise wird so verschärft, autoritäre Tendenzen nehmen noch zu:

Ist nun der politische Imperativ für die Linke die rigorose Verteidigung des Sozialstaats? Gibt es nicht genügend repressive Elemente der staatlichen Leistungen? Gab und gibt es nicht auch Kampagnen und Kämpfe gegen Teile des Sozialstaats: Heimkampagne, Kampf gegen das neue Jugendhilferecht, gegen Gefängnisse, gegen Arbeitszwang, gegen niedrige Sozialhilfesätze etc. Die Linke ist angesichts des rigiden Sparkurses der Bundesregierung in Gefahr, die alte Sozialdemokratie von gestern zu werden. Das soll heißen, daß sie bei einer blinden Verteidigung des Sozialstaats, seiner Arbeitsplätze und Dienstleistungen mehr oder weniger offen ein politisches Konzept der Sozialdemokratie trägt. Dies bestand im Versuch, über staatliche Versorgungsleistungen soziale Ungerechtigkeiten zugunsten einer sozialen Gleichheit bzw. Gleichberechtigung zu beseitigen.

Im aktuellen Widerstand gegen den Sozialabbau wird von der Initiative Soziale Sicherheit / Sozialappell eine Position eingenommen, die unseres Erachtens der der "alten Sozialdemokratie" nahe kommt. Angesichts rigider Sparpolitik und schwerer ökonomischer Krise suggeriert der Sozialappell, daß die radikale Formulierung "guter" sozialdemokratischer Forderungen der geeignete Weg sei, Perspektiven gegen die neoliberale Krisenlösung zu eröffnen. In einer solchen politischen Ausrichtung wird die Krise des Sozialstaats auf den Nenner gebracht: Die Reichen werden reicher - die Armen ärmer. Dieser Nenner wird der tiefgreifenden Krise der Sozialstaatlichkeit nicht gerecht: im ganzen Sozialappell steht kaum ein Wort über den kontrollierenden, herrschaftlichen Charakter der Sozialleistungen. Und die Forderungen des Sozialappells stellen - mit Ausnahme der nach Beschäftigung und Arbeitszeitverkürzung - auch nicht den kompensatorischen Charakter sozialstaatlicher Leistungen in Frage.

Die Sozialstaatsillusion

An diesem Konzept des Sozialstaats gab es seitens der radikalen Linken heftige Kritik. Sie beinhaltete im wesentlichen zwei Punkte: Einmal konnten den Vertretern einer solchen Politik Umverteilungsillusionen nachgewiesen werden, da der Staat erst nach der gesellschaftlich primären Verteilung des Reichtums, zwischen Kapital und Arbeit politisch wirken kann, also alle staatliche Umverteilungspolitik die soziale Klassenungleichheit zur Voraussetzung hat. Die fundamentale Konstitution von Ungleichheit in der kapitalistischen Ökonomie kann gerade nicht Gegenstand staatlicher Politik sein. Zum anderen wurden die Vertreter des Reformismus - so wurde das politische Konzept auf den Begriff gebracht - kritisiert, daß der Staat sozialpolitisch auf produziertes Elend nur reagieren könne, also nur die Folgen der kapitalistischen Produktion lindern könne. Zudem hat die Art und Weise des sozialen Zugriffs gegenüber den betroffenen Gesellschaftsmitgliedern oft einen erniedrigenden, repressiven Charakter. Denn Ziel staatlicher Sozialpolitik war und ist die Reproduktion des Lohnarbeiterverhältnisses - auch was Qualifikation und Verhaltensanforderungen angeht. Diese beiden Ebenen der hier sehr kurz zusammengefaßten Kritik seitens der radikalen Linken am Sozialstaat sind in der heutigen Diskussion wichtiger denn je: Fiskalisch scheinen kaum Umverteilungsspielräume zu existieren und die Qualität staatlicher Leistungen ist in den letzten Jahren immer mehr ins Gerede gekommen. .

Der Staat: Zuviel, zu groß und einfach bös

Zwei andere Kritiken am Sozialstaat wurden in jüngster Zeit vehement vertreten. Die konservative Kritik am Sozialstaat hat sich wieder in den Sattel geschwungen. Nebenher galoppiert auch die alternativ-grüne Kritik am Sozialstaat.

Beide Kritiken haben drei gemeinsame Angriffspunkte.

Einmal ist beiden das Verhältnis Sozialstaat - Bürger suspekt. Wobei bei den einen mehr der Bürger, bei den anderen mehr der Staat das Suspekte ist.

