Medizinisierung als professionelle Strategie
Psychotherapie hat ihre Überschaubarkeit verloren. Bis in die 60er Jahre hinein besaß die Psychoanalyse ein vielfältig abgesichertes und innerhalb der Zunft auch noch bis heute reklamiertes Monopol auf die psychotherapeutische Behandlung "seelischer Störungen". Darüber hinaus galt der ärztliche Psychoanalytiker bis zur Kassenzulassung des psychoanalytisch ausgebildeten Diplom-Psycholgen 1970 als alleiniger Behandlungsträger und damit das über die Couch definierte Behandlungszimmer als einzig legitimer psychotherapeutischer Ort.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Struktur des Psycho-Sektors jedoch erheblich gewandelt. Im noch immer "boomenden" Therapiemarkt bieten Therapieberufene unterschiedlichster Provenienz und Legitimation in diversen therapeutischen Settings eine sich immer weiter differenzierende Vielfalt therapeutischer, semi-therapeutischer und quasi-therapeutischer Techniken an. Das nachfragende Publikum läßt sich soziologisch zwar weitgehend auf jüngere Angehörige zumeist akademisch gebildeter Mittelschichten fixieren, die psychiatrieübliche Klassifizierung als "behandlungsbedürtige Kranke" verbietet sich bei dieser Klientel jedoch nicht nur nach derem eigenen Selbstverständnis, sondern auch nach der Art der sie zur "Therapie" motivierenden Problematiken. Gestalttherapie, Bioenergetik, Psychodrama, Rebirthing, Primärtherapie, Reinkarnation, Initiatische Therapie, Tantra, T'ai Chi chuan u.a. verstehen sich vielmehr jenseits des Ruchs der "Krankenbehandlung" als "Therapien für Normale", denen es trotz der oft körperzentrierten Interventionsformen mehr auf Persönlichkeitswachstum, Enlightment und spirituelle Verwirklichung ankommt als auf die Kurierung psychiatrisch definierter Störungsbilder. Der "Gruppenleiter" verzichtet bewußt auf die Aneignung und Zurschaustellung von Insignien ärztlicher Professionalität und bemüht sich um die Bereitstellung therapeutischer Räume, die auch den Erlebnisinteressen seiner Klientel Rechnung tragen, d.h., Ähnlichkeiten mit den auf fachlicher Strenge bedachten ärztlichen Behandlungsorten gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Neben, aber in teilweiser Überschneidung zu dieser eher im Lichte der einschlägigen Öffentlichkeit stehenden oft bizarren Sparte des Psycho-Sektors hat sich eine allein schon zahlenmäßig erheblich bedeutendere Gruppe von Therapieanbietern etablieren können, die sich sorgsam um fachlich-wissenschaftliche Reputation, berufsständische Interessenpolitik und akademische Statusprivilegien bemüht, und das bislang recht erfolgreich. Es handelt sich um psychotherapeutisch spezialisierte Diplom-Psychologen, deren Selbstdefinition als "Klinische Psychologen" weniger auf ihre Ausbildung über oder auch nur überwiegend für klinische Institutionen verweist, als auf die Zugehörigkeit zu jenem bedeutendsten Zweig der angewandten akademischen Psychologie, der traditionell als "Klinische Psychologie" firmiert. Diese gab erst in den 60er Jahren ihre angestammte Selbstbeschränkung auf diagnostische Urteilsbildung auf und bot aus den USA importierten, explizit psychologischen Therapieverfahren (Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie), die ihrer "amerikanisierten" (Gummersbach 1986) Methodologie am ehesten entsprachen, eine Entwicklungsförderung. Damit war nicht nur das Behandlungsmonopol der Psychoanalyse, der eine universitäre Verankerung als klinische Disziplin nicht gelang, sondern auch das des ärztlichen Psychotherapeuten endgültig gebrochen.
