Sozialpolitik oder Politik des Sozialen

Anmerkungen zum analytischen Zugang zu einem Politikfeld

Die Positionen zur Sozialpolitik ließen sich lange Zeit auf ein einfaches Pro und Contra reduzieren:

Pro: Verbesserung der sozialen Lage der Lohnabhängigen durch kollektiven Schutz vor Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter; Ansatz zur Lösung der sozialen Frage.

Contra: Systemintegration der Arbeiterklasse durch die Herrschenden. Stabilisierung eines minimalen Lebensniveaus, damit das Kapital seine in- und ausländischen Raubzüge in Ruhe und auf Kosten der Integrierten entfalten kann.

Einen neuen Akzent bekam die Diskussion Ende der 60er Jahre durch die "Disparitäten"-These (BRANDT, OFFE u.a. 1969). In ihr wird behauptet, die alte "soziale Frage" sei zwar nicht gelöst, aber doch weitgehend geregelt - durch einen institutionalisierten Klassenkompromiß. Hingegen haben sich neu - und zwar quer zur jeweiligen Klassenlage - unterschiedliche Disparitäten von Lebenslagen entwickelt, die sich vor allem auf den Wohnbereich, auf Bildung und Gesundheit, sowie auf die Verkehrsinfrastruktur beziehen. Entsprechend hätten sich die sozialen und politischen Protestpotentiale verändert. Bürgerinitiativen bzw. Studentenbewegungen seien ein Zeichen dafür.

Dieser Ansatz rief eine heftige Kontroverse hervor. Für den einen Teil wurde die Disparitäten-These zum bevorzugten Modell (vor allem in der Sozialarbeit, in der Infrastruktur und in der Bewertung sozialer Bewegungen). Man kann diese Position als eine modifizierte Pro-Position kennzeichnen.

Auf der anderen Seite rief dieser Ansatz eine heftige Ablehnung hervor. Er kristallisierte sich in dem Artikel von Müller und Neusüß über die Sozialstaatsillusion (1971). In einem ausführlichen historischen Exkurs griffen sie die durch den Faschismus gewaltsam abgerissene Contra-Position auf und geißelten die Disparitäten-These als geschickten neuen Versuch, die Arbeiterklasse zu spalten, zu integrieren und von grundlegenden revolutionären Veränderungen abzulenken. Offe (1972) entgegnete mit einer informativen Polemik, in der er herausstellte, daß der kapitalistische Staat nicht instrumenteil aus der Ökonomie zu erklären sei, sondern daß es gerade sein Kennzeichen sei, Eigeninteresse an sich selbst zu entwickeln und daß entsprechend eine wohlverstandene Disparitäts-These eine kritischere Analyse der Gegenwart beinhalten könne als die gescheiterte Positionen der Contra-Seite. (Informativ deshalb, da er einen guten Überblick über die amerikanische kritische Forschungsdiskussion gibt.)

Wenig später präzisiert Offe seine Position zur Sozialpolitik (1975):Im Unterschied zu früher sei die neue Sozialpolitik nicht mehr (nur) kompensatorisch absichernd von Fall zu Fall, sondern - darüber hinaus - subsidiär. Damit meint er, daß alle ihre funktionalen Konsequenzen darauf hinauslaufen, die menschliche Arbeitskraft und alle Waren marktgängig zu machen bzw. zu erhalten. Darüber hinaus betont er die dritte Funktion: nämlich die der Legitimation. Wichtig sei, daß Legitimität nicht jeweils neu erzeugt werden müsse, sondern Massenloyalität unhinterfragt bestehe.

Zusammen mit Lehnhardt (1978) vertieft er die Position, indem er die Geschichte der Sozialpolitik als Politik der passiven und aktiven Proletarisierung kennzeichnet. Damit gelang ihm auf den ersten Blick eine Aufhebung der alten Pro- und Contra-Positionen.