Die Konservativen posaunen es in alle Welt: Der Bundesbürger will einfach zu viel, seine Ansprüche sind zu hoch, letztlich ist er faul. Statt selber zu schauen, wie er zu seinem Wohlstand kommt oder momentane Nöte überwindet, hat er Ansprüche an den Staat. Der sozialdemokratische Geist hat diese Bürgerhaltung noch gefördert. Als Konsequenz schlagen die Konservativen vor: Der Staat soll sich zurückhalten, damit die Bürger nicht so viel fordern und die Bürger sollen nicht so viel fordern, damit der Staat sich zurückhalten kann. Hier wird eindeutig dem Konkurrenzprinzip dem Sozialdarwinismus das Wort geredet.

Diese konservative Kritik ist nun dabei, in der BRD zur Praxis zu werden. Im Lambsdorff-Papier wird dies mit aller Unverschämtheit deutlich: "Die Konsequenz eines Festklammerns an heute nicht mehr finanzierbare Leistungen des Staates bedeutet nur die weitere Verschärfung der Wachstums- und Beschäftigungsprobleme sowie eine Eskalation in den Umverteilungsstaat, der Leistung und Eigenvorsorge zunehmend bestraft und das Anspruchsdenken weiter fördert." (FR 13.9.82, S. 2) Was die Umsetzung solcher Positionen in politische Praxis bedeutet, zeigen die vorläufigen Koalitionsvereinbarungen zwischen CDU/CSU und FDP: rigides Sparen und weitere Selbstbeteiligungen: Kürzung des Kindergeldes, Krankenversicherungsbeitrag für Rentner, Anhebung der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung, Selbstbeteiligung an Krankheitskosten wird ausgeweitet: die Fünf-Mark-Regelung für den Krankenhausaufenthalt. Auch der kontrollierende und ideologische Charakter der Maßnahmen verschärft sich: Ausbau des vertrauensärztlichen Systems, Staffelung des Arbeitslosengeldes nach Familienstand, Anbindung Jugendlicher ans Elternhaus durch Streichung oder Einschränkung von Ausbildungs- oder Wohngeldförderung. Dieser weiteren Verschlechterung des Lebensstandards (inkl. Mehrwertsteuererhöhung) für den Großteil der Bevölkerung stehen auf Seiten des freien Unternehmertums Steuererleichterungen gegenüber: alles mit dem Ziel, mehr "Mut" zur Investition zu schaffen.

Die Alternativ-Grünen dagegen sehen das Problem im Staat. Soziale Leistungen versorgen ja den Bürger. Nun ist schon allerspätestens seit der Diskussion um Mütterlichkeit bekannt, daß Versorgung auch Abhängigkeit schafft. Die staatliche Versorgung der Bürger entmündigt diese, hält sie in Abhängigkeit von staatlichen Leistungen - obwohl die Leistungen doch vorgeben, Abhilfe zu schaffen - und schließlich verlieren die Bürger dadurch die Fähigkeit zu selbständiger, gemeinschaftlicher, nachbarschaftlicher Eigeninitiative. Fazit: Die staatliche Versorgungsleistung befreit nicht aus der Not, sondern schafft neue Abhängigkeit. Hier soll der Staat sich also deswegen zurückhalten, damit die Bürger sich positiv-gemeinschaftlich selber helfen können.

Zum anderen ist beiden Kritiken auch die staatliche Bürokratie suspekt.

Die Konservativen lassen keine Gelegenheit verstreichen, die Ineffektivität, den Parteibuchklientilismus der Bürokratie anzuprangern. Ihnen ist das Ganze auch viel zu technokratisch-wissenschaftlich aufgebläht. Statt dieses Wasserkopfes wünschen sie eine klare, kompetente, autoritäre Verwaltung, die diejenigen, die überhaupt noch Ansprüche haben dürfen, zeigt, wo's lang geht. Auch für die Grünen/Alternativen soll es wieder etwas persönlicher, und weniger verrechtlichter zugehen. Sie sehen das Problem der Bürokratie allerdings eher in deren Abgehobenheit, in ihrer Anonymität, in ihrer Größe: Menschen werden in der Mühle der staatlichen Bürokratie zu Nummern, Fällen, also zu beherrschten Objekten gemacht. Den Grund für die staatliche Herrschaftlichkeit sehen sie in der Bürokratie als einem Apparat, einer MegaMaschine, in ihrer zentralistischen Organisationsstruktur und in der Tendenz, ins Gigantische zu wachsen, bis diese Großinstitution die ganze Gesellschaft erdrückt.

Drittens haben beide Kritiken als gemeinsame Schlußfolgerung: Wir wollen weniger Staat.

Für die Konservativen soll der Staat mehr aus der Gesellschaft "aussteigen", damit die Konkurrenz wieder mehr zum Zuge kommt, und zwar auf allen Ebenen. Ökonomisch heißt dies: Die hohe bundesrepublikanische Staatsquote ist die Bremse, die Grenze des Wachstums und muß kräftig gesenkt werden.

Für Grüne/Alternativen ist der Staat zu sehr Motor des Wirtschaftswachstums, dessen stetiges Gedeihen Ziel staatlicher Politik ist. (Bloß) quantitativer Ausdruck des guten oder schlechten Gedeihens ist das Bruttosozialprodukt. Die Kritik - an der Sozialdemokratie - lautet, daß sie quantitätsfixiert das Bruttosozialprodukt zum Kriterium für Lebensqualität macht. Ökonomisch folgt aus der grün/alternativen Kritik am Staat im Extremfall die Forderung nach weniger Geld für den Staat bzw. die Forderung nach Ent-Staatlichung der Wirtschaft, damit einmal nicht mehr so viel staatlicher Mist gemacht werden kann und zweitens das Wachstum nicht mehr so weiterlaufen kann.

Daß es gegenüber solchen Positionen auf grün-alternativer Seite zwischenzeitlich positive Entwicklungen gab, soll hier nicht verschwiegen werden (vgl. Grünes NRW-Info Sonderheft l "Alternative Wirtschaft").

Fragen, die noch offen sind

In der Auseinandersetzung mit diesen beiden Arten der Sozialstaatskritik muß als politisches Kriterium gelten, inwieweit diese Kritiken in der Lage sind, Perspektiven gegen sich abzeichnende neoliberale Krisenlösungen zu entwerfen.

Die konservative Kritik bietet hierzu keinerlei Ansatzpunkte, da sie gerade auf die Werte des "freien Bürger" - Konkurrenz und individualistische Leistungsmoral - setzt und die Spaltungs- und Ausgrenzungstendenzen der gegenwärtigen Krise zu einem politisch wünschenswerten Zustand natürlicher Auslese mystifiziert. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit solcher Programmatik und Erfahrung (Großbritannien, USA) würde sich schon deshalb lohnen, weil konservative Kritik in Bevölkerungsstimmungen, im Unbehagen mit technokratischen Reformen, in Intellektuellenfeindlichkeit, und Ausgrenzungsbedürfnissen gegenüber "Leistungsschwachen" -nicht zuletzt bei der Arbeiterbasis - Anknüpfungspunkte* findet. Wir wollen uns hier jedoch auf die Probleme der grün/alternativen Kritik beschränken, da in ihr Perspektiven zur Überwindung der Krise kapitalistischer und realsozialistischer Gesellschaften gemutmaßt werden.

Wir wissen, daß es "die" grüne, alternative Position nicht gibt und sicher wird uns vorgeworfen, wir seien pauschal. Doch im Spektrum dessen, was zur grünen und alternativen Bewegung gezählt wird, finden sich immer wieder bestimmte Hauptargumente, Haupttheoreme. Und um diese geht's hier.

Die wesentlichen Probleme der grünen/alternativen Positionen scheinen uns die folgenden zu sein: Die Perspektive der Entstaatlichung mündet in Konzepten traditionaler, persönlicher, gegenseitiger Hilfe. Gegenüber den verrechtlichten bürokratischen Formen der Sozialstaatlichkeit werden positiv persönliche Beziehungen gesetzt. Stillschweigend wird dabei immer unterstellt, als seien solche Formen persönliche (Ver)Bindungen ohne herrschaftlichen Charakter. Dies ist allerdings weder theoretisch noch bei Betrachtung der Geschichte eine zwingende Konsequenz. Gerade verwandtschaftliche, familiale Sozialbeziehungen zeichnen sich als persönliche Herrschaftsformen, deren wesentliches Moment Willkür ist, aus.

Neben dieser Unterstellung wird auch in der Kritik verrechtlichter Formen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Die an die Form bürgerlichen Rechts gebundene Utopie des Gleichheitspostulats wird im Abseits belassen. Die Forderung nach sozialer Gleichheit, die sich in der Allgemeinheit des Rechtsanspruchs findet, enthält nämlich die politisch-moralische Anerkennung eines sozialen Menschenrechts. Des Menschenrechts auf ein Leben ohne Armut, Not und Hunger.

Allerdings bedeutet dies auch nur den Anspruch auf eine staatliche Leistung und nicht die materielle Realisierung eines bestimmten Lebensniveaus. In diesen Problemen steckt die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen der rechtlichen, bürokratischen Formen bürgerlicher Sozialstaatlichkeit bzw. nach Alternativen zu diesen Formen von Politik und Bürokratie.

Die Perspektive der Entstaatlichung in gemeinschaftliche, nachbarschaftliche Organisationen läßt weiterhin den gesellschaftlichen Mechanismus der Produktion sozialer Probleme unberührt. Die Frage, weshalb bestimmte soziale Leistungen - egal ob staatlich oder selbstgeholfen - notwendig werden, kann sich so kaum mehr stellen. Die gesamtgesellschaftliche Durchsetzung eines solchen Konzepts soll über die Vernetzung der vielen dezentralen Alternativen geschehen. Unterstellt ist dabei, daß die Addition verschiedener, zersplitterter Alternativen die gesellschaftlichen Prioritäten umwerfen kann, daß ein alternativer gesellschaftlicher Zusammenhang durch die Verknüpfung im großen Netz sich konstituiert. Offen bleibt dabei nicht nur, inwieweit die dezentralen Einheiten noch mit den Muttermalen der alten Gesellschaft behaftet sind, sondern auch als bedeutende Frage, wie denn die existierende politische Macht aufgelöst wird.

Eine der für die aktuelle Krise entscheidende Frage, nämlich die nach der Überwindung des kompensatorischen Charakters der Sozialpolitik bleibt ebenso unbeantwortet, es sei denn, man akzeptiert die Bildung der gemeinschaftlichen Zusammenhänge als Antwort. So jedenfalls - in der Nichtbeachtung der Ursachen der sozialen Probleme und im Selbsthelfer-Eifer - bieten diese Konzepte keine Gewähr für die Verhinderung einer neoliberalen Krisenlösung. Diese Konzepte bleiben weitgehend auf den Reproduktionsbereich, auf Alternativen zu den Institutionen des Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesens beschränkt. Diese Beschränkung auf "Sozialpolitik" müßte überwunden werden, hält man sich die gesamtgesellschaftlichen, ökonomischen Ursachen der gegenwärtigen Krise vor Augen. Schließlich unterstellt die grün/alternative Forderung nach weniger Staat auch die Unverbindlichkeit bürgerlicher Hegemonie, d.h. bürgerlich-herrschaftlicher Interessen und Qualitäten in den staatlichen Institutionen.

Für uns heißt das dagegen zu fragen, ob und wie sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse auch in den politischen Institutionen verändern lassen und wie sich dabei deren herrschaftliche Formen abschaffen lassen!

Was macht den Staat sozial?

Der Sozialstaat ist keine Mega-Sozial-Maschine. Weder dieses Schreckbild auf grüner Seite, noch die technokratische Utopie auf rosa Seite, stimmen. Vielmehr: Sprunghaft bewegt sich der Sozialstaat weiter, wenn man ihm Beine macht; periodisch ist er abgemagert und immer kommt er zu spät. Theoretischer: Sozialpolitik, als "ideell-gesamtkapitalistische" Reproduktion der Arbeitskraft, ist determiniert und formbestimmt von der Logik und Dynamik der Kapital-Verwertung. Sozialpolitik soll die Voraussetzungen der bürgerlichen Konkurrenz bewerkstelligen, wie die Mängel kompensieren, und soll dies tun unter dem Diktat des Akkumulationsprozesses, mit dem zusammen es auch munter auf und ab geht. Sozialpolitik vollzieht durch ihren Zick-Zack-Weg hindurch die Vergesellschaftung der Reproduktion quantitativ und qualitativ, wie auch institutionell nach.

Aber dem Sozialbürger wird nichts geschenkt, was vom Standpunkt des Profits zuallererst Abzug bedeutet. Sozialpolitik und Sozialstaatlichkeit mußte erkämpft und muß durchgesetzt werden gegen die privaten, einzelkapitalistischen Interessen. Sozialpolitik ist immer Klassenkompromiß.

Dies einer grünen Kopfstandphilosophie ins Stammbuch, die den Sozialstaat zur Ursache, zum Zentrum von Herrschaft und Entfremdung mystifiziert. Aber auch: daß es materiell immer klemmen muß, daß es zyklisch auf und ab geht, daß Sozialpolitik eher auf "Verwertung" hört, als auf "Gerechtigkeit" - dies wird der sozialdemokratische Gradualismus nie lernen.

Sozial, aber nach Vorschrift

Sozialpolitik ist Klassenkompromiß und zwar ist sie ein Kompromiß, der in eine bestimmte Form gegossen werden mußte: Sie ist Kampfresultat und verdinglichtes Kräfteverhältnis, dies aber formbestimmt von der kapitalistischen Rationalität: Aus sozialen, materiellen Bedürfnissen sind abgehobene Institutionen geworden. Individualisierte Rechtsansprüche und quantifizierte Kriterien sind die Form, die soziale Notlagen annehmen müssen. Bürokratisch regulierte Leistung ist die Form der Zuwendung, und Rechte bringen Pflichten, Kontrolle mit sich, notfalls Zwang (z.B. in der Sozialhilfe und in der Arbeitslosenversicherung); Zwang, auch zu einer herrschenden Normalität. Und dieser rechtsförmig-bürokratischen Struktur der Sozialpolitik entspricht eine herrschaftswissenschaftliche Rationalität, die menschliche Notlagen zu quantifizierten Defizienz-Daten und Hilfe zu instrumentellen inputs gerinnen läßt. Sozialpolitik ist selbst Teil der herrschaftlichen Rationalität der kapitalistischen Vergesellschaftungslogik, welche in der wert-bestimmten Form der Produktion ihren Ausgangspunkt hat. Diese herrschaftliche Form der Sozialpolitik muß für jede Alternative zum Problem werden, die über Widerstand hinausgehend, auf eine neue Qualität zielt. Denn eine sozialpolitische Perspektive, der es um selbstbestimmte Bedürfnisbefriedigung, statt um Leistungs-Optimierung geht, wird die repressiv-verdinglichende Form sprengen müssen.

Sozialstaat in der Klemme

Wenn wir gegen den Sozialabbau Widerstand leisten wollen und zwar Widerstand mit qualitativer Richtung, müssen wir über den sozialpolitischen Suppentopf schon hinausblicken. Denn das herrschende Sparen ist ja unverzichtbarer Teil eines ökonomischen Konzepts, der Austeritäts-Politik nämlich, als "Modell Deutschland" (noch) in etwas gepolsterter Ausführung. Und Austerität heißt Anpassung an Weltmarkt-Rentablität, heißt Konkurrenz, Privatisierung und Senkung der Reproduktions-"Kosten", wenn es sein muß, über Leichen.

Der Zusammenhang von Ökonomie und Sozialpolitik gilt nun auch perspektivisch: Jeder sozialpolitische Widerstand wird sich im Verschiebebahnhof von Konfliktmanagement gegenüber einzelnen, besonders potenten Forderungen verlaufen, wenn sich der Widerstand nicht mittelfristig innerhalb einer gesamtökonomischen Alternative zur Austerität bewegen kann. Aus der politischen Zwickmühle von Krise des Sozialstaats und Kritik am Sozialstaat kann es nur einen Ausbruch geben: ein sozialpolitisches und gesamtgesellschaftliches "Projekt" des Ausgangs aus der Krise, welches gleichzeitig ein "Projekt" des Übergangs in eine alternative Vergesellschaftung sein muß.

An diesem Punkt muß die gewerkschaftliche und linke Diskussion über "Alternative Wirtschaftspolitik" weitergehen, qualitativ-inhaltlich orientiert weitergehen: Über ein staatliches Beschäftigungsprogramm, über staatliche Arbeitsbeschaffung mit Arbeitsplatz-, ökologischen und sozialpolitischen Auflagen, also mit qualitativen Prioritäten und Ausrichtungen. Die entscheidenden Fragen werden dabei sein: Wie lassen sich Wirkungen und Folgewirkungen gesellschaftlich kontrollieren? Und, vor allem: Wie lassen sich kurzfristige Arbeitsplatz- und sozialpolitische Wirkungen mit längerfristiger Qualitätsveränderung in Richtung eines anders vergesellschafteten "kollektiven Konsums" kombinieren? Angesichts der Sackgasse von Sozialpartnerschaft und "Modell Deutschland" und der sich abzeichnenden "Wende" nach rechts wird nur beides zusammen gehen.

Staat und Bewegung in Bewegung

Schon der oberflächliche Blick auf gegenwärtige Krisen-Realitäten und Spar-Mentalitäten läßt natürlich an einer solchen Perspektive zweifeln. Die "neue Mehrheit" für eine eingedeutschte, neoliberale Krisenlösung wird eine solche Perspektive sicher nicht erleichtern, allenfalls die Notwendigkeit hierzu radikalisieren. Betriebliche und gewerkschaftliche Alternativen sind weitgehend blockiert. Verlustängste und Arbeitsplatz-Erpressung lassen immer noch fast alle Bewegungen erstarren, sind Schmieröl für die Austerity-Anpassung. Daß aber die Diskussion über ein Arbeitsbeschaffungsprogramm nicht mehr in die linke Ecke akademischer Spinner oder blinder Radikalinskis abgedrängt werden kann, signalisiert neben den Katastrophenzahlen doch einen qualitativen Wendepunkt: Die Gewerkschaften bekommen in einem schmerzhaften Prozeß zu spüren, daß es ihnen an die sozialpartnerschaftliche Substanz geht, an "ihre" Stammarbeiterschaft! Erst jetzt, wo die Ausgrenzungs-, Marginalisierungskehrseite der Medaille "Modell Deutschland" den krisengeschützt geglaubten Facharbeiter erreicht hat, wird die Sackgasse bis tief hinein in den Apparat deutlich. Die Sackgasse Sozialpartnerschaft nämlich, welche glaubte, den deutschen, qualifizierten "Kern" der Beschäftigten retten zu können vor Abgruppierung und Entlassung, koste es, was und wen es wolle. Erst am Punkt, wo die Gewerkschaften ohnmächtig zusehen müssen, wie sie ihre (eh verengte) Basis der sozialen Erosion ausliefern und wie sie selbst dabei sind, objektiv gesellschaftlich überflüssig zu werden (zum bloßen Anhängsel kapitalistischer Weltmarktstrategien, ohne Kampfkraft, ohne Alternative), erst jetzt scheint die späte Wende unausweichlich. Symptome und Ansätze der Wende gibt es mehrere:

Einmal, die in Bewegung gekommene gewerkschaftliche Diskussion über die Wochen-Arbeitszeitverkürzung. Gerade in der Auseinandersetzung mit der Forderung nach "Tarifrente", welche dem schnellen Verschleiß von Menschen und der Intensivierung der Arbeit geradezu entgegenkommt, wird die Diskussion inhaltlicher und umfassender.

Zum zweiten, geht es verstärkt um Arbeitsbedingungen, gerade im Zusammenhang mit Intensivierung, neuen Technologien und Betriebsdatensystemen. Der Steinkühler-Entwurf für einen Lohnrahmen-Tarifvertrag zur Kontrolle der Arbeitsbedingungen versucht einen Ausweg aus der Spirale bloß hilflosen Reagierens, aus der Politik des bloßen Abfederns der sozialen Folgen von Rationalisierung und Dequalifikation.

Zum dritten geht die Diskussion um ein Arbeitsbeschaffungsprogramm, wenn auch erst die Konturen eines konventionell-rechtskeynesianischen Programms sichtbar sind. In der Auseinandersetzung mit dem neoliberalen Sparen ist es sicher schwierig, sich aus der sozialliberalen Tradition staatlicher Modernisierungsvorgaben mit dem Klassenziel: reibungslose Weltmarktanpassung zu lösen. Eine Sozialdemokratie in der Opposition wird sich auch gern zu jenen Hochzeiten des "Modell Deutschland" bekennen und dabei ihr eigenes Abdriften in die Austeritätspolitik vergessen machen wollen.

Trotzdem: Die Gewerkschaften werden erfahren, daß sich ihnen die Fragen von Qualität und Gegenmacht ganz schnell stellen werden, wenn sie aus der selbstzerstörerischen Sozialpartnerschaft auszubrechen versuchen. Denn privatkapitalistische und staatsfiskalische Erpressungsmanöver werden zu durchkreuzen sein und zwar im Wettlauf gegen die zerstörerischen Auswirkungen, die die Weltmarktanpassung auf die betrieblich-gewerkschaftliche Basis jeglicher Gegenmacht dauernd ausübt. So wird jeder Versuch betrieblicher Gegenmacht auf die Organisation von gewerkschaftlicher, sozialpolitischer und gesamtgesellschaftlicher Gegenmacht verwiesen sein.

Und es wird eine Gegenmacht mit dem Ziel sein müssen, eine qualitative Alternative zur Weltmarktanpassung und zur - immer dünner werdenden - sozialstaatlichen Kompensation der Anpassungsopfer durchzusetzen. Und es wird geschehen müssen, bevor eine rechte Mobilisierung von Bedrohten und Opfern, gegen andere Opfer, das Terrain besetzt hat.

Alternativer Block und Hegemonie

Die zentrale Frage wird sein: Wie kann aus alternativer Staatspolitik ein gesellschaftliches "Projekt" werden? Wobei zumindest Ansätze von Mobilisierung um ein solches "Projekt" überhaupt erst staatliche Alternativen erzwingen können und dann kontrollieren müssen, gleichzeitig aber Gegenmacht nur haltbar sein wird, wenn kurzfristige Beschäftigungs- und sozialpolitische Effekte diese sozial und für die gesellschaftliche Atmosphäre erfahrbar abstützen. Um diesen gordischen Knoten, den die Sozialpartnerschaft so unentwirrbar und unlösbar geknüpft hat, durchhauen zu können, ist mehr nötig, als ein nur gewerkschaftlicher Kraftakt: Um das gesellschaftliche "Projekt" des Ausgangs aus der Krise mit kurzfristiger sozialer Konsolidierung und längerfristiger Veränderung der Qualität ökonomischer und sozialer Beziehungen zu formulieren und durchzusetzen, bedarf es eines spezifischen "historischen Kompromiß'".

Es ist ein "historischer Kompromiß", dem es gelingen muß,

  1. Perspektiven aus der Alltagsnot der Abgruppierten, Arbeitslosen und Deklassierten zu entwickeln,
  2. die gesellschaftlich breiten Erosionstendenzen von "Sinn" und der Identität des "calvinistischen Sozialcharakters" aufzunehmen
  3. die bislang partialisierten "kulturrevolutionären" Bewegungen und Bedürfnisse um eine Focus gesamtgesellschaftlicher und kollektiver, aber auch individueller Lebensperspektiven zu gruppieren und einen sozial-kulturellen "Alternativen Block" zu formen.

Konkreter: Die Angst des Facharbeiters vor Deklassierung, die Verstörung und der Zerfall der Pflicht- und Leistungs-identität des jüngeren Angestellten, die Kraft der Ökologen in die zivilisationskritische Richtung eines neuen Naturverhältnisses in Energieversorgung, Arbeit und Lebensweise, und der, von Geschlechtsherrschaft sich befreiende Lebenswunsch der Frauen müssen zusammenfinden können. Ohne bleibende Widersprüche zu überspringen, muß zumindest soweit eine gesellschaftliche Kräftekombination entstehen, daß der Ausbruch aus der Sackgasse erzwungen und ein Weg selbstbestimmter, gesellschaftlicher Auseinandersetzung über Bedürfnisse, Beziehungen, Arbeitsformen und Naturverhältnisse eröffnet werden kann.

Nicht zuletzt die Linke ist gefordert, diese Vermittlungsarbeit zu versuchen; und das Ziel: selbstbestimmte Vergesellschaftung muß konkret, materiell in Perspektiven, beispielsweise selbstverwalteter sozialer Sicherheit, in Lebens- und Beziehungsformen ohne institutionelle Versteinerung, in konkreten Utopien selbstbestimmter Arbeit, jenseits von Kapital und Gettoisierung, greifbar werden.

Jenseits von Sozialpolitik

Eine Gesamtperspektive gesellschaftlichen Übergangs steht an. Sie ist notwendig, wenn sich sozialpolitisch etwas entscheidend bewegen soll, heraus aus den zersplitterten Abwehrversuchen und der Lähmung. Sie ist auch möglich, denn die rationalisierten Sicherheiten sind erschüttert. Doch was kann das heißen: alternative Qualität von Sozialpolitik ? Die kompensatorische Logik der sozialstaatlichen Vergesellschaftung müßte überwunden werden. Nicht-kompensatorische Sozialpolitik wäre anderes als Reparatur schon erlittener gesellschaftlicher Zerstörungen. Sie wäre selbsttätige Formulierung und "Produktion" von Formen sozialer Bedürfnisbefriedigung oder Problemlösung. Reproduktion wäre nicht mehr Re-Produktion bloßer Arbeitskraft, nicht mehr Zurichtung der Menschen zu fungiblen Körpern, Köpfen und Sinnen für einen versachlichten, realabstrakten (Arbeits-)Prozeß.

Wie solche sozialpolitischen Perspektiven entwickelt werden können, kann die Debatte um "Arbeitermedizin statt Arbeitsmedizin", in Italien und in Anfängen auch hier geführt, ein wenig erhellen: Hier geht es darum, anstelle von herrschaftswissenschaftlichen Daten, die Körpererfahrungen, Wahrnehmungen und Einschätzungen der Betroffenen von Arbeitsleid zum Ansatzpunkt - nun - arbeiter-medizinischer und gewerkschaftlicher Forderungen zu machen. Den Produzenten selbst soll die Wahrnehmungs- und Interpretationsverfügung über Arbeitsbedingungen, die krankmachenden Auswirkungen und über ihre eigene, gesundheitliche Individualität zurückgegeben werden. Dies mit dem Ziel, damit ein Stückchen auf dem Weg hin zur realen Verfügung über ihren Arbeitsprozeß zu gehen, reale Verfügung über die Qualität der Produktion zu erkämpfen.

Der neue Inhalt, die Bedürfnisse und Interpretationen sind hier unlösbar an die Verschiebung zunächst betrieblicher Machtverhältnisse gebunden. Und es bedarf Mechanismen und Strukturen betriebsübergreifender, tendenziell gesamtgesellschaftlicher Gegenmacht, um daraus Formen gesundheitlicher und sozialpolitischer Bedürfnisbefriedigung entstehen zu lassen und durchzusetzen gegen herrschende Hegemonien und Interessen.

In diesem Zusammenhang stellt sich das allgemeine Problem, wie Institutionen transformiert werden können, wie der neue sozialpolitische Bedürfnisinhalt die herrschaftliche Form sprengen kann. Wie kann Selbstverwaltung durchgesetzt werden, wie können objektive Vergesellschaftungstendenzen und Erosionen bisher scheinbar natürlicher Herrschaftlichkeit auf die Spitze des Konflikts getrieben werden ? Nicht nur ein Kräfteverhältnis um oder für Institutionen, sondern ein Kräfteverhältnis in den Institutionen, im Staat selbst ist vonnöten. Und es ist ein Kräfteverhältnis um die Umwälzung der in Definitionen, fachlichen Methoden, Rechtsformen, Kommunikationsstrategien, Hierarchien und Mentalitäten verborgenen Herrschaft.

Doch eine Alternative zur kompensatorisch-bürokratischen Sozialstaatlichkeit ist keine Frage, die auf dem Boden einzelner Institutionen zu entscheiden ist. Denn es geht um die Alternative zur Gesamtheit eines "sozialen Netzes", dessen Maschen aus individualisierenden Rechtsansprüchen, aus Reglementierungen und quantifizierten Warenkörben bestehen, wo Opfer gegeneinander und immer tiefer fallen.

Ziel müßte sein, das sozialstaatliche Kompensations- und Selektionssystem zu einem Garantiesystem zu verändern: Statt partialisierter Regelsätze und Zusatzleistungen - Garantie eines humanen Lebensstandards mittels pauschaler Geldzuweisung ohne Reglementierungen und "Zumutbarkeiten". Ziel müßte eine tendenziell egalitäre Garantie für alle Nicht-Arbeitenden, getragen von Solidargemeinschaften und Staat, sein. (Vgl. hierzu das Konzept einer "negativen Einkommensteuer" bei Joachim Hirsch in "Widersprüche" 2) Diese egalitäre, soziale Garantie geht natürlich an den gesellschaftlichen Nerv: an den Nerv Leistungsprinzip, Arbeitsteilung und Hierarchie und sozialstaatlichen Arbeitszwang. Doch dies kann kein Argument gegen eine solche Transformationsperspektive der Sozialstaatlichkeit sein. Eher ist es ein Argument dafür, daß in der gegenwärtigen Krise die Alternativen zur Sozial-Spar-Politik, Alternativen zur menschenfeindlichen Rationalisierung und Segmentierung der Arbeit, Alternativen zu naturzerstörenden Produktionen sich treffen müssen, daß wir Blindheit und Blockierung der Perspektiven überwinden müssen.

Es wird darauf ankommen, die Perspektive einer egalitären sozialen Garantie in die sozialpolitischen Tageskämpfe einzubringen. Einzubringen beispielsweise in den Konflikt um Pflegesätze und Taschengelder für Alte und Behinderte. Die Forderung, die Quantitatives und Qualitatives verbindet, könnte hier sein: Gegen alle Kürzungen, aber auch gegen die herrschende Praxis partialisierter und entmündigender Sozial-Hilfe; statt des reglementierenden Systems von Heimpflegesatz, Taschengeld, Hilfe zum Lebensunterhalt und einbehaltener Rente: Geld für eine menschenwürdige Lebenshaltung zur freien Disposition und Entscheidung, für oder gegen Heim, für oder gegen Selbstversorgung, Antisparpolitik, antibürokratische und emanzipatorische Perspektiven von "Grauen Panthern" oder "Krüppelgruppen" sind hier konkret einlösbar.

Es muß und wird sich im Alltag der sozialpolitisch Betroffenen wie Professionellen entscheiden, ob und wie sich jene Hegemonie eines alternativen, gesellschaftlichen Blocks in neuen Formen des sozialen Umgangs und der Beziehungen materialisieren und durchsetzen läßt. Über Widerstand hinaus und in ihm werden wir die Alternative schaffen müssen, oder wir werden mit Krisen-Gewalt zurückgerissen werden - zurückgerissen in einen kapitalistischen "Naturzustand" der Wolfskonkurrenz, mitsamt faschistischem Notausgang ... Nur eine Alternative im Widerstand wird die immer näher kommende, rechte Mobilisierung der Krisen-Angst verhindern können; wird verhindern, daß die Infragestellung der bürgerlichen Hegemonie von Pflicht-Ethos und vom "Überleben des starken einzelnen" in gewalttätige Verdrängung umschlägt. Die Erfahrung der Selbsttätigkeit im Widerstand - mit Perspektive und Utopie -allein wird es ermöglichen, daß wir den gesellschaftlichen Krieg gegen die Opfer und der Opfer gegeneinander vereiteln

*) Momentan geht es da einigen um mehr als um Anknüpfungspunkte: CSU-Chef Strauß z.B. nutzte die Regierungskrise und den bevorstehenden Regierungswechsel in Bonn, um noch einmal deutlich zu machen, daß er die kompromißlose Wende will. Dieser rechten Politik geht es nicht darum, für die neoliberale Wende zu mobilisieren: Strauß hat in der Bevölkerung "Ärger, Empörung, Ungeduld" registriert, Stoiber stellt fest: "Die Leute wollen sich jetzt artikulieren" (vgl. FR 21.9.82, S. 3). Was sich hier als Argument für rasche Neuwahlen darstellte hat als Basis die demagogische Offensive gegen die "Schwachen" der Gesellschaft seitens einer moralischen Mehrheit, deren Wortführer in christlichen und liberalen Parteispitzen ebenso zu finden sind wie unter Bischofsmützen, auf philosophischen, sozialwissenschaftlichen Lehrstühlen und in den oberen Etagen eifriger Meinungsbildungsinstitute.