Das der Klinischen Psychologie immanente Modell der Therapeutisierung (Zygowski 1987) trat in eine disziplinär motivierte und berufspolitisch dynamisierte Auseinandersetzung mit dem dominanten "medizinischen Modell" der Erklärung und Behandlung psychischer Störungen ein, das in Analogie zur Körpermedizin auf der Letztbegründung psychischer Störungen als disparaten Krankheitseinheiten (Psychosen, Neurosen, Psychopathien) durch organisch-somatische Prozesse bestand, und auch im Psychischen eine - schon von Freud zurückgewiesene - Diskontinuität zwischen "Normalität" und "Krankheit" postulierte und die zwingend gebotene therapeutische Behandlung in die Hände medizinisch qualifizierter Interventionsträger legte, die im ambulanten Sektor in der Privatpraxis, im stationären Bereich in der psychiatrischen Klinik agieren (vgl. Ullmann & Krasner 1969, Keupp 1972, Kardorff 1978).
Die Auseinandersetzung mit dem "medizinischen Störungsmodell" vollzog sich interdisziplinär über die Proklamation eines - nicht weiter ausgearbeiteten - "sozialwissenschaftlichen" Alternativmodells, das gesellschaftliche und sozialpsychologische Prozesse der "Produktion abweichenden Verhaltens" in den Mittelpunkt stellte und als - sicher nicht intendierte - praktische Konsequenz durch die Zurückweisung der Diskontinuitätsannahme der späteren "Entgrenzung" (Hellerich 1985) der Therapeuten im Psychoboom indirekt Vorschub leistete.
Es ist angesichts der damaligen Modellpolarisierung nicht verwunderlich, daß sich noch heute in den programmatischen Selbstverpflichtungen führender klinisch-psychologischer Fachverbände eine Berufung auf "ein sozialwissenschaftliches Krankheitsmodell, das soziale Bedingungen psychischer Störungen betont" (so die Formulierung in der Satzung der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie) finden läßt. Diese konzeptionelle Festlegung sollte der Klinischen Psychologie ermöglichen, gegen das medizinische Paradigma "eine eigenständige Identität und Kompetenz aufzubauen" (Wittling 1980, S. 343). So bot ein führender Exponent der klinischen Hochschulpsychologie die folgende, heute kaum noch denkbare Definition an: "Klinische Psychologie ist jener Zweig der Psychologie, der die Diagnostik, Modifikation und Prävention von sozial bedingten und sozial relevanten Störungen des Erlebens und Verhaltens in Lehre, Forschung und Praxis zum Gegenstand hat" (Pongratz 1977, S. 44).
Nichtsdestoweniger besann sich die Klinische Psychologie recht schnell auf ihr psychologisches "proprium" und ersetzte vorschnelle Sozialkritik durch eine ihr gemäße Alternative zum medizinisch-biologischen Ansatz. Erstes und kardinales Charakteristikum ihres psychotherapeutischen Störungsmodells war die konsequente Psychologisierung der psychischen Störung wie der zu ihrer Beseitigung notwendigen methodischen Intervention. Die schon im medizinischen Modell vollzogene Herauslösung des Subjekts aus seinen gesellschaftlichen Bezügen fand nun seinen Ausdruck in der Parzellierung des monadologisch gefaßten Individuums in seine Individualitätsdimensionen (Gedanken, Gefühle, Verhalten, Körperlichkeit, Spiritualität) und deren Analyse und Modifikation nach Maßgabe psychologischen Grundlagenwissens (z.B. psychologischer Lerngesetze).
Hand in Hand mit der Psychologisierung ging die Technisierung psychotherapeutischer Praxis im Sinne einer rein zweckrationalen Methodenwahl, die sich gegenwärtig anstelle anfänglicher technologischer Ableitungsanstrengungen um die "eklektisch-kreative" Kombination psychotherapeutischer Techniken unterschiedlichster Herkunft bemüht.
Die Klientelisierung im psychologisch-therapeutischen Vorgehen ersetzt den in eine passive Krankenrolle gedrängten "Patienten" des medizinischen Modells durch den ratsuchenden "Klienten", auf dessen Motivation, Mitarbeit und Mitverantwortung in einem therapeutischen "Arbeitsbündnis" Wert gelegt wird, wobei allerdings die "Demokratisierung" des "kooperativen Prozesses" an der Machtförmigkeit der therapeutischen Beziehung ihre unausgesprochene Grenze findet (vgl. Kardorff 1986, Zygowski 1987).
Die Klinifizierung als viertes Charakteristikum stellt das zwiespältige und für die weitere Entwicklung des psychotherapeutischen Modells bedeutsame Merkmal dar. So hatte gerade Pongratz durchaus erkannt, daß ein Handlungsmodell, dem es nicht auf Krankenheilung, sondern Renormalisierung abweichenden Verhaltens, Beseitigung von Verhaltensstörungen oder Persönlichkeitsänderung ankommt, einer zum medizinischen Modell konträr liegenden Logik gehorcht. Entsprechend empfand er das die gesamte Anwendungsdisziplin kennzeichnende Adjektiv "klinisch" als durchaus "problematisch" (Pongratz 1973, S. 20). Diese fachlicher Rationalität folgende Position bezog im Verlauf der Entwicklung der Klinischen Psychologie vor allem Unterstützung von seiten der Verhaltenstherapie, die sich nicht nur als signifikanteste Repräsentantin des psychologisch-therapeutischen Modells erwies, deren konsequenteste Vertreter auch vorschlugen, den medizinischen Therapiebegriff durch den Begriff der "Verhaltensmodifikation" zu ersetzen.
Es ist erstaunlich zu registrieren, daß die frühesten Definitionen "Klinischer Psychologie" dem medizinischen Bedeutungsgehalt des "Klinischen" unzweideutig Rechnung trugen. So bestimmte Hellpach (1946, S. 1) Klinische Psychologie als einen "Zweig der praktischen Psychologie, der sich mit den seelischen Beziehungen des Patienten zum Arzt, der Einstellung zur Krankheit und den psychologischen Aufgaben des Arztes (Hervorhebung H.Z.) gegenüber dem Patienten befaßt." Als Gegenstände der Psychologie galten ihm "alle Arten seelischen Verhaltens bei körperlichen Erkrankungen. Nichts zu tun hat also Klinische Psychologie mit primär seelischen Erkrankungen oder Normalabweichungen, mit Psychosen, Psychopathien und Psychoneurosen" (ebd.; zitiert nach Reinert & Wittling 1980, S. 26/27).
Die späteren Umdefinitionen und neuen Grenzziehungen zwischen medizinischen und psychologischen Interventionsformen, -gegenständen und -feldern entsprangen auf psychologischer Seite der Hoffnung, über die Durchschlagskraft der neuen, psychologischen Therapiemethoden und die Überlegenheit des alternativen Störungsmodells in den ärztlich okkupierten Therapie-Sektor einzudringen und eine berufspolitische Eigenständigkeit zu begründen. So konnte selbst die von Pongratz vorgetragene "Annahme einer sozialen Bedingtheit psychischer Störungen aus berufspolitischen und therapeutischen Gründen für die Klinische Psychologie von Nutzen" (Reinert & Wittling 1980, S. 29) sein.
Die Professionalisierungsstrategie der Abgrenzung, des Konkurrenzkampfes und der polemischen Attacken ließ sich jedoch nicht aufrechterhalten. Zum einen erwies es sich angesichts der "Faszination der Klinik" (Hörmann & Nestmann 1984) als verlockender, an das Renommee, den sozialen Status und die finanzielle Begünstigung der etablierten "Heilberufe" anzuknüpfen. Zum anderen konnten allenfalls über die kurze Zeit staatlicher Innovationen in den 70er Jahren Hoffnungen auf eine zum ärztlichen Modell der Kassenfinanzierung alternative Professionalisierung aufkeimen. Der aktuellen Professionalisierungsstrategie, in der ständischen Auseinandersetzung mit der dominierenden ärztlichen Berufsgruppe nicht auf konkurrierende psychologische oder "psychosoziale" Paradigmata oder Versorgungsmodelle zu setzen, sondern sich als - wenn auch ehrgeiziger - Juniorpartner anzubieten, kann angesichts ärztlicher Hegemonie auf den Psycho-Markt, geringer staatlicher Neigungen zur notwendig konflikthaften Umstrukturierung der "psychosozialen Versorgung" und nicht zuletzt aufgrund schmerzhafter Erfahrungen in der bundesdeutschen Psychiatriereform, in der Forderungen nach Multiprofessionalität und gleichberechtigter Kooperation der Berufsgruppen zu keinem Zeitpunkt nachgegeben wurde, Realismus nicht abgesprochen werden. "Das nichtärztliche Personal bleibt immer Anhängsel zum Arzt, wird als additives Element hinzugezogen, um vom Arzt festgestellte Probleme zu bearbeiten. Der Arzt diagnostiziert, definiert, informiert, selektiert, veranlaßt aufgrund seiner Entscheidungskompetenz. Die Sicherung der Hierarchie der professionellen Entstörer und des Monopols der letztinstanzlichen Entscheidung der Ärzte steht gegen die in den Kooperations-Modellen inaugurierte mögliche Ausdifferenzierung von Rollen und Funktionen und von Kompetenzerweiterungen des nichtärztlichen Personals. In der Abgrenzung vom sogenannten sozialen Personal triumphiert die Logik des medizinischen Modells" (Wambach & Hellerich 1980, S. 222).
Auch die interessierte Konstruktion "ganzheitlicher" und "biopsychosozialer Störungsmodelle" konnte deren Funktionalisierung zur Modernisierung des medizinischen Störungsmodells nicht verhindern (vgl. Zygowski 1989). Gerade für reformpsychiatrische Modelle sieht Hellerich (1985, S. 33) es als charakeristisch an, "die medizinische Intervention durch eine bunte Vielfalt unterschiedlicher therapeutischer und beratender Angebote zu ergänzen und zu erweitern, in der die Pharmakotherapie aber immer noch die Rahmenbedingungen für die anderen Therapien setzt." Heinrich (1987, S. 38) kann so befriedigt resümieren: "Das biologisch-psychiatrische Paradigma ist intakt..."
In einer professionalistisch begründeten Kehrtwendung erweist sich in den berufspolitischen Bestrebungen der Klinischen Psychologie das "Klinische" nicht mehr als "problematisch", sondern "fungiert geradezu als Kampfbegriff, mittels dessen man Mediziner zu verdrängen trachtet mit dem Schlachtruf: Psychologen sind die besseren Kliniker!" (Hörmann & Nestmann 1985, S. 253). So entwickelt sich die praktische Professionalisierung "in Richtung auf Individualisierung, Selektion, ätiologisches Denken, psychopathologische Betrachtungsweise, kurz sie folgt jenem von sozialwissenschaftlicher Seite aus ansonsten so verpönten medizinischen Modell" (ebd., S. 253/254). In Ausweitung der Klinifizierung zur berufsstrategisch motivierten Medizinisierung klinisch-psychologischer Theorie und Praxis wird die Anerkennung als "Heilberuf" betrieben, die Zulassung zur erweiterten Abrechnung mit den Krankenkassen gefordert, vor allem in der Gutachtenerstellung und der Kassenabrechnung, die Übernahme psychopathologischer Krankheitsdiagnosen betrieben und die Bereitschaft demonstriert, als Adressaten klinisch-psycholgischer "Behandlungen" wieder den "Patienten" zu setzen. Vor allem in der vornehmlich von Klinischen Psychologen forcierten Ausdehnung des störungstheoretisch problematischen Suchtbegriffs auf neue Klientele (Eßsüchtige, Spielsüchtige, Arbeitssüchtige, Kaufsüchtige u.a., vgl. Lempp 1987) beweist die Klinische Psychologie ihren Willen, sich an der "Verkrankung" (Hellerich 1985) und Entpolitisierung abweichender Verhaltensweisen zu beteiligen und neue Zuständigkeitsfelder zu erschließen. "Gesundheit" entwickelt sich zum Leitbegriff für die führende psychologische Anwendungsdisziplin, der schon 1980 ersichtlich war, "daß bei Fortsetzung der derzeitigen Tendenz der medizinisch-somatische Bereich spätestens zu Beginn des nächsten Jahrzehnts mit der gleichen Selbstverständlichkeit in die Klinische Psychologie integriert sein wird, wie dies heute für den Bereich der seelischen Störungen gilt" (Reinert & Wittling 1980, S. 49). Schon zu diesem Zeitpunkt befürwortete Wittling (1980, S. 341) eine "Klinische Psychologie auf dem Weg zur Gesundheitswissenschaft", wiewohl er zugestand, "daß das psychosoziale Störungsmodell. . . maßgeblich dazu beigetragen hat, daß die Klinische Psychologie in den vergangenen Jahrzehnten eine eigene, von der Medizin unabhängige Identität aufbauen konnte und beträchtliche Fortschritte hinsichtlich ihres Ziels erreichte, die Behandlung psychischer Störungen als ihre ureigene Domäne auszuweisen" (ebd., S. 343). Am Ende seiner programmatischen Prophezeiungen steht der terminologische Schritt: "Es ist nicht undenkbar, daß eines Tages die umfassende Bezeichnung 'Gesundheitspsychologie' der traditionellen, allzu sehr mit 'Krankheit' verhafteten Bezeichnung 'Klinische Psychologie' den Platz streitig machen wird" (ebd., S. 351).
Nur konsequent ist so die Einbeziehung auch somatischer Prozesse in das klinischpsychologische Tätigkeitsspektrum. "Als eine Folge der Vernachlässigung somatischer Erkrankungen deutet sich eine zunehmende Einengung des Zuständigkeits- und Kompetenzbereichs Klinischer Psychologen an, die immer mehr auf den Bereich der seelischen Gesundheit fixiert werden und damit einen Teil ihres historischen Aufgabengebiets, den Komplex der körperlichen Gesundheit und Krankheit, an benachbarte Disziplinen oder neu entstehende bzw. sich abspaltende Richtungen (Psychosomatische Medizin, Medizinische Psychologie, Verhaltensmedizin, Klinische Neuropsychologie) zu verlieren drohen" (Reinert & Wittling 1980. S. 38).
Doch selbst bei geglückter Medizinisierung der Anwendungsdisziplin sind die etablierten berufsständischen Konstellationen in Rechnung zu stellen; d.h., es stellt sich die Frage, "wie die Zusammenarbeit zwischen Arzt und nicht medizinisch ausgebildeten Psychotherapeuten gestaltet sein muß, wenn der Psychologe die psychische Betreuung eines somatisch Kranken übernimmt... Wir vertreten die Ansicht, daß psychotherapeutische Spezialisten (gleich ob ärztlicher oder nicht ärztlicher Psychotherapeut) erst dann beim Patienten zum Einsatz kommen sollten, wenn die mit der Versorgung ohnehin (Hervorhebung H.Z.) betrauten Ärzte und Schwestern Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeilen erreicht haben" (Koch 1982, S. 192).
Es ist nur verständlich, daß die berufsopportunistische Medizinisierungsstrategie bei einzelnen Fachvertretern der akademischen Psychologie, die nicht nur eine quantitative Dominierung der Gesamtwissenschaft durch eine expandierende Klinische Psychologie, sondern zugleich eine "Verheilkundlichung" der Psychologie (vgl. Hörmann & Nestmann 1985, S. 275/276) befürchteten, schon früh auf Bedenken und Ablehnung stieß.
Als der verbandliche Vorreiter einer berufsständischen Profilierung via Medizinisierung ist der Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) anzusehen, der seinen Mitgliedern nicht nur den Titel eines "Fachpsychologen für Klinische Psychologie" verleiht, sondern für seine niedergelassenen Mitglieder in der Lobby-Funktion gegenüber den Krankenkassen auch ohne die Verabschiedung eines Psychotherapeuten-Gesetzes durch den Bundestag durchaus praktische Erfolge verbuchen und damit auch seine Mitgliederzahl erheblich steigern konnte. Den Publikationen des BDP, insbesondere dem Periodikum "Report Psychologie" ist gegenwärtig die berufsstrategische Medizinisierungstendenz am deutlichsten zu entnehmen. So skizziert z.B. das Praxishandbuch des BDP (Groß u.a. 1987) nicht nur in eigenen Kapiteln die Stellung des Diplom-Psychologen auf dem "Gesundheitsmarkt" oder die Beziehung des Psychologen zu seinen "Patienten", sondern kritisiert der Bundesgeschäftsführer des BDP, daß sich durch Wegfall der Kostenerstattung für psychotherapeutische Leistungen durch Diplom-Psychologen im Gesundheitsreformgesetz "die Regierung über die berechtigten Ansprüche der psychisch Kranken (!) auf eine angemessene Heilbehandlung (!) hinwegsetzt" (Pulverich 1988, S. 3) und eignet sich die traditionelle, entmündigende Sicht des "psychisch Kranken" an: "Die Ignoranz des Ministeriums baut auf die krankheitsbedingte Widerspruchslosigkeit der psychisch Kranken, ihre Interessen selbst zu artikulieren..." (ebd., S. 2/3). Seine Befürchtung, daß die psychisch Kranken durch die Verweigerung einer Finanzierung psychotherapeutischer Leistungen "in die Medikamentenabhängigkeit" (ebd., S. 3) gedrängt werden, wird schon in der nächsten Ausgabe des Verbandsblattes konterkariert durch den bisherigen Höhepunkt klinisch-psychologischer Medizinisierungsstrategien, der Befürwortung einer Psychopharmaka-Gabe durch Klinische Psychologen (Fox 1988). Die Überschrift des Schwerpunktbeitrages "Sollten auch Psychologen Medikamente verschreiben dürfen?" ist nur rhetorisch zu verstehen: "Psychologen sollen sich aus mehreren Gründen um das Recht bemühen, Medikamente verschreiben zu dürfen: 1) Der Einsatz von Medikamenten stellt eine logische Erweiterung der psychologischen Tätigkeit dar. 2) Die gegenwärtige Praxis und Regelungen, die die Praxis bestimmen, gründen auf der falschen Vorstellung einer Trennung von Geist und Körper. Und 3) das Verschreibungsrecht für eine bestimmte Teilgruppe von Psychologen liegt im öffentlichen Interesse" (ebd., S. 10).
Eine abschließende Bemerkung: Die kritische Nachzeichnung klinisch-psychologischer Professionalisierungsstrategien soll weder die erheblich erfolgreichere ärztliche Domänepolitik stillschweigend billigen noch in dem Verweis der mit psychischen Störungen befaßten Berufsgruppen auf ihre genuine Problemperspektive münden. Eine Zusammenführung unterschiedlicher Einflußfaktoren ist zur Erklärung psychischer Störungen durchaus notwendig, allerdings auf einer Basis, die die Integration nicht dem Gegenstand äußerlichen Interessen unterwirft, die auch die Möglichkeiten des nichtprofessionellen Umgangs mit psychischen Störungen zuläßt und bereit ist, die mit der Einbeziehung der gesellschaftlichen Dimension psychischer Störungen notwendige Entindividualisierung und Enttherapeutisierung psychosozialer Praxis zu betreiben, zugunsten eines Störungsverständnisses, das die widersprüchliche Realität kapitalistischer Lebensverhältnisse mit den Bedingungen individueller Subjektivität "nicht-psychologisch" und "nicht-medizinisch" zu vermitteln weiß.
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