Steinert (1986) kritisiert Lehnhardt/Offe - und damit alle bisher formulierten Positionen - als zu funktionalistisch und instrumentalistisch. Er meint damit, daß die Herangehensweise, die Auswirkungen von Sozialpolitik im wesentlichen auf die von den sozialpolitischen Maßnahmen Betroffenen zu beziehen, zu kurz greife. Vielmehr stecke in jeder sozialpolitischen Maßnahme auch eine hegemoniale Botschaft, die Adressaten der sozialpolitischen Maßnahmen seien also auch die nicht direkt von ihr Betroffenen. Insgesamt gehe es um die Herstellung eines hegemonialen "way of life", der so unhinterfragt vorherrschend sei, daß alle anderen Lebensformen und -weisen als abweichende erscheinen. Damit schließt er an einen vor allem im französischen und angloamerikanischen Bereich geführten Diskurs an, der sich auf Althusser, Poulantzas und auf kritische bzw. marxistische Strafrechtssoziologen bezieht (z.B. Marxism and Law (1978)). Deren Kritik an den vorherrschenden staatstheoretischen und sozialpolitischen Sichtweisen läßt sich in vier Punkten zusammenfassen:

- Die bisherigen Positionen seien zu etatistisch. Hier sind insbesondere die deutschen "Staatsableiter" gemeint (vgl. die im ARGUMENT geführte Staatstheoriediskussion, AS I-III, 1976-1982). Kritisiert wird damit die Vorstellung eines homogenen, wie mit "einem Willen" begabten Staates. Dagegen gestellt wird das Konzept der ideologischen Staatsapparate (Althusser, Poulantzas), die durchaus von unterschiedlichen, zum Teil miteinander in Konflikt stehenden Gruppierungen besetzt bzw. dominiert sein können.

- Die bisherigen Ansätze säßen einem funktionalistischen Mißverständnis auf, da sie immer von der Prämisse der systemerhaltenden Funktionen ausgehen, und diese mit den tatsächlichen Wirkungszusammenhängen gleichsetzen.

- Die bisherigen Positionen seien ökonomistisch. So unbestritten der Primat des Ökonomischen sei, so falsch sei die direkte Ableitung politisch-kultureller-sozialer Prozesse aus dem Ökonomischen. Hier werde sowohl die relative Eigendynamik dieser Felder unterschlagen als auch gerade deren Wirkung auf das Ökonomische bzw. die Tatsache, daß es das Ökonomische als reine Form nicht gibt, sondern immer nur politisch-kulturell überformt.

- Einige Positionen seien darüber hinaus instrumentalistisch, d.h. sie gingen implizit davon aus, daß die jeweils eingesetzten Instrumente als solche quasi "rein" wirkten. Damit gelangen sie zu historisch nicht stimmigen Verkürzungen - z.B. in der Redeweise vom "Recht als Instrument der herrschenden Klasse". (Vgl. die Kontroverse zwischen Hirsch (1974) und Offe (1974/75), in der Hirsch von einer Vergesellschaftung des Staates - also Durchkapitalisierung aller staatlichen Funktionen und Offe von einer Verstaatlichung der Gesellschaft spricht.)

Alle diese Kriterien beziehen sich auf einen materialistischen Politikbegriff, der von Gramsci geprägt wurde: Jede Analyse politischer Handlungen hat von einem hegemonialen Kräfte und Konfliktfeld auszugehen, das u.a. dadurch gekennzeichnet ist, daß die korporativen Interessen der Masse der herrschaftsunterworfenen Gruppen soweit aufgehoben sind, daß die den herrschenden Gruppen auch zustimmen ohne Zwang, zumindest aber ohne kollektiven Widerstand folgen. Aufgabe herrschende Politik ist es deshalb, diesen prekären Konsens aufrecht zu halten, zu stützen und zu erweitern; Aufgabe oppositioneller Politik ist es, folgerichtig diesen Konsens nicht nur ideologisch zu brechen, sondern neue Praxen zumindest im Ansatz zu schaffen, in denen ein Dissens/ein antihegemonialer Konsens lebbar wird. (Wie hegemonialer Konsens bis in die scheinbar banalen Fragen der Alltäglichkeit hergestellt wird, zeigt anschaulich Bourdieu (1982); was die Herstellung eines lebbaren Dissenses angeht, kann unter diesem Aspekt die Pädagogik der Unterdrückten von Paolo Freire veranschaulichen (1972)).

Was ein derartiger Ansatz forschungsstrategisch leisten kann, zeigt Pilgram in seiner Analyse des Strafrechtes in Österreich, in der wenig von Kriminellen, aber viel von den jeweiligen korporativen Interessen der an der Strafrechtsgesetzgebung beteiligten Gruppen die Rede ist (1982).

Steinert (1986) untersucht entsprechend die Veränderungen im Strafrecht unter dem Aspekt der Arbeitsmoral, in der auch die korporativen Interessen der Lohnabhängigen an Bewahrung ihres Eigentums und individueller Verantwortung aufgehen. Entsprechend kritisiert er - wie gezeigt - Offe und Lehnhardt, daß sie die Bedeutung der Sozialpolitik als ideologischen Diskurs für eine bestimmte Lebensweise, für eine hegemoniale Normalität funktionalistisch verkürzen.

Der bisherige Diskussionsstand in der "WIDERSPRÜCHE"-Redaktion

In den Thesen zur Sozialpolitik "Verteidigen, Kritisieren, Überwinden zugleich" wird zumindest versucht, die dargestellten Verkürzungen nicht mitzumachen. Verteidigt werden soll das materielle Substrat des sozialpolitisch Erreichten, kritisiert werden seine Herrschaftsfunktionen. Beides soll überwunden bzw. aufgehoben werden in Bedingungen, die neue Lebensweisen ermöglichen.

Zugleich haben wir damit versucht, eine Position zur alternativen Sozialpolitik zu erarbeiten. "Alternativ" bezieht sich dabei negativ sowohl auf die in den 70er Jahren vorherrschende sozialdemokratische Verstaatlichung und Rationalisierung des Sozialen, als auch auf die Anfang der 80er Jahre von der konservativ-liberalen Regierung forcierte Politik der weiteren Spaltung der Gesellschaft, der Privatisierung sozialer Konflikte des Umbaus des Sozialstaats nach rechts.

Ausgangspunkt für unsere Argumentation einer Alternative zu diesen sozial- und gesellschaftspolitischen Strategien war die Feststellung einer qualitativen Krise des Sozialstaats. Der Versuch unserer Analyse kann ausführlich in den Thesen der WIDERSPRÜCHE-Redaktion "Verteidigen, Kritisieren und Überwinden zugleich! Alternative Sozialpolitik - Gegen Resignation und Wende" nachgelesen werden. Hier kann nur schlagwortartig darauf eingegangen werden:

- Der Sozialstaat als kompensatorischer Mechanismus scheitert zunehmend an Quantität und Qualität der sozialen Probleme. Der Sozialstaat in seiner subsidiären Funktion grenzt zunehmend als "nicht-normal" definierte Bevölkerungsteile aus.

- Die bürokratischen, technokratisch reformierten Institutionen des Sozialstaats stecken in der Krise: Anstalten separieren und verdoppeln Leiden, eine technizistische Medizin und eine bürokratische Sozialverwaltung zerlegen Menschen in Symptome und Fälle.

- Die Bedürfnisstruktur/der Sozialcharakter verändern sich. Es werden Bedürfnisse wichtig, die sich nicht allein über materielle Konsumtion befriedigen lassen. Sicherheit über lebenslange, gleichgültige (männliche) Lohnarbeit wird nicht mehr ohne weiteres als gesellschaftlich normale Zumutung akzeptiert. Der Status des Objekt-Seins gegenüber Experten-Erklärungen und Experten-Lösungen wird nicht mehr fraglos akzeptiert. Die Perspektiven einer alternativen Sozialpolitik wurden seitens der WIDERSPRÜCHE auf drei Ebenen angedeutet:

- Gegen die gesellschaftliche und politische Tendenz zur Armut, Spaltung, Ausgrenzung und Angst wurde eine "soziale Garantie" gefordert. Gemeint war eine defensive, egalitäre Strategie eines garantierten Mindesteinkommens unabhängig von der Lohnarbeit. Defensiv ist unsere Idee der sozialen Garantie insofern die sich in der Notwendigkeit begründet, eine weitere Zunahme des sozialen Abrutschens aus der Lohnarbeit in die Arbeitslosenversicherung, ans Existenzminimum der Sozialhilfe zu verhindern. Defensiv ist unser Konzept des Mindesteinkommens aber auch insofern, als es nicht mit gesellschaftlichen Emanzipationshoffnungen überladen ist etwa derart, durch ein MEK oder Existenzgeld das System der kapitalistischen Arbeit über den Haufen zu werfen. Aber immerhin ist es die konsequente Wegorientierung von der sozialstaatlichen Leitfigur des lebenslänglichen männlichen Lohnarbeiters und eine Infragestellung der kapitalistischen Leistungsideologie, die Lohnarbeit und soziale Sicherheit koppelt.

Eine derartige soziale Garantie könnte den gesellschaftlichen Boden absichern gegen das totalitäre Regime des "Recht des Stärkeren" und könnte ein Stück Freiheit sein, sich entscheiden zu können, auf welche Arbeit, welche sozialen Beziehungen Mann und Frau sich anlassen.

- Gegen die bürokratische sozialstaatliche Versorgung wie gegen die Familialisierung und Privatisierung sozialer Konflikte wurde das Konzept der Produzentensozialpolitik gesetzt. Dieser schillernde, wohl auch mißverständliche Begriff (wer ist Produzent?) war Arbeitstitel für eine Strategie, in der die vielzitierten Betroffenen selbst bestimmen, was das psychisch-soziale Problem ist, die eingreift in die Bereiche der Verursachung selber. Soziale Lebenslagen werden so nicht pädagogisiert oder durch Spezialistenzuständigkeit und Spezialistenbehandlung isoliert, sondern sollen politisiert, veröffentlicht werden. Produzentensozialpolitik ist sicher nicht identisch mit "reiner" Selbsthilfe, nimmt aber wesentliche Elemente dieser "Bewegung" auf und erfordert die Neudefinition der Expertenrolle, der Professionellenrolle.

- Die dritte Ebene einer Alternativen Sozialpolitik muß sich zwangsläufig auf ihre politische und institutionelle Durchsetzung beziehen. Denn alternative Sozialpolitik kann sozialstaatliche Institutionen nicht unberührt, unverändert lassen, will sie ihre Ansprüche nach sozialer Garantie und Definitionsmacht von Betroffenen gesellschaftlich und politisch nicht bloß im Munde führen. Letztlich ginge es also auch hier um einen Umbau des Sozialstaats, der perspektivisch mit dem Schlagwort der "selbstbestimmten Vergesellschaftung im Sozialstaat" zu beschreiben wäre. Konkret gefragt: wie ließen sich z.B. Ansätze einer nicht lohnarbeitsfixierten, nichtdiskriminierenden Arbeitslosenarbeit in Macht- und Entscheidungsstrukturen für die Betroffenen innerhalb sozialstaatlicher Institutionen, staatlicher Bürokratie umwandeln.

Daß solche Perspektiven sich nicht auf einem sozialpolitisch bornierten Weg verwirklichen lassen, ist uns klar. Obwohl sich alle Überlegungen noch relativ eng an der existierenden Sozialpolitik orientieren, können sie gesellschaftlich nur wirksam werden, wenn sie in die Überwindung und Veränderung des kapitalistischen Arbeitsprozesses einbezogen sind. Radikale Arbeitszeitverkürzung, ökosozialer Arbeitsbeschaffung, ökologische Zukunftsinvestitionen und Umstellung gesellschaftspolitischer nicht sinnvoller Produktionen wären die Grundsteine eines solchen Umbaus.

Daß die gegenwärtige gesellschaftliche und politische Entwicklung genau in die andere Richtung weiterer ökonomischer Modernisierung und damit weiterer Opfer geht, läßt solche Perspektiven als Zukunftsmusik erscheinen. Politisch sinnvoll und diskussionswürdig erscheint sie uns gerade deswegen.

Daß damit nicht die Frage nach der Transformation bestehender Strukturen und hegemonialer Lebensweisen gestellt ist, konnten wir nur anreißen, aber nicht weiter vertiefen.

Versuch einer "Neubestimmung" einer sozialpolitischen Alternative

Diese Überlegungen sind insgesamt eher tastend und vorläufig geblieben. Ihnen haftet immer noch ein "institutioneller Blick" an. Auch wenn es zunächst leicht zu Überzeichnungen kommt, scheint es uns sinnvoll zu sein, den Ansatzpunkt für einen neuen Zugang zur Sozialpolitik bei den Subjekten bzw. Akteuren in der Sozialpolitik zu suchen. Politisch würde das bedeuten, die soziale Handlungsfähigkeit und Lebensrealitäten von Menschen als analytischen und strategischen Ausgangspunkt zu nehmen.

Also: "Daß alle Menschen, Essen, Trinken, Wohnung und einiges mehr", also Bildung, soziale Kontakte, Liebe, Freundschaft usw. haben müssen, reicht nicht aus, sondern gefragt werden muß: Wie wird das organisiert und produziert und wer verfügt darüber? Diese Frage wäre als materielle Definitionsmacht zu stellen. Antworten auf diese Fragen wären in einer Politik des Sozialen zu formulieren - aus der Perspektive der Subalternen, die ein Interesse haben, aus ihrer Subalternität herauszukommen. Aus dieser Perspektive ist Sozialpolitik nur ein Teil, allerdings ein gewichtiger, der die Lebensverhältnisse materiell und ideologisch bestimmt. Es wäre zu untersuchen, wie in einer Politik die sozialen Ansätze für die materielle Lebbarkeit anderer Lebensweisen, andere politisch-kulturelle Entwürfe enthalten sind und wie diese auf die vorgegebene Sozialpolitik zu beziehen sind. Diese Fragestellung macht möglicherweise das, was "sozial" ist, schwerer abgrenzbar von dem was "politisch-kulturell" ist.

Zunächst vielleicht ein nützlicher Gedanke: die Differenz und der Zusammenhang von Sozialpolitik und Politik des Sozialen könnte umreißend so bestimmt werden, wie W.F. Haug es für das Verhältnis von Kulturpolitik und Politik des Kulturellen vorschlägt (1988).

Die folgenden Ausführungen sollen diesen Gedanken in drei Bereiche konkretisieren: Politik des Sozialen als

  • Gestaltung der Lebensverhältnisse durch die Subjekte selbst
  • Gestaltung von Geschlechterverhältnissen
  • Gestaltung von Konflikten innerhalb und zwischen Klassen
  • Politik des Sozialen als Gestaltung der Lebensverhältnisse durch die Subjekte selbst.

