Lebensweise und Sozialstaat
Über die Veränderungen des Sozialstaats seit Beginn der Strukturkrise um 1975 und insbesondere die Entwicklung seit der Verstärkung der Massenarbeitslosigkeit in den 80er Jahren und der politischen "Wende" 1982 ist viel diskutiert worden. Die Einschätzungen streuen breit und reichen vom Ballastabwerfen bis zum Rückschnitt des Sozialstaats (des Systems der Sozialen Sicherung) auf ein gegenüber den Betroffenen kaum vertretbares Maß. Während die beschreibenden und oft skandalisierenden Arbeiten überwiegen, gibt es nur wenige analytisch orientierte Versuche.
In diesem Beitrag soll eine Einschätzung der regulativen Bedeutung von Struktur und Inhalten der Sozialpolitik, zunächst eher allgemein, gegeben werden, um dann von dieser Basis aus die postmoderne Entwicklung einzuschätzen.
Regulation
Der Regulationsansatz ist ein interessantes, weil relativ differenziertes analytisches Konzept der gesellschaftlichen Entwicklung (die Unterschiede zwischen den einzelnen Vertretern der Regulationsschule lasse ich hier beiseite), weil er die Verengung der wissenschaftlichen Perspektive auf getrennte Untersuchungsebenen von Ökonomie, Politik, Gesellschaftsstruktur usw. überschreitet. Er geht vielmehr von der These eines systematischen Zusammenhangs von ökonomischer Entwicklung, Reproduktionsform und Lebensweise wie Sozialstruktur sowie der politischen Steuerung dieser Aspekte aus. Es handelt sich mithin um ein disziplinenübergreifendes Konzept gesellschaftlicher Entwicklung, dessen Fruchtbarkeit im einzelnen sich freilich erst noch erweisen muß.
In der theoretischen Skizze gehe ich in Anlehnung an die Regulationsschule (Aglietta, Liepitz, Coriat usw.) von einer nichtlinearen Konzeption gesellschaftlicher Entwicklung aus. Ihr zufolge gibt es zwar eine durchgängige Grundstruktur bürgerlicher Gesellschaft, die sich mit den Begriffen private Produktion, Lohnarbeit und Warentausch, Weltmarkt fassen läßt. Jedoch unterscheiden sich in der Geschichte die realen Produktionsformen, Vergesellschaftungsmodi und Klassenstrukturen und damit die politischen Herrschaftsstrukturen so erheblich, daß man von unterscheidbaren historischen Epochen und Formationen der bürgerlichen Gesellschaft sprechen kann. Gerade die Berücksichtigung des Reproduktionsprozesses eröffnet hier neue Möglichkeiten zur Typisierung.
Die Unterschiede gründen letztlich in der technologisch bestimmten Form der Produktion, die spezifische Formen der Arbeitsorganisation, der Betriebs- und Branchenstrukturen, des Lohnverhältnisses, der Klassengliederung, der Beziehungen zwischen wirtschaftlichen Sektoren, der Natur der Staatstätigkeit, der Weltmarktintegration usw. bedingt. Auf komplizierte, nicht geplante und nicht vorhersehbare Weise stellt sich aber jedesmal ein Bezug all der Elemente des ökonomischen, politischen, kulturellen: gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhangs her, der sowohl den ökonomischen wie den politischen und kulturellen Elementen eine gewisse relative Festigkeit und ein Gleichgewicht vermittelt, die den Bestand des komplexen Gesamtsystems sichern. Die Regulation ist also zunächst ein abstrakter funktionaler Zusammenhang, dessen jede Gesellschaftsformation bedarf; die konkreten Regulationsweisen können dagegen auch innerhalb einer Formation variieren. Dieser Ansatz betont mithin die Historizität und Flexibilität im Erhaltungsprozeß von Gesellschaft.
Akkumulationsmodus und Regulationsmodus sind dabei die zentralen Begriffe. Akkumulationsmodus: auf der Grundlage von Produktionsorganisation und Arbeitsorganisation wird jeweils eine spezifische Akkumulationsstruktur gebildet, die Investitionszyklen, Branchenstrukturen, Konkurrenzformen, das Lohnverhältnis, Marktdominanzen usw. bestimmt und bis hin zum Verhältnis von Produktiv- und Konsumgütersektor und der Integration in den Weltmarkt reicht. Regulationsmodus: das ist die Beziehung dieser ökonomischen auf gesellschaftliche und politische institutionelle Formen, Regelungsmechanismen und gesellschaftlich normative Orientierungen, die insgesamt zu einem spezifischen Gleichgewicht gelangen müssen. Regulationsmodus bedeutet eine spezifische Form, in der die verwertungsorientierte Form der Kapitalreproduktion mit den politisch-kulturellen Modi von Loyalitätssicherung, Konsensfindung und gesellschaftlichem Zwang verbunden wird in einer typischen hegemonialen Struktur, die erst der spezifischen Reproduktion des Gesamtsystems die erforderliche Balance seiner Elemente verleiht. Diese hegemoniale Struktur bildet die historisch spezifische Verbindung zwischen Akkumulationsmodus und Regulationsmodus, die zusammen mit ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen (Interessenartikulation, Konsens, Legitimation und Zwang) Bedingungen der Reproduktion des Gesamtsystems trotz des konflikthaften Charakters sozialer Verhältnisse sichern. Ein "historischer Block" entsteht auf dieser Grundlage einer spezifischen Akkumulationsstrategie, bestimmter Klassenstrukturen und -beziehungen und spezifischer Formen einer hegemonialen Struktur.
Dies ist ein aktiver Prozeß, in dem ein Block an der Macht aus verschiedenen Kapitalfraktionen und anderen gesellschaftlichen Gruppen gebildet wird, andere Fraktionen ausgeschlossen bzw. politisch und/oder ökonomisch stillgestellt, durch Zugeständnisse und Kompromisse befriedigt und teilweise abgefunden werden, er bedeutet ferner, daß Kompromisse mit anderen Klassen oder Klassenfraktionen eingegangen werden, die sich so - und sei es auch nur partiell - vom "Block" repräsentieren lassen und/oder mit verschiedenen Gratifikationen oder Pressionen neutralisiert werden. Der regulationstheoretische Ansatz kann also dem Anspruch nach die Veränderung des Regulationsmodus in der Nachkriegszeit als zusammenhängenden Prozeß auf mehreren Ebenen erklären: Veränderungen im Produktionsprozeß, dem Verhältnis von Produktions- und Konsumgütersektor, in der Sozialstruktur und Lebensweise, in den Formen der Interessenartikulation und -konstitution, den Normen und Orientierungen (teilweise) usw. In der Nachkriegszeit hat sich eine neue hegemoniale Form herausgebildet; deren innere Evolution hat ab etwa Mitte der 70er Jahre zu neuen Strukturen geführt, die analytisch noch nicht genau bestimmt werden können, der Terminus Postfordismus bezeichnet diese Offenheit.
Im Zusammenhang mit der Durchsetzung einer stärker auf dequalifizierte Arbeitskraft setzenden Massenproduktion (die freilich in Deutschland auch wegen der starken Weltmarktposition des Produktionsgütersektors, der eher hochqualifizierte Arbeitskräfte benötigt, nicht so dominant wurde wie in anderen Ländern) und vor allem die Industrialisierung des Konsumgüterbereichs veränderten sich die Sozialstruktur, die Lebensweise und Problemlagen (und damit die Grundlagen von Interessenkonstitution) entscheidend. Ich will in diesem Beitrag vor allem diese Prozesse in bezug auf sozialpolitische Politik- und Regulationsformen diskutieren.
Ein Beispiel kann die von der Sozialdemokratie vertretene Arbeiterschaft sein, die in der deutschen Nachkriegsgeschichte relativ rasch die alten Ziele und Forderungen der Arbeiterbewegung - etwa auf Sozialisierung - aufgab und auf mit dem neuen Wachstumsmodell des Wirtschaftswunders verbundene Ausweitung von Konsum, Kompensation der Arbeitsrisiken und -belastungen durch erhebliche Reallohnsteigerungen, wachsende Freizeit durch Arbeitszeitverkürzungen und eine Palette sozialstaatlicher materieller und als Dienste und Infrastrukturverbesserung erbrachte Kompensationen setzte. Dem entsprach die Adaption einer keynesianischen Wirtschaftspolitik, als gewissermaßen dem theoretischen (oder ideologischen) Ausdruck einer gelungenen Regulation: eines Gleichgewichts auch antagonistischer Klassen im Kompromiß.
