Systemwechsel in der sozialen Sicherung
Abstract
In der Traditionslinie der Sozialstaatskritik der undogmatischen und feministischen Linken wird das deutsche Sozialversicherungssystem zu Recht kritisiert: Die (sozialrechliche und politische) Orientierung der Leistungsansprüche am herkömmlichen Normalarbeitsverhältnis hat jahrzehntelang weibliche Erwerbsarbeit und typische weibliche Lebensläufe diskriminiert. Wegen der Bindung der Sozialversicherungssysteme am Normalarbeitsverhältnis ist der Risiko- und Einkommensschutz für prekär oder auch nur teilzeitbeschäftigte Lohnabhängige oder für Erwerbstätige in den Grenzbereichen der Scheinselbständigkeit bzw. prekären Selbständigkeit gering. Das Äquivalenz- und Leistungsprinzip bei Beitrag [strong]und[/strong] Versicherungsansprüchen hat eine sozialkonservative Funktion bei der Verfestigung von Hierarchien und Statusunterschieden innerhalb der Lohnabhängigen. Schließlich wird regelmäßig auf die historische (bismarcksche) Prägung der modernen deutschen Sozialversicherung hingewiesen: Die Durchsetzung der modernen Sozialversicherung in Deutschland war verbunden mit der politischen (und wirtschaftlichen) Enteignung der genossenschaftlichen Selbsthilfekassen der frühen Arbeiterbewegung und auch als ein Instrument der Herrschaftssicherung gegenüber der Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts angelegt. [...] Vor dem Hintergrund dieser historischen Erfahrung und der entsprechenden Debatte überrascht es nicht, wenn die Präferenz der nichtsozialdemokratischen und außergewerkschaftlichen Linken, sofern sie sich überhaupt mit rechtlichen, institutionellen oder ökonomischen (Detail)Fragen des sozialpolitischen Feldes beschäftigen, eindeutig in Richtung steuerfinanzierter Sicherungssysteme geht. Dem traditionellen Versicherungsprinzip wird beispielsweise auch in der viel besprochenen Veröffentlichung der AG links-netz aus September 2003 zu den Umrissen eines Konzepts von Sozialpolitik als Infrastruktur eine deutliche Absage erteilt.