Wenn wir sowohl die wohlfahrtsstaatliche Logik der "Normalisierung" als auch die konservative Regulierung durch Spaltung und eine Politik der Angst kritisieren, müssen wir von einer wohlvertrauten institutionszentrierten Sicht auf die Subjekte als Objekte - oder durchaus auch wohlmeinend in einfacher Negation - als bloße Opfer Abschied nehmen. Diese Perspektive eines Belastungs- und Verelendungsdiskurses unterschlägt die realen Potenzen und Produktivitäten der Subjekte in der Verarbeitung ihrer sozialen Lagen. Eine alternative sozialpolitische Perspektive, die die Formen "selbstbestimmter Vergesellschaftung" gesellschaftlich absichern und verallgemeinern will, muß die empirisch vorfindbaren, historischen Praxen der Menschen, ihrer sozialen Lebenslagen, ihre "Produktion des Sozialen" ernstnehmen. Die Subjekte konstituieren ihr "Soziales" selber, aber nicht im luftleeren Raum, sondern in Auseinandersetzung mit sozialstaatlichen Definitionen und Regulationsweisen. Die Praxen der Subjekte gehen aber in den Definitionen, Defizienzzuschreibungen oder auch romantischen Verelendungsprojektionen der - positiv oder negativ gefaßten - staatlich-institutionellen Perspektive nicht auf. Die alltägliche Praxis und die sozialstaatlichen Regulierungen schneiden sich vielmehr an bestimmten Kreuzungspunkten, an denen die Weichen für engere oder weitere Regulationskanäle gestellt werden, die immer nur für begrenzte Lebensphasen Geltung haben und auch nur begrenzte "Normalitäten" und Identitäten konstituieren. Aber es gibt auch subkulturelle, eigensinnige, produktive Verarbeitungsformen.

Spätestens hier stellt sich die Frage nach unseren subjekttheoretischen Voraussetzungen. Vergröbert lassen sich die gängigen Subjekttheorien als zwei "mainstreams" charakterisieren: Für den Reduktionismus (inclusive der linken bis systemtheoretischen Funktionalismen) sind die Subjekte "Reaktionsdeppen": Sie sind Objeke der herrschaftlichen Interventionen und sie haben sich in den Regulationskanälen zu bewegen, schwimmen meist mit dem Strom. Widersprüche der "moralischen Ökonomie" und/ oder Verelendungen erzeugen (nach quasi pneumatischen Gesetzen) Widerstand und dieser stellt bald die Organisations- und Machtfrage, die Frage nach dem Bruch mit der alten Regulation. Das Schema ist das des Diesseits/Jenseits und entsprechend schwer tun sich diese subjekttheoretischen Konzepte mit Handlungsperspektiven und Alternativen unterhalb der Vision des großen Bruchs, ja sie haben eine Neigung zu pädagogisierender Normalisierung und deutscher Ordentlichkeit.

Der Ethno-Existenzialismus, der zweite mainstream, sieht in den Subjekten das "ganz Andere", zwar Objekt der Macht, aber doch irgendwie immun ihr gegenüber. Die Subjekte behaupten ihre Eigenwelt, ihre Lebenskräfte gegen die Logiken der Macht und widerstehen den Domestizierungen. Das Schema ist dualistisch und die diversen Spielarten beschwören den Eigensinn der Subjekte mehr (oft mit lebensphilosophischen bis biologistischen Anklängen), als daß sie empirisch werden.

In den Thesen der WIDERSPRÜCHE haben wir einige Andeutungen über eine dritte, mögliche Orientierung in der Subjekttheorie gemacht: über den "keynesianischen Sozialcharakter". Wir gehen von einer innerpsychischen Balance-Ökonomie (jenseits ontologisierender Identitäts-Konzepte) aus, von einem Balancieren (und innerpsychischem Tausch) zwischen konstituierenden Zwängen und disparaten Anforderungen ("Produktions- gegen Konsumtionsmoral") und Kompensationen aus "Warenglück" und institutionell gestiftetem Sinn, sozialstaatlicher Sicherheit.

Die theoretischen Anleihen bei Negt/Kluges "Eigensinn", bei Brückner, Ottomeyer und dem Nazißmus-Theorem sind offensichtlich, ebenso die Vorläufigkeit und theoretische Inkonsistenz des KSC-Konzept.

Uns interessieren aber zum einen die "Balance-Ökonomien" der sozialstaatlichen regulierten Subjekte und deren Bedingungen, Grenzen, Übergänge, Erosionen. Neuere empirische Untersuchungen - der Biographie-, der alltagsorientieren Netzwerk-, der (historischen) Lebenslagenforschung - könnten die Schnittstellen und Kreuzungspunkte deutlich werden lassen, könnten erhellen, wie die Subjekte als "Produzenten des Sozialen" die Logiken und Zumutungen der sozialpolitischen Regulierung verarbeiten, wie sie eine - wie auch immer prekäre und widersprüchliche - Identität produzieren, die ihnen ein Überleben ermöglicht.

Politik des Sozialen als Gestaltung von Geschlechterverhältnissen

Trotz formal gleicher Rechte von Männern und Frauen gegenüber dem Sozialstaat geht in dessen Politik und Regulierung schon immer eine geschlechtsspezifisch unterschiedliche Zuweisung sozialer Sicherung und Teilhabe ein: da alle sozialstaatlichen Regulierungen im Kern Bezug auf den Arbeitsmarkt nehmen, haben Frauen als (kindererziehende) Haus-Frauen vom Ehemann abgeleitete, eingeschränkte Teilhaberrechte; oder aber - sofern sie erwerbstätig sind - verlängert sich ihre Benachteiligung am Arbeitsmarkt auch in die soziale Sicherung hinein.

Mit dieser quasi sozialpolitischen Ausgrenzung von Frauen als Subjekten korrespondiert die staatliche Zuweisung in die Sphäre der Familie mittels familienbezogener Sozialleistungen; eine seiner Folgen ist der hohe Frauenanteil in der Armutsregulierung ("Feminisierung der Armut").

Die Prozesse von Familienzuweisung und Armutsregulierung sind durch mannigfaltige Definitionen und Zuschreibungen von "normaler Weiblichkeit" flankiert.

Sozialstaatliche Regulierungsweisen und Definitionen zur Konstituierung von Frauen-Normalität lassen sich entlang des "weiblichen Lebenszusammenhangs" (- weiblicher Sozialcharakter, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung) als Norm und in den jeweiligen Abweichungen davon nachzeichnen:

  • jung, alleinerziehend, ohne Arbeit...
  • ohne (Ehe-)Mann und doch Mutter...
  • von (Ehe-)Mann verlassen...
  • den (Ehe-)Mann (wegen Gewalt) verlassen...
  • alt, allein...

(Frauen in solchen Lebenssituationen beziehen besonders häufig Sozialhilfe.)

Fragen wir, wie Frauen einer derartige Logik und die damit verbundenen Zumutungen verarbeiten und eine eigenständige Überlebensidentität produzieren, so scheint es zunächst, daß sich zumindest arme Frauen mit der Inanspruchnahme ihnen zustehender Rechte generell schwertun. Jedoch werden sie hartnäckig, wenn es sich um die Rechte "Schwächerer" (nämlich ihrer Kinder) handelt. Zunehmend erscheinen bestimmte Frauen mit Kindern wahre Expertinnen in der Auskundschaftung der Nischen sozialer Teilhabe zu werden("Wohlfahrtsmütter").

Auch hinsichtlich der staatlich verordneten Familienzuweisung zeigen sich Brüche: So wird von Ansätzen neuer Identitätsbildung innerhalb der Gruppe alleinerziehender Mütter und mißhandelter Frauen berichtet; so steigen die Scheidungsquoten (überwiegend von Frauen forciert) weiterhin bei höchst geringer Wiederverheiratungsquote; so nimmt der Anteil der Frauen an der Erwerbstätigkeit - unter welchen Bedingungen auch immer - weiterhin zu.

Eine differenzierte Betrachtung weiblicher Gestaltung der "Politik des Sozialen" würde vielleicht Hinweise darauf ermöglichen, ob aus "Trümmerfrauenstrategien" und individuellen "Listen und Verweigerungen der Ohnmächtigen" selbstbewußte Forderungen nach materieller Sicherung und sozialer Teilhabe entstehen können, die sich nicht nur auf die Adaption der eigenen Lebensverhältnisse an männliche Normalitätsstandards reduzieren.

Politik des Sozialen als Gestaltung von Konflikten innerhalb und zwischen Klassen

Hatten wir bisher versucht, Subjekte einer Politik des Sozialen aus der Perspektive "subaltern gehaltender Gruppen" zu benennen, so wollen wir jetzt den Blick auf jene Gruppen wenden, die als "herrschender Block an der Macht" in der Sozialpolitik ihre korporativen Interessen formulieren und - mit den notwendigen Kompromissen - durchsetzen.

Anders formuliert: Adressaten der Sozialpolitik sind nicht (nur) die von deren Maßnahmen Betroffenen, sondern (auch) die Gruppierungen, die ein spezifisches Interesse an der Aufrechterhaltung hegemonialen "Way of Life" haben - also Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Träger der Freien Wohlfahrtspflege, Pharmakonzerne, Berufsverbände.

Dieses "Kartell der Sozialpolitik" sorgt für eine die jeweiligen korporativen Interessen befriedigende "Übersetzungs-Arbeit", ohne die strukturelle Klassenkonflikte gesellschaftlich nicht "stillgestellt" bzw. modifiziert werden können.

Auf diese Weise gelingt es, daß die Mehrheit der sozialen Gruppen und Klassenfraktionen sich soweit mit den sozialpolitischen Arrangements von "Normalität" identifizieren kann, daß daraus keine grundlegenden Legitimitätsprobleme erwachsen, korporative Interessen einbezogen und nicht als nichtlegitime Sonderinteressen ausgegrenzt werden können.

Angeregt durch die schon oben erwähnten Arbeiten von Steinert und Pilgram sollten wir also fragen, welche hegemoniale Arbeits- und Alltagsmoral durch die diversen sozialpolitischen Regulationen hergestellt bzw. verändert werden. Aus dieser Perspektive liest sich z.B. die Blümsche Gesundheitsreform wie ein Fortsetzungsteil von Foucaults "Überwachen und Strafen": durch radikale Individualisierung von Krankheit und Gesundheit wird der letzte Rest von gesellschaftlichen Wirkungszusammenhängen wegdefiniert, der in dem ursprünglichen Solidargedanken noch angelegt war. Der treffliche Rummel, der von allen Mitgliedern des sozialpolitischen Kartells veranstaltet wird, zeigt den gelingenden Versuch einer Neu-Kalibrierung der Kräfteverhältnisse, der noch deutlicher zu Lasten der "Versicherten" geht, als das bislang möglich erschien.

Noch plastischer läßt sich die Verbindung von Mikro- und Makro-Physik der Macht am sog. Drogenproblem verdeutlichen. Anders als in den meisten Feldern der Sozialpolitik, in denen zumindest in Ansätzen der "Gebrauchswert" einer Maßnahme für die Betroffenen eine Rolle spielt, wird in diesem sozial- und kriminalpolitischen Feld auf fast jede Rücksicht auf die Betroffenen verzichtet.

Ein "Kartell von Professionellen" hält unbeirrt aller vielfältigen Lebensrealität der Drogennutzer am "Strafe und Therapie-Modell" fest. Auf diese Weise wird zugleich eine "moralische Panik" und ein "soziales Problem" erzeugt, daß sich hervorragend als Ablenkung von Wichtigerem - z.B. Arbeitslosigkeit - eignet.

Eine Politik des Sozialen hätte in diesem Kontext nach den sozialen Gruppen zu fragen, die ein Interesse haben und zumindest die potentielle Macht, einen anderen "Way of Life" gesellschaftlich zu propagandieren und in vielfältigen Praxen ansatzweise zu realisieren. Es geht dabei um die materielle Definitionsmacht, z.B. aus der "anspruchsberechtigten Sozialhilfeempfängerin" eine "gesellschaftlich aktive Produzentin" zu machen.

Literatur

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