Regulation - Herstellung eines gesellschaftlichen, politisch vermittelten Kompromißgleichgewichts - bezieht sich dabei immer auf mindestens drei Ebenen: die Ebene der ökonomischen Entwicklung(sdynamik und ihrer strategischen Orientierung an Kernsektoren), eine politische Formierung, die hinreichende Potentiale zur Allianzbildung bzw. zur Neutralisierung oder Gegenmobilisierung beteiligter politischer Kräfte erlaubt und eine interessendynamische Ebene, die den Klassen(-fraktionen) materielle oder ideologische Gratifikationen ermöglicht, die ihren politischen Repräsentanten eine hinreichende konsensuale Außendarstellung und innere Integration erlauben.
Regulation sagt also analytisch etwas aus über das Zusammenwirken unterschiedlicher kollektiver und individueller Handlungen in der Gesellschaft. Als kollektive Akteure gelten die unterschiedlichen politischen und sozialen Institutionen im weiten Sinne, wie Parteien, Verbände, Kirchen, Medien usw., aber auch Familie, Staat (mit seinen Untergliederungen bis zur Kommune). Individuelle Handlungen beziehen sich auf die kollektiven Strukturen. Da prinzipiell die Gesellschaft in heterogene und partikulare Gruppen und Interessen zerfällt, bedarf es des Staates als formell abgesonderter Instanz, um überhaupt eine funktionale Verdichtung von Klassenbeziehungen im Sinne einer Regulation herstellen zu können. Der Staat steht also nicht über den Klassenbeziehungen, sondern er stellt ein spezifisches Funktionsfeld für Klassenbeziehungen dar.
Der Staat ist daher nicht das Subjekt der gesellschaftlichen Reproduktion, sie und der Regulationsmodus müssen eher als subjektlose Prozesse gesehen werden, die sich komplex aus dem Zusammenspiel der Wirkfaktoren, sozialer Gruppen und Institutionen herausbilden, dabei jedoch sehr wohl eine spezifische Logik haben.
Sozialpolitik als Element der Regulation
Grundsätzlich weist die Reproduktionsform der bürgerlichen Gesellschaft eine Reihe struktureller Leerstellen auf, d.h. ökonomisch bedingte soziale Konfliktfelder, deren Regelung in einer partikulare Interessen überspringenden, gesellschaftliche Allgemeinheit erst konstituierenden Form als Resultat eines regulativen Prozesses, eine funktionale und regulative Notwendigkeit darstellt. Solche Konfliktfelder sind durch Sozialpolitik im weiteren Sinne zu bezeichnen: etwa die Arbeitszeitregelung, die Begrenzung von Lohnarbeit auf bestimmte Gruppen (Ausschluß von Kinder- und Frauenarbeit), Regelungen der Arbeitsprozesse im Hinblick auf soziale Ökonomie (Unfallschutz usw.) und auch die soziale Sicherung im engeren Sinne: Risikenabsicherung von Unfall, Krankheit, Alter und sozialer oder persönlicher Arbeitsunfähigkeit (Armut, Versorgung Alleinerziehender usw.). Es gibt also notwendige Bereiche der Regulation, weil funktionale Erfordernisse des Gesamtreproduktionsprozesses die Konstitution einer qualitativ neuen und übergreifenden - d.h. partikulare Interessen übersteigenden und auf eine neue Stufe hebenden - Sphäre des Gesamtprozesses bedingen (vgl. Lenhardt/Offe 1977). Sozialpolitik im weiten Sinn gehört deswegen zu diesen Konfliktfeldern, die unabdingbar geregelt werden müssen, weil es bei ihrem Gegenstand um die Reproduktion der einzelnen Gesellschaftsmitglieder und des Gemeinwesens im Ganzen geht, die als Bedingung qualitativer wie quantitativer Art der kapitalistischen Produktion fungiert.
Was in diesem Kontext der Begriff Funktion bedeutet, ist aber grundsätzlich nicht hinreichend durch den ökonomischen Kontext bestimmbar. Das liegt daran, daß die Ökonomie selbst durch die Klassenverhältnisse, -kräfte, -kompromisse usw. mitkonstruiert ist. Die Beschränkung der Arbeitszeit auf 8 Stunden täglich zu Beginn des Jahrhunderts ist sicherlich eher durch die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse erklärbar als durch funktionelle Begründungen, die erst zeigen müßten, warum nicht eine 9- oder 7-Stunden-Regelung möglich gewesen wäre. M.a.W. scheint mir die Unterscheidung von funktionalen und regulativen Aspekten eine analytische, keine reale. Die Funktion ist ein Moment der Regulation, keineswegs eigenständig. Wenn wir über Regulation reden, verwischen sich mithin die Grenzen zwischen Ökonomie, Gesellschaft und Politik, und das hängt damit zusammen, daß Regulation gerade die Sphäre der Verknüpfung, der Vermittlung oder die "vermittelnde Bewegung selbst" (Hegel, Logik) ist. Was also in einem regulatorischen Kontext als funktional zu gelten hat, hängt selbst ab von der konkreten Lage der gesellschaftlichen Konfliktfelder, der Bedeutung des Gegenstands des Konflikts, der Gruppierung von sozialen Positionen, auch zueinander, ihrer Stärke und Kampfformen usw., weil die Lösung - wie auch immer - so beschaffen sein muß, daß im Fall eines Kompromisses - der normal sein dürfte - die beteiligten Interessen insoweit befriedigt sein müssen, daß sich Legitimation für das Ganze und Balance unterschiedlicher Interessen, abhängig von ihrem gesellschaftlichen Gewicht, ergibt. Funktionalität im Kontext der Regulation hat also sowohl eine "technische" Seite (Lösung eines sachlichen Problems) wie eine politische (Berücksichtigung politischer Forderungen, gesellschaftlicher Gruppen und ihres Einflusses) und die Form der Lösung kann so geartet sein, daß soziale Interessen teilweise befriedigt, abgelenkt, gespalten, verschoben, partikularisiert, zersplittert, neutralisiert usw. werden. Gerade die Form staatlicher Intervention begünstigt Prozesse der Dethematisierung und Partikularisierung gesellschaftlicher Interessen und schafft der Regulation eine Sphäre sui generis (vgl. ausf. Chassé 1988, S. 111 ff.).
Integration und Reformismus
Eine durchgängige Struktur der Sozialpolitik finden wir in Deutschland seit 100 Jahren. Die Spaltung der Leistungssysteme für Arbeiter und Arme ist kontinuierlich Teil eines einheitlichen Konzepts in der Kompromißbildung mit der gesellschaftlichen Arbeitskraft. Die Sozialversicherung bezieht sich auf den eher privilegierten, den Kernsektoren angehörenden Teil der Arbeiterschaft und benachteiligt die in den unsicheren Sektoren Arbeitenden, mit irregulären Arbeitsverhältnissen oder niedrigem Lohn.
Diese Struktur war schon in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts eng verbunden mit einer spezifischen Konkurrenzsituation auf dem Weltmarkt, auf die die deutsche Industrie mit einer Steigerung der Konkurrenzfähigkeit durch privilegierenden Schutz der Industriearbeiter reagierte. Intendiert wurde die Gewährleistung eines Reproduktionszuschnitts, der ein gewisses Niveau von Bildung, Arbeitsdisziplin und -moral (Qualifikation) und moralischer und konstitutioneller Arbeitsfähigkeit (Gesundheit) garantieren sollte.
Unter hegemonialem Aspekt stellt der Ausbau der Sozialen Sicherung also eine Kompromißbildung mit materiellen Gratifikationen für einen Teil der Arbeiterschaft dar, der zugleich der organisierte und politisch aktive war, während ein anderer Teil materiell benachteiligt und politisch neutralisiert wird.
Zugleich wirken die im Sicherungssystem angelegten Dethematisierungsstrukturen: Fragmentierung des gesellschaftlichen Kontexts, die Versicherungsfiktion, die Individualisierung von Risiken usw. Die institutionell vermittelte Dethematisierung hat sicherlich mit dazu beigetragen, daß fast niemals in der deutschen Geschichte, selbst nicht nach 1919, umfasssendere Sozialreformen, die das soziale Sicherungssystem ersetzt bzw. grundlegend umgestaltet hätten, eine ernsthafte Chance auf Durchsetzung hatten. Zuletzt 1957 hat die SPD den Gedanken einer umfassenden Sozialreform offenbar endgültig für die deutsche Arbeiterbewegung aufgegeben. In ihr sollten die Aspekte der Vermeidung, der Vorbeugung sozialer Probleme und flächendeckender sozialer Versorgung mit Infrastruktur und Diensten durchgesetzt werden gegenüber der reaktiv orientierten Sozialen Sicherung. Während in der Nachkriegszeit diese Forderung gegenüber der CDU-Politik des quantitativen Ausbaus der Sicherung bei Fortschreibung der Grundstrukturen schon keine politischen Chancen mehr hatte, da sich die Kompromiß- und Klassenstrukturen bereits konsolidierten, war es in der Zeit der ersten deutschen Republik und später in der Weimarer Zeit wohl so, daß in der damaligen politischen Kräftekonstellation solche Forderungen nicht durchsetzbar waren, weil die Arbeiterschaft insgesamt zu schwach war und auch weil die staatliche Form der Durchsetzung nicht nur politische Kompromisse, sondern auch Ressourcen erforderte. Dies ist wohl auch der Grund, daß in Zeiten der Rezession und Krise, wenn die Mängel des Systems augenscheinlich und dringlich werden, am wenigsten über neue Strukturen nachgedacht wird. Krisen schwächen die Arbeiterbewegung und lassen dem Staat keinen Spielraum.
In der Nachkriegszeit hat sich die Auseinandersetzung um die Soziale Sicherung auf das Feld immanenter Fortentwicklung verlagert. Grund war letzten Endes die außergewöhnliche Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung, die mit spürbaren Veränderungen von Lebensweise und Lebensstilen für alle die endgültige Beerdigung der Idee einer großen Sozialreform bedeutete, da die Beteiligung aller am ökonomischen Wachstum in der Geschichte beispiellose Verbesserungen des täglichen Lebens mit sich brachte. Die Entwicklung des Korporatismus ab 1955 ist insofern an die Durchsetzung des Fordismus gebunden und bedeutet strukturell ein Klassenbündnis, d.h. Verzicht auf radikalere Forderungen, Mittragen der ökonomischen (Weltmarkt-)Expansion durch die Gewerkschaften, Beschränkung auf - allerdings erhebliche - Lohnsteigerungen und sonstige Verbesserungen (Arbeitszeit und Urlaub vor allem).
Eine Pointe dieser Entwicklung ist, daß damit die Gewerkschaften wie auch die politischen Parteien der Arbeiterbewegung - zugleich mit der Erosion traditioneller Milieus, den Veränderungen der Klassenstruktur im Gefolge dieser Entwicklungen, der Auflösung eines traditionellen Sektors der Gesellschaft - die soziale Verankerung (außerhalb des Staats und in der Lebensweise selbst) verloren haben, diese gleichsam unterminiert wurde durch die soziale Entwicklung. Diese Evolution bedeutet, daß nicht mehr die Lebensweise das Fundament der Verzahnung von Arbeiterschaft und Arbeiterorganisationen darstellt. Dies funktioniert freilich nur, weil die neue Produktionsform und vor allem die veränderte Lebensweise neue, viel stärker kompensatorisch gerichtete Bedürfnisse und Interessen hervorgebracht hat, die mit der Erhöhung des Lebensstandards und Massenkonsum einhergehen und sich darauf beziehen. Ich sehe also eine reale, d.h. in der Veränderung der gesellschaftlichen Produktionsweise und Lebensformen begründete Transformation gesellschaftlicher Interessenkonstellationen. Sie haben sich zwar verstärkt durch die Partizipation an einer korporatistischen Kompromißstruktur, durch reale Veränderung auch der differenzierten sozialen Schichtung, durch stets nachhaltigere Orientierung an den sozialen Garantie- und Sicherheitsformen, haben aber darin nicht ihren Ursprung. Alle diese Veränderungen - dies in der Tendenz - verstärken den Reformismus der Arbeiterbewegung, obwohl sie Klassenkonflikte deshalb keinesweg ausschließen, und drängen schließlich zur Transformation der Ziele, Organisationsformen und Strategien in Parteien und Interessenvertretungen. Regulationstheoretisch bedeutet diese Entwicklung eine Integration der Arbeiterbewegung in die expansive ökonomische Orientierung der Nachkriegsepoche, die die Ausweitung des Staats und der Sozialpolitik mit breiten Klassenbündnissen auf der Basis ökonomischer, materieller und politischer Kompromisse absichert.
Dieses Bündnis, das Modell Deutschland oder der Wohlfahrtsstaat, faszinierte durch die Perspektive, die Bedürfnisse aller zu befriedigen, wenn auch in ungleicher Weise, Ungleichheit und soziale Randständigkeit abzubauen, Armut abzuschaffen und durch die große Perspektive, die neu entstandenen oder umgeschmolzenen Schichten an der ungeheuren inneren Dynamik teilnehmen zu lassen.
Es gelang daher infolge dieser historischen Konstellation, sehr breite Bündnisse zu realisieren, Kompromisse durch den Staat zu institutionalisieren und Formen kollektiver (korporatistischer) Verhandlungen zu fördern. Diese Entwicklung veränderte so den Charakter der Arbeiterinteressen von partikularen - d.h. spezifischen - Interessen in Richtung eines universalistischen Status, in dem partikulare Interessen (Arbeiter) und ökonomische Entwicklung identisch werden. Konsequent wurden die sozialdemokratischen Parteien zu Volksparteien. Ein Konsensgleichgewicht wurde so möglich, das in dieser Breite und Intensität vorher undenkbar gewesen wäre und dessen Form die direkte, korporatistische Anwesenheit der Interessen im Staat ist. Zugleich wurden die Formen der Interessenaustragung stärker verrechtlicht und institutionalisiert, sodaß sich insgesamt die Hegemonieformen im Sinne der Organisierung von Interessen von oben verallgemeinerten. Zugleich mit der Ausweitung der Vergesellschaftung von Reproduktion (soziale Sicherung und Ausbau der Infrastruktur: Schulwesen, medizinische Versorgung, öffentliche Einrichtungen) wird die Produktion des Sozialen in einer spezifischen Art und Weise wiederum von oben (anstelle der Strukturen des traditionellen Sektors tretend) institutionalisiert, so daß der zuvor nicht-kapitalistische Alltag des traditionellen Milieus nun tendenziell Politikfeld des Staats wird. Produktion des Sozialen durch den Staat stellt die historisch neue Form der Vergesellschaftung besonders der Reproduktion dar, die selbstverständlich erhebliche Auswirkungen auch auf die Konstitution von Interessen, Interessenvertretungs- und -durchsetzungsformen wie auf Bewußtseinsformen ausübt.
Individualisierung gesellschaftlicher Problemlagen
Ich stimme solchen recht dramatischen Thesen zur Gegenwartsdiagnose zu, die etwa das Ende der Arbeiterbewegung (Ebbighausen/Tiemann 1984), das Ende der Arbeitsteilung (Kern/Schumann 1984; Piore/Sabel 1985), den Abschied vom Proletariat (Gorz 1980) behaupten: Die Modernisierung der Arbeits- und Reproduktionsstrukturen hat eine grundlegenden Wandel in der Basis historischer Erfahrung und Organisation bewirkt. In der Zeit des Wirtschaftswunders ist die alte Klassenstruktur untergegangen, die die deutsche Geschichte seit der Zeit des Kaiserreichs bestimmt hatte. Gemessen an der relativ geschlossenen sozialen Strukturierung dieser Gesellschaft kennzeichnet die Klassenlagen der Bundesrepublik heute eine strukturelle Individualisierung, nämlich die Enttraditionalisierung überkommener Lebensmuster und die Ausweitung individueller Lebenschancen (und -risiken) auf der Grundlage von relativem Wohlstand, Sozialstaat und Bildung. Dieser Prozeß ist wohl historisch offen, da sein Ergebnis keine neue einheitliche soziale Lage ist, und offen ist auch das Schicksal der neuen Proletarisierung durch Teilzeitarbeit, Massenarbeitslosigkeit, neue Armut.
Ein wichtiger Aspekt ist die Homogenisierung der Arbeiterschaft, eine Folge sowohl der Veränderung der Produktions- wie der Reproduktionsstrukturen. Die ehemals tiefen regionalen, branchen- und gruppenspezifischen Lohnunterschiede und die folgenreichen Unterschiede der Lebensstile zwischen großstädtischen, kleinstädtischen und ländlichen Milieus verloren durch die Akkumulationsentwicklung der Nachkriegszeit ihre differenzierende Bedeutung; die allgemeine Lohnentwicklung und die industrielle Durchdringung des Reproduktionsbereichs trugen zur Angleichung der Lebenslagen bei. In der Folge dieser Entwicklung verblaßte der soziale und politische Bedeutungsgehalt von Klassen- und Gruppenzugehörigkeit. Sozialgeschichtlich bedeutet die Epoche des Wirtschaftswunders einen Kontinuitätsbruch (Mooser 1984), sowohl durch die Veränderung der Lebenssituation wie durch die Unterbrechung der Kontinuität der Arbeiterbewegung: die Nachkriegsgeneration wächst nach einem politischen Kontinuitätsriß und in von Wohlstand, Mobilität und Massenkultur geprägten Zeiten auf.
Die Vereinheitlichung der Arbeiterschaft ist jedoch nur eine Tendenz der Entwicklung; gerade auf der Grundlage der Homogenisierung der Beschäftigung wurden allmählich infolge des ungleichen strukturellen Wandels und verschiedenartiger Rationalisierungsverläufe die Differenzierung und Heterogenisierung in den beruflichen Tätigkeiten, den Arbeitsbedingungen und den beruflichen Milieus größer; seit der Krise haben sich diese Tendenzen beschleunigt und verschärft. Sozialstrukturell hat so die Vorstellung sozialhomogener Milieus auf der Basis der Erwerbsstruktur keine Grundlage mehr, vielmehr sind die Lebensverhältnisse konkreter einzelner geprägt durch Inkonsistenzen seiner Lage: neben die Schichtzugehörigkeit sind viele andere Faktoren getreten, die die Lebensverhältnisse beeinflussen (Abhängigkeit von Institutionen des Sozialstaats und materiellen Leistungen, technologischer Wandel, Infrastrukturelle Versorgung, usw.), so daß sozialstrukturelle Vorstellungen mehrdimensional orientiert werden müssen (Hradil 1987, Haller 1986), wenngleich die vertikale Strukturierung dominant bleibt.
Soziale Probleme und soziale Bedürfnisse und Interessen haben durch diese gesellschaftlichen Veränderungen ihren Charakter gewandelt. Probleme treten nicht mehr nur als einheitliche und eine relativ homogene Gruppe betreffende auf, sondern auch als Inkonsistenzen in stark ausdifferenzierten sozialen Lagen; sie werden daher als individuelle wahrgenommen.
Einerseits bindet die Individualisierung und Differenzierung der Lebensformen die einzelnen nun in neuer Weise an die Lohnarbeit an. Arbeit wird auch als notwendig angesehen und angestrebt, weil nur sie die Realisierung individueller Lebensziele im Konsumbereich, Freizeit, Reisen, Urlaub, Auto, Haus, Kleidung usw. möglich macht. Neben diesen symbolischen Attributen individueller Lebensgestaltung macht oft auch Arbeit erst die inhaltlich neuen Lebensformen, die Verselbständigung von Eltern, Familie und Herkunft, den Lebensstil des Alleinlebenden, der nicht über Familie definierten privaten Sphäre, möglich.
Armut und Marginalisierung bedeuten heute historisch gesehen einen neuen, sehr viel schärferen Grad an sozialer Abkoppelung und Isolierung. Man vergegenwärtige sich nur, daß das Existenzminimum der Weimarer Fürsorge oft über den untersten Arbeiterlöhnen lag. Das ist zwar heute wieder so, doch ist die unterste Lohngruppe viel kleiner geworden und die soziale Differenzierung (auch einkommensmäßig) der Lohnarbeit viel größer. Mit anderen Worten sind sowohl in der Klassen- bzw. Schichtendifferenzierung wie der Sozialpolitik Ausgrenzungseffekte heute gravierender und durchschlagender geworden, und sie werden verstärkt durch das Fehlen eines stützenden sozial integrierenden Milieus, einer subsistenzorientierten traditionellen Ökonomie usw. Zudem - als Folge davon - fehlt eine lebendige Solidarität, die die sozialen Folgen teilweise auffangen konnte, während Solidarität heute bestenfalls abstrakt in den Leistungen und Anspruchsgewißheiten der Sozialen Sicherung und ihrer Institutionen versachlicht und vergegenständlicht ist. Sozialen Problemen fehlt heute mithin die Dimension alltagspraktisch erfahrbarer Gemeinschaftlichkeit, oft sogar die gleicher Problemlagen und -Schicksale, so daß Problemlagen heute die Härte der Singularität, des Individuellen, Vereinzelten tragen, trotz aller Massenhaftigkeit.
Für die regulatorische Bewältigung dieser Probleme bedeutet diese Entwicklung die stärker gruppenspezifische Bearbeitungsform politischer Konfliktfelder. Die soziale Ausgrenzung ermöglicht eher eine politische und gesellschaftliche Neutralisierung sozialer Problemlagen, da die Möglichkeiten einer Interessenartikulation begrenzt sind. Erst Koalitionen mit anderen betroffenen Gruppen könnten hier eine Perspektive eröffnen. Hier ist auch die Aufgabe einer politischen Partei, in der Zusammenfassung und Koordination gesellschaftlich partikularer Gruppen und Interessen. Freilich zeigt die Empirie, daß eine solche Organisationsform allein die Aufgabe einer Vereinheitlichung und der Wahrung von Kontinuität sozialer Kämpfe offenbar nicht lösen kann, vielleicht, weil die Basisorganisationen eben nicht mehr breite Verwurzelung in den alltäglichen Lebensformen haben, bzw. die Lebensformen selbst sich sehr viel stärker differenziert haben.
Andererseits entstehen gerade aus den Brüchen der Arbeitsgesellschaft, des Systems der sozialen Sicherung und der Erosion verbindlicher Lebensformen neue, transzendierende Bedürfnisse etwa nach selbstbestimmten Betriebs- und Arbeitsformen, neuen Lebensformen jenseits von Familie und Ehe, wenngleich insgesamt vor der Folie der Enttraditionalisierung die Bedeutung privater Beziehungen (eheähnliche Beziehungen, Mutterschaft usw.) auch durch ihren Sinngehalt zunimmt. Individuell bedeutet dies stärkere Konzentration auf private, individuelle Lebensgestaltung jenseits bislang verbindlicher Formen der Ehe und Familie, anders gesagt hat sich die Familie von einer Reproduktionsgemeinschaft zu einer durch soziale Beziehungen (Liebe?) konstituierten Lebensform verändert. Zum Teil ist diese Entwicklung des Sozialstaats die Bedingung dafür, daß solche neuen Arbeits- und Lebensformen, die sich nicht auf verwandtschaftliche und traditionelle Kontexte stützen können, bei Eintritt von Risiken überleben können, und zum Teil sind sie dadurch erst möglich geworden. ABM-Stellen für selbstverwaltete Betriebe sind ein Beispiel. Aber die Regulierung beläßt solche Alternativen auch grundsätzlich in Nischen.
Zudem funktioniert offenbar die ideologische Regulation durch die passive Proletarisierung über Arbeit und Reproduktionsphäre so effektiv, daß die sehr große Mehrheit alternativen Arbeits- und Lebensformen, die oft einen bewußten, erklärten Gegenpol zur allgemeinen Wertschätzung von Arbeit und Konsum bilden, vielleicht zwar nicht verständnislos gegenübersteht, jedoch fürs eigene Leben weitgehende Konsequenzen - letztlich eines Ausstiegs aus der dominanten Lebensform - ausschließt, obgleich einzelne Momente, wie z.B. biodynamisch produzierte Nahrung usw., integriert werden können.
Lebensweise und Interessenkonstitution
Allgemein kann man sagen, daß mit der Integration des Reproduktionsbereichs in die Kapitalverwertung in der Nachkriegszeit die Regulation - wie die Prozesse passiver Proletarisierung - eine neue Ebene erreicht hat: nunmehr sind das private Leben, Lebenstile und Lebensformen selbst materielle und symbolische Träger der Integration geworden, gleichsam ist dem sozialen Zwang durch Regelungen und Institutionen ein intrinsischer Mechanismus zur Seite getreten, der höchst wirksam ist.
In dieser Weise gibt es eine Entsprechung von Entwicklungsmodell (der Entwicklungsform von Ökonomie und Staat) und Hegemoniemodell (der Entwicklungsform von hegemonialen Strukturen zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen, Klassen und Schichten). Der Erosion des traditionellen Sektors und seiner Ersetzung durch industrielle Strukturen entspricht mit der Kapitalisierung des Reproduktionsbereichs die Hegemonieform konsumistischer, individualistischer und privater Lebensform, d.h. eine Ideologieform, die ihre Mächtigkeit und Kraft gerade aus den positiven Veränderungen der allgemeinen Lebensweise, dem Wohlstand und seinen Verheißungen materieller Befriedigungen bezieht. Institutionen wird parallel die Arbeiterbewegung bzw. ihre Organisationen, insbesondere die Gewerkschaften, korporatistisch in die Hegemonieform einbezogen, wodurch auch inhaltlich die reformistische Transformation der Arbeiterinteressen beschleunigt und festgeschrieben wird. Zugleich wird in dieser Hegemonieform eine verstärkte Institutionalisierung und Verrechtlichung wirksam. Innerorganisatorisch bedeutet diese Entwicklung tendenziell eine Organisierung der Arbeiter von oben nach unten. Strukturell wird so erst die Adäquanz gewerkschaftlicher Organisationsform zum neuen Hegemoniemodell realisiert.
Die Konstitution von Interessen wird nun stärker von dem neuen Gewicht bestimmt, das Arbeit und Reproduktion (letztere erhält nun eine neue, hegemoniale Bedeutung), gewinnen. Vor allem der Reproduktionsbereich erfährt die stärksten Veränderungen, die sich mit den Stichworten Industrialisierung der individuellen Lebenssphäre, Automobilisierung der Gesellschaft, starke Differenzierung der Lebenslagen und Lebensstile wie der sozialen Schichtungen, Erosion der Familie, Individualisierung auch von Bedürfnissen, Hedonismus in Konsum und Freizeit kurz umreißen lassen. Differenzierung der Lebensstile und individualistische Orientierung sind mit Folgen der Auflösung der traditionellen Lebensweise, der traditionellen homogenen Milieus, des traditionellen Sektors als nicht-kapitalistischer Sphäre innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft allgemein. Diese Veränderungen, mit denen die alte Arbeiterbewegung ihre soziale Verankerung im Milieu und der Lebensform der Arbeiter verloren hat und daher obsolet geworden ist, bedeuten u.a., daß die soziale Basis für eine kollektive und Geschichte bewahrende Erfahrung (wie die alte Arbeiterbewegung sie darstellte) nicht mehr besteht. Eine der Folgen der Individualisierung der Moderne ist neben dem Verlust der Traditionen der zusätzliche Verlust an erinnerter, bearbeiteter, im alltäglichen Leben verankerter Traditionsfähigkeit. Das Subjekt der fordistischen Moderne wird, was kollektive Erfahrungen angeht, gleichsam geschichtslos. Die sozialen Bewegungen wie auch Streikbewegungen sind daher heute punktuell, partikular, diskontinuierlich; das Problem politischer und sozialer Verallgemeinerung und Kontinuität ist bisher ungelöst - und offenbar in den alten Formen nicht lösbar -; die alte Arbeiterbewegung dagegen verfügte deswegen auch organisatorisch über Kontinuität und Geschichte, weil ihre soziale Grundlage in den Milieus sozial gleichförmig blieb und selbst daher eine Vermittlung sozialer Erfahrungen leisten konnte. Zudem änderten sich die Erfahrungsgrundlagen nicht wie in der Nachkriegszeit binnen einer Generation.
Hegemoniale Organisation im Sinne von lebensweltlich vermittelter Einbindung erhält so stärkeres Gewicht und zugleich vergrößert sich die Wirksamkeit der Desorganisation als Hegemoniemodus infolge der sozialen Individualisierung. Inhaltlich beziehen sich Forderungen der Arbeiter nun auf Status- bzw. materielle Verbesserungen - nicht mehr auf Umwälzung. Die Desorganisation vollzieht sich eher auf einer materialen Ebene, der der Lebensweise, indem die realen Verbesserungen der Lohnarbeitsverhältnisse einen ideologischen Sog auslösen, in dem radikalere Strebungen untergehen, und in dem es innerhalb der Arbeiterbewegungen schwerer wird, universalistische Forderungen gegenüber partikularen zu formulieren und durchzusetzen.
So konnte es in der expansiven Periode der Ökonomie 1950-1975 gelingen, mehr oder weniger für alle korporatistisch vertretenen Gruppen materielle Konzessionen durchzusetzen, und, unterstützt durch die Entwicklungen zur Homogenisierung von Lebensstilen und Sozialstrukturen, eine Entpolitisierung der Interessenartikulation und -konstitution zu forcieren. Ab Mitte der 70er Jahre haben sich aber die grundlegenden Muster gesellschaftlicher Entwicklung gewandelt. Sie ist inkonsistenter geworden und schließt disparitäre Entwicklungslogiken zwischen Branchen sowie eine Neuformierung von Kernsektoren ein. Der gesellschaftliche Konsens fällt unter den Bedingungen der Krise auseinander in partikulare Interessengegensätze, die nun sektoral und pluralistisch wahrgenommen werden, wie Arbeitslose gegen Beschäftigte, Ausländer gegen nationale Arbeiter, Junge gegen Alte, abgesicherte gegen irregulär Beschäftigte usf., und der Korporatismus wird regressiv, wendet sich gegen seine einbezogenen Gruppen, oder, mit Esser und Fach, wird selektiver Korporatismus, der die im Kernbereich Beschäftigten begünstigt, periphere Gruppen und Schichten aber ausschließt und per sozialer Sicherung, Institutionalisierung und evtl. Polizei kontrolliert, so daß politisch der Aspekt von Gewalt und Kontrolle sich auf die Marginalisierten richtet, während der Kern per Zustimmung integriert ist.
Die institutionalisierten gesellschaftlichen Kompromisse, vergegenständlicht u.a. im System der sozialen Sicherung, werden nun über die institutionellen Problembearbeitungsweisen zur spezifisch politischen Form von Individualisierung der Betroffenen, politischer Neutralisierung und z.T. repressiver Kontrolle.
Zwei Aspekte mindestens sind dabei zu unterscheiden. Einmal die materielle reale Hilfe, die durch Soziale Sicherung geleistet wird, aber in sich sozial-strukturell abgestuft ist. Die Hilfe schafft ein Abhängigkeits- und Kontrollverhältnis zum Staat, um so stärker, je weiter man nach unten geht, d.h. sich vom Kern entfernt (Sozialhilfe).
Zweitens wirkt die Struktur der sozialen Sicherung ideologisch: individualisierend, entpolitisierend, dethematisierend usw., was zudem mit der individuellen Form der Hilfegewährung zusammentrifft und sich gut ergänzt. Dies wirkt auf der Basis differenzierter Klassenstrukturen und weithin gleichförmiger Lebensstile und -formen, die soziale Milieus ablösen.
Insofern läßt sich die Soziale Sicherung als ideologischer Staatsapparat im Sinne Poulantzas betrachten, sie stellt weniger etwas her, sondern stellt etwas dar (Steinert): die abgestufte soziale Mißbilligung der Nichtlohnarbeit, wobei diese Mißbilligung, je weiter man im sozialen Netz nach unten geht, desto stärkeren Gewalt- und Kontrollcharakter erhält. Sie ist zudem über das Äquivalenzprinzip so strukturiert, daß die Schichtengliederung der Arbeiterschaft erhalten bleibt (ALG, AlHi, Rente).
Steinert hat recht, wenn er neben Lenhardt/Offes Funktion aktiver Proletarisierung (durch Sozialpolitik) auf die Bedeutung einer inhaltlichen Disziplinierung, der aktiven Zurichtung, hinweist. Sozialpolitik im weiten Sinn stellt gerade in der Nachkriegszeit einen weitergehenden Eingriff in die Lebensführung des Arbeiters dar, durch den notwendige Veränderungen der Arbeitsmoral und Stützungen der Reproduktion der Arbeitskraft (besonders der sozialisatorischen Kraft der Familie) weitergetrieben werden in Richtung eines neuen Sozialisationstypus.
Gerade die Veränderungen der Lebensweise stellen auch ein Potential innerer Widersprüchlichkeiten und Brüche der verschiedenen Instanzen von Hegemonie dar, die in den Wechsel von Lebensweise und gesellschaftlicher Normalität involviert sind; das reicht von der Familie, den Geschlechterrollen, der Bedeutung von Arbeit und Beruf bis hin zur Schule, Gesundheitswesen usw.; Ungleichzeitigkeiten sind unvermeidlich. Arbeitsmoral oder gesellschaftliche Normalität als Norm (Moral und Normalität) kann vielleicht wirklich als integrierendes Konzept dienen, das zum Zentrum Produktion orientiert ist, aber einen "breiten Rahmen institutioneller Arrangements" (Steinert, S. 89) hat, die sie mittragen und fortentwickeln, ohne einem allgemeinen Plan zu folgen. In diesem weiten Verständnis von Sozialpolitik gehören mithin die Lebensweise, d.h. der Bereich der Reproduktion des einzelnen, der Gesellschaftlichkeit und des Kollektiven mit ihren Formen und Bedingungen hinzu. Die Vermittlung von Wirtschaftsform und Reproduktion des einzelnen ist der systematische Oberbegriff, der Schlüssel zum Verständnis von Sozialpolitik. Sozialpolitik bezieht sich allgemein auf die Reproduktion, die selbst in sehr vielfältigen Institutionen und sozialen Arrangements besteht, und wirkt so spezifisch auf sie ein, daß eine Vermittlung zu den Erfordernissen der Produktion konkret gelingt. Freilich stellt diese Beziehung nur die allgemeine Struktur der Vermittlungsbewegung dar, konkret ist die Reproduktion auch als Verbund selbständiger Instanzen, Apparate und sozialer Formen aufzufassen, die untereinander und zum Zentrum keineswegs in einem finalen Verhältnis stehen. Ich will das an einem Beispiel deutlicher machen.
Lebensform und Sozialisation im Wirtschaftswunder
Die Geschichte der Neuzeit läßt sich auch als eine Geschichte der Sozialdisziplinierung schreiben. Ich glaube nun, daß in der Nachkriegsgeschichte hier ein neues Kapitel aufgeschlagen worden ist. Solange traditionale Milieus, insbesondere der tiefe ländliche Raum mit seinem Bevölkerungsreservoir, bestanden, konnte die "Fabrikation des zuverlässigen Menschen" (Steinert/Treiber 1980) aus einer gewissermaßen außersystematischen Ressource bezogen, gleichsam importiert werden, da sich aus dem subsistenzbezogenen Charakter der traditionellen Ökonomie offenbar mit dem recht geringen Input allgemeiner Bildungsinstitutionen Sozialisationsprozesse ergaben, die einen der protestantischen Ethik (Weber) verpflichteten Output an potentiellen Arbeitskräften ergab. Offenbar kamen auch die Familien der Arbeiter im wesentlichen ohne familienergänzende Instanzen aus (mit Ausnahme vielleicht des Kindergartens). Jedenfalls funktionierte familiale Sozialisation doch "autonomer", d.h. mit weniger staatlich/gesellschaftlicher Ergänzungs- und Unterstützungsleistung, weil diese wohl noch vom sozialen Netz der Verwandtschaft, Nachbarschaft usw. erbracht wurden.
Was Lutz (1984) in Anlehnung an R. Luxemburg (1913) zu zeigen versuchte, ist, wie sich der Kapitalismus in einem säkularen Prozeß gleichsam in eine Gesellschaft hineinfrißt, die in ihren elementaren Strukturen älter und anders bestimmt ist als der Kapitalismus, und was sich dabei verändert.
Diese Einschätzung bedeutet, den exzeptionellen Charakter der Nachkriegsperiode hervorzuheben (wie er z.B. auch in Miegels Graphiken von Einkommen und Vermögen der Haushalte (1983, S. 177 und 181) dargestellt wird). Die Dynamik der Einkommen und der Wandel der Lebensverhältnisse sind in der Geschichte ohne Beispiel.
Aufbauend auf den traditionellen Strukturen in Landwirtschaft, Handwerk und Handel gab es vor allem auf dem Land, den kleinen und mittleren Städten, geschlossene und scheinbar unerschütterliche soziale Strukturen, die weit in die vorindustrielle Zeit hineinreichten (Lutz 1986, S. 96 ff.). "Dies alles ist in einem Vierteljahrhundert nahezu vollständig zerstört worden." Mit der Erosion des traditionellen Sektors und mit der neuen akkumulativen Dynamik ergeben sich zwei gewichtige Veränderungen der Funktionen von Sozialpolitik im allgemeinen (nach Lenhardt/Offe 1977), arbeitsprozeßkonforme Motivationen zu schaffen.
Einmal kann diese Funktion nun nicht mehr gewissermaßen als Nebenprodukt der nicht- bzw. vorindustriellen Lebensformen und Reproduktionsformen, die nur flankierende staatliche Ausgrenzung von Raub, Auswanderung usw. (vgl. Lenhardt/Offe) erforderte, erbracht werden. Es wird ein breiter Ausbau gesellschaftlicher Erziehungsinstitutionen erforderlich, von Kindergarten, Vorschulerziehung über die Schulreform bis hin zu Weiterbildungseinrichtungen (hinzu kommen Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen z.B. für Behinderte und Alte), um die verminderte bzw. nun unzureichende Sozialisationsleistung der bisher im traditionellen Sektor verankerten Familie teils zu ersetzen, teils zu unterstützen.
Die dritte Funktion nach Lenhardt/Offe, Regulierung des Angebots von Arbeitskräften, verlagert sich mehr und mehr in den flexiblen Einsatz von Bildungsinstitutionen, Weiterbildungsregelungen und der variablen Regelung der Verweilzeiten in Bildungs-, Ausbildungs- und Arbeitsphasen usw.
Zum zweiten wird die traditionelle Sozialisationsmatrix des protestantischen Asketismus obsolet, d.h. es findet eine qualitative Veränderung im Sozialisationsziel statt. Induziert wird diese Veränderung von zwei Prozessen. Einmal tritt an Stelle traditioneller subsistenzorientierter Reproduktion eine industriell vermittelte, marktorientierte Form der privaten Lebenserhaltung. Zweitens erfordert die Veränderung im Produktionsprozeß einen mobileren, qualifizierteren, flexibleren Arbeitertypus. Rolff/Zimmermann (1986) interpretieren "Kindheit im Wandel" als Umbau der Persönlichkeit in einem Prozeß generationenspezifischer Sozialisation. Sie verstehen Sozialisation als individuelle Aneignung von Kultur und verknüpfen über die Kategorie der Aneignung den sozio-kulturellen Wandel und den Wandel der Lebensverhältnisse mit dem Wandel des Sozialcharakters. Kultureller Wandel und Umbau der Persönlichkeit werden so aufeinander bezogen.
Zunächst wird durch die Etablierung der fordistisch/tayloristischen Akkumulationsmodi ein Identifikations- und Sinndefizit durch monotone, repetitive und hoch arbeitsgeteilte Produktion geschaffen, das zudem tendenziell nicht mehr durch Sinnstiftungen aus der Arbeiterbewegung (als politischer) oder aus naturwüchsigen, nicht marktvermittelten Sozialnetzen (als privater Ebene) kompensiert werden kann. Ich vermute, daß die konsumistische Orientierung, die sich ab den 60er Jahren durchsetzt, mit ihren Symoblisierungen von Waren, Design und Habitus usw., lebensweltliche Rituale und Symbolisierungen ersetzt, die mit dem traditionellen Modus der Lebenserhaltung verschwinden. Die Inszenierung von unterschiedlichen Lebensstilen durch Waren mit symbolisch aufgeladener Bedeutung ist nur vor dem Hintergrund der Einebnung sozialer Schichtengruppierung, deutlich unterscheidbarer sozialer Milieus und Orientierungen verständlich. Nur noch graduell unterscheiden sich heute die sozialen Gruppierungen, jedenfalls nicht durch die Ausschließlichkeit oder Spezifität des Konsums von alltäglichen oder luxuriösen Gütern.
Kontinuitäten und Bruch in der Sozialpolitik
Der Begriff "Fordismus" bezieht sich auf diese tiefgreifende Umstrukturierung von Gesellschaft und Staat. Er bedeutet zunächst ein Theoriekonzept, das Momente einer marxistischen Gesellschaftstheorie mit Gramscis und Poulantzas' Untersuchungen politischer Herrschaftsformen verbindet und eine neue Verknüpfung von Ökonomie und Politik erlaubt. Als theoretisches Ergebnis zeigt es die Modifikationen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, neue Formen staatlicher Tätigkeit und des Verhältnisses Ökonomie und Staat, obwohl die wesentlichen Charakteristika kapitalistischer Gesellschaft anscheinend beibehalten bleiben.
Fordismus bedeutet ferner eine spezifisch historische Form von Akkumulation und politischer Herrschaft. Die Einverleibung traditioneller Strukturen bedeutet akkumulationstheoretisch die Integration der Arbeitskraftreproduktion in den Kreislaufprozeß des Kapitals, die sich ab Ende der 30er Jahre in allen Industrienationen vollzogen hat. In der BRD setzte sich diese Entwicklung in der Periode des Wirtschaftswunders durch (Chassé 1988). Die charakteristische Akkumulationsstrategie von Massenproduktion und Massenkonsum bildete die ökonomische Basis des staatlichen Regulierungsmodells der Förderung des Wirtschaftswachstums als Vollbeschäftigung und die Absicherung der aus der Veränderung von Produktion, Verallgemeinerung des Lohnarbeiterstatus und der Auflösung der sozialen Milieus resultierenden Reproduktionsrisiken durch Sozialpolitik.
Dieser moderne Staat wird vor allem durch die institutionell-bürokratische Ausweitung der sozialen Infrastruktur gekennzeichnet, vor allem im Bildungsbereich (erhöhte Bedeutung außerfamiliärer Sozialisation und - auch beruflicher - Bildungsprozesse) und im Kernbereich der sozialen Sicherung (erhöhte Bedeutung von Statussicherung bei Risiken und Kompensation des Ausfalls der im traditionellen Sektor erbrachten Absicherung).
Teil des fordistischen Regulierungskonzepts war die Einbindung der Arbeiterschaft - auf der Grundlage der ökonomischen Konstellation dieser Epoche war die Integration der freigesetzten sozialen Gruppen des traditionellen Sektors in die Industriearbeit problemlos - durch Teilhabe am Wirtschaftswachstum einerseits, und die Absicherung der Lebensrisiken, die infolge des Wegfalls des traditionellen Sektors dringlich geworden war. Vor allem die sozialliberale Koalition setzt ab 1969 Reformen durch, die, wie z.B. die Lohnfortzahlung, die die ökonomische und soziale Benachteiligung der Arbeiter als soziale Gruppe beseitigten und so auch einen starken loyalitätsfördernden, integrativen Aspekt haben.
Die Integration des Reproduktionsbereichs erforderte zudem generell die Durchkapitalisierung und Durchstaatlichung (Hirsch 1980) dieser Lebensbereiche, wie z.B. am Ausbau des öffentlichen Verkehrswesens zugunsten des Automobils deutlich wird. Generell werden nun früher nicht-kapitalistische, private Lebensräume durch Waren- und Geldbeziehungen bestimmt und durch staatliche Interventionen auch kontrolliert.
Mit anderen Worten veränderte sich in der deutschen Nachkriegszeit die gesellschaftliche Grundlage von Sozialpolitik (die Organisation der Produktion, die Lebenssituation und die soziale Schichtung) einschneidend, tiefgehend und irreversibel, so daß ein qualitativer wie quantitativer Ausbau notwendig wird, um auf die veränderten Problemlagen und neuen sozialen Gruppen zu reagieren. Wenn ich recht sehe, lassen sich vier Entwicklungen unterscheiden.
1. Veränderte Arbeitsanforderungen, Wegfall der sozialen Milieus und soziale Differenzierungsprozesse machen einen breiten Ausbau des Bildungssystems und familienergänzender pädagogischer Hilfen (z.B. Vorschulerziehung, Kindergarten, Hort) notwendig. Die Bildungsreform begünstigt Enttraditionalisierungsprozesse. 2. Die kleiner gewordene Familie muß durch materielle Hilfen (Wohngeld, Kindergeld usw.) gestützt werden; freigesetzte soziale Gruppen des traditionellen Sektors müssen in die soziale Sicherung einbezogen werden (z.B. Bauern, Handwerker). 3. Dem gestiegenen materiellen Wohlstand und der sozialen Nivellierung von Lebenslagen entspricht die tendenzielle Aufhebung bzw. Verringerung von Statusunterschieden in der Sozialen Sicherung zwischen Arbeitern und Angestellten. 4. Die Reform des BSHG stärkt zwar die Rechtsstellung der Fürsorgeempfänger, behält aber die Grundprinzipien Subsidiarität, Bedarfsprinzip (Warenkorb) bei. Neu geschaffen wird die Hilfe in besonderen Lebenslagen, die als Reaktion auf die geänderten sozialen Problemlagen interpretiert werden muß.
Insgesamt läßt sich die sozialstaatliche Modernisierung als Anpassung an die neuen sozialen Bedingungen bei Beibehaltung der Grundstrukturen interpretieren. Die Grundstrukturen aber - Äquivalenzprinzip, Subsidiarität, Zweiteilung in Sozialversicherung und Sozialhilfe - bleiben von dem Gegensatzpaar relative Privilegierung auf der einen, Marginalisierung auf der anderen, bestimmt. Damit setzt sich ein spezifisches Hegemoniemodell fort, das auf die Integration des Kerns der Industriearbeiterschaft durch Sozialpolitik und die Deprivilegierung der nicht in regulären Arbeitsverhältnissen Stehenden setzt. Die Weichenstellung für die Fortschreibung des überkommenen Systems und gegen eine umfassendere Sozialreform wurde 1957 und später mit dem Vertrauen in die Marktkräfte begründet, eine Perspektive, die sich bis etwa 1970 bestätigte. Das Vertrauen darauf, daß die ökonomische Entwicklung Wohlstandssteigerungen für nahezu alle möglich mache, implizierte die Beibehaltung der grundlegend reaktiven und kompensatorischen Sozialpolitik und den Verzicht auf eine präventiv orientierte, eher mit der ökonomischen und sozialen Problemproduktion verzahnten Politikform. Hegemoniestrukturell entsprach dieser sozialpolitischen Festlegung die Ende der 50er Jahre beginnende korporative Einbindung der Gewerkschaften, so daß dieses Hegemoniemodell breite Schichten der Arbeiter und Angestellten über materielle und loyalitätsfördernde Gratifikationen einbinden konnte, während etwa Randgruppen oder an der Armutsgrenze lebende Rentnerinnen lange Zeit ausgeschlossen blieben. Ich kann diese Entwicklung hier nicht im einzelnen darstellen (vgl. Standfest 1979, Fuhrke 1976, Chassé 1988). Daß an der Grundstruktur der Sozialpolitik festgehalten wurde, war zunächst durch die ökonomische Entwicklung verdeckt, die nie gekannte Wohlstandssteigerungen mit sich brachte und so eher das auch in der Wissenschaft bis fast in die Mitte der 70er Jahre vorherrschende Bewußtsein begünstigten, soziale Probleme von materieller Armut seien überwunden (z.B. Strang 1970).
Der Sozialstaat reagiert in dieser Epoche auf die mit der Erosion des traditionellen Sektors quantitativ und qualitativ veränderten Problemlagen und Sozialstrukturen. Er baut familienergänzende Hilfen und Dienste aus, verbreitert die monetäre Absicherung von Risiken und bezieht die Gruppen ein, die mit der Industrialisierung des Reproduktionsbereichs dem Marktzusammenhang involviert werden.
Ab 1975 kommt das auf Massenproduktion und Massenkonsum basierende Akkumulationsmodell in die Krise, als die nachlassende Produktivität nicht mehr durch Rationalisierungen kompensierbar ist. Ökonomisch beginnen technologische Umwälzungen, hauptsächlich durch Einsatz neuer Informationsverarbeitungstechniken. Für diesen Kontext wichtig ist die Strategie der Flexibilisierung des Einsatzes von Mensch und Maschine, die zusammen mit dem Druck der länger anhaltenden Massenarbeitslosigkeit zu vergrößerten Ungleichheiten innerhalb der Beschäftigten führen. Die Auszehrung des Normalarbeitsverhältnisses hat hier ihre technologische Basis.
Die Krise des Fordismus markiert das Ende des Sozialstaats, wie er sich in den Nachkriegsjahren der BRD herausgebildet hat. Es entsteht ein neuer Akkumulationsmodus und dementsprechend ein neue Hegemoniemodus, dessen Strukturen jedoch noch relativ variabel sind. Auf diese Veränderungen der Akkumulationslogik, Branchenstrukturen und nicht zuletzt der Sozialstrukturen und Problemlagen bezieht sich Sozialpolitik, nun jedoch unter anderen hegemonialen Vorzeichen. Zunächst wird die Krise zu einer der Sozialdemokratie, weil das politische Konzept sozialer Sicherheit für alle unter der neuen Akkumulationslogik und den restriktiven Bedingungen für staatliche Intervention nicht mehr durchzuhalten ist. Die von ihr durchgeführten Leistungseinschränkungen betreffen bereits Teile der eigenen Anhängerschaft. Die nach dem Regierungswechsel forcierten Umstrukturierungen der Sozialpolitik vollziehen sich als Verstärkungen der Polarisierungen von Kern- und Randgruppen in der Bevölkerung, womit die ökonomische Tendenz verstärkt wird. Sozialpolitik kehrt nun ihre Logik gleichsam um: war sie zuvor von einer Homogenisierungstendenz bestimmt, die den sozialen Differenzierungsprozessen entgegenlief, wird nun eine Politik dominant, die das soziale Auseinanderfallen in ein Gemenge privilegierter Statusgruppen und marginalisierter Gruppen verstärkt. Die ökonomische Spaltung durch Flexibilisierung und Differenzierung der Arbeitsverhältnisse wird verlängert und verstärkt in der Form der Regulierung. Die Ausdünnung der sozialen Sicherung, die Individualisierung von Arbeitslosigkeit, gruppenspezifische Ausgrenzungsstrategien gegenüber Frauen, Jugendlichen und Alten, die Strukturierung der Arbeitslosigkeit auf sog. Problemgruppen (ältere Arbeitnehmer, solche mit gesundheitlichen Einschränkungen/Behinderungen, unqualifizierte) grenzen beachtliche Minderheiten aus und verbreitern zugleich das Reservoir des peripheren Arbeitsmarktes.
Einige Strukturen dieser Prozesse möchte ich hervorheben. Die technologische und arbeitsorganisatorische Wandlung des Produktionsprozesses erfordert Flexibilisierung auch in den Formen des Arbeitskräfteeinsatzes. Ein Nebeneffekt des Sozialstaatsumbaus ist, gerade durch den Abbau von Sicherheiten und Reproduktionsniveaus, diese Tendenz zu unterstützen. Der Wechsel der Politik, schlagwortartig von der Integration/Homogenisierung der 70er zur Spaltung/Marginalisierung der 80er Jahre, vollzieht sich ohne Veränderungen der Grundstruktur der Sozialpolitik. Die Instrumente werden nur in anderer Weise genutzt. Erst 1988 werden substantielle Schritte zur Reprivatisierung der Risiken von Gesundheit und Alter geplant, die an den Kern des bisherige Systems der Sozialen Sicherung gehen, weil sie die Allgemeinheit sozialpolitischer Versorgung, die bisher prinzipiell garantiert und nur durch die Lohnhöhe abgestuft war, aufgeben und wichtige Risiken oder Risikobereiche aus dem sozialpolitischen Rahmen herausnehmen. Es ist anzunehmen, daß durch diese Politik die ökonomische Differenzierung der Beschäftigtengruppen multipliziert und daß auch das materielle Reproduktionsniveau ungleicher wird. Die ökonomische und politische Entwicklung treibt mithin die Heterogenisierung der Sozialstruktur, der Arbeitsverhältnisse wie der sozialen Lagen voran in Richtung einer extremen Mischung divergenter Lebenslagen und zunehmender Umschichtung. Abzusehen ist eine Weiterführung der selektiven Ausdifferenzierung des Sozialstaats, durch die Kombination reduzierter und selektiverer Grundsicherung einerseits, privater Vorsorge für die Privilegierten andererseits.
Produktion des Sozialen von unten?
Die Skizze müßte deutlich gemacht haben, wie mit dem Ende des Fordismus die Basis einer einheitlichen Mobilisierung etwa gegen Sozialabbau und Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen zunehmend entfallen ist. Differenzierung der Lebenslagen, betriebliche Differenzierung und Flexibilisierung von Qualifikation, Arbeitszuschnitten (Neuschichtung der Beschäftigten/der Arbeiterschaft) und sozialpolitisch vermittelte Ausdifferenzierung haben die Einheitlichkeit der Interessen materiell unterhöhlt.
Die Differenzierung der Lebensgrundlagen habe ich oben bereits beschrieben; sie erschwert die Ausbildung und Artikulation kollektiver Interessen, mit anderen Worten sind die sozialstrukturellen Grundlagen kollektiver Interessenartikulation und -Organisation in Richtung einer strukturellen Differenzierung und Individualisierung verändert. Sozialpolitik von unten müßte versuchen, die partikularen Interessen und Bedürfnisse aufzugreifen, Basis- und Selbsthilfeorganisationen zu unterstützen und sie in Richtung einer politischen Interessenformulierung und -Organisierung weiterzutreiben. Zu fragen wäre, wie ein neuer historischer Block aufzubauen wäre, der Teile marginalisierter traditionellen sozialen Bewegungen könnte eine neue Kontrastkultur bilden. Marginalisierte Intellektuelle bilden z.T. schon neue soziale Milieus. Es fragt sich aber, ob und wie die baldige Herausbildung eines neuen Blocks möglich ist.
Eine ähnliche Entwicklung vollzieht sich auf der Ebene der Produktion; ich will das kurz skizzieren.
Die Krise des Fordismus bedeutete quer durch die Branchen die Hinwendung zu komplexer organisierter, in sich heterogener und flexibler Produktion. Das hat Folgen für die Interessenkonstitution und die Organisationsformen. Infolge der Reorganisation der Produktion sind die Arbeiter in geringerem Maß als zuvor in Großeinheiten konzentriert und sie unterscheiden sich zunehmend in ihrer Qualifikation, den Fertigkeiten und Arbeitserfahrungen. Ihre Interessen fallen entsprechend unterschiedlich aus. Der Bestand traditioneller Arbeiterschaft nimmt ab. Tendenziell wird es unmöglich, traditionelle gewerkschaftliche Politik im Sinne der Zusammenfassung von Interessen in allgemeinen Forderungen zu machen.
Zudem entstehen wachstumsstarke neue Berufssparten außerhalb des bisherigen gewerkschaftlichen Rekrutierungsfelds, und die Ausdehnung neuer Industrien und Branchen, die von vornherein flexibilisiert und dereguliert organisiert sind, läßt den Bereich traditionell gewerkschaftlicher Organisierung schrumpfen. Durch diese Entwicklungen verkleinert sich der ökonomische Bereich, in dem traditionelle industrielle Beziehungen (kollektive Verhandlungssysteme) vorherrschen.
Die oben erwähnten sozialstrukturellen Veränderungen in der Zusammensetzung der Erwerbsbevölkerung haben ebenfalls die Bedingungen gewerkschaftlicher Organisation untergraben, deren Ausbreitung und Festigung in einer Zeit lagen, wo Lebens- und Arbeitsbedingungen weitgehend ähnlich für die meisten Arbeiter waren und die Erhaltung einer politischen Subkultur begünstigten. Auf dieser Grundlage konnten die Interessenorganisationen Belegschaftsforderungen aggregieren und eine tendenziell solidarische und egalitäre Politik betreiben, wobei die Loyalität zur Interessenvertretung eher auf der Klassensituation beruhte als auf erbrachten Dienstleistungen. Der derzeitige Differenzierungsprozeß erfaßt aber sowohl die Arbeitsfelder (Berufsdifferenzierung, Qualifikation und Arbeitserfahrungen) wie Lebensstile und persönliche Bedürfnisse. Mit der Differenzierung der Arbeitszuschnitte und -stile vervielfältigen sich auch die Interessen, Bedürfnisse und die Vorstellungen von Interessenvertretung, und die Gruppen gewinnen an Bedeutung, die nicht zum herkömmlichen Kern gewerkschaftlicher Organisation gehören. Auch vergrößert sich der Anteil der Lohnabhängigen (das können selbstverständlich auch Angestellte sein) mit irregulären Arbeitsverhältnissen. Arbeitslose, Teilzeitbeschäftigte, oder Leute, die zusätzlich selbständig tätig sind usw.; diese Gruppen differieren in sehr unterschiedlichem Maß vom normalen Lohnarbeitsverhältnis.
Auch auf der subjektiven Seite vergrößert sich das Bedürfnis nach Flexibilität. Die Forderungen nach Teilzeitarbeit in vielen Formen, nach weniger Wochenarbeitszeit, nach Perioden der Nichtarbeit usw. stehen zwar oft gegensätzlich zum Flexibilitätsverständnis der Kapitale, meist jedoch genauso auch zur herkömmlichen Tarifpolitik der Gewerkschaften.
Als allgemeine Konsequenz läßt sich formulieren, daß sich die Bedingungen sowohl betrieblich / gewerkschaftlicher wie "privater" / sozialer Interessenkonstitution und -artikulation wesentlich verändert haben. Generell ist es heute schwieriger geworden, Interessen und Forderungen zu generalisieren und allgemeine Interessen (im Sinne etwa von Klasseninteressen) zu formulieren. Die Differenzierung von Interessen und Bedürfnissen muß sowohl im Bereich der Lebenssituation wie im betrieblichen Bereich als neue Basis genommen werden. Diese Entwicklung bedeutet allerdings nur eine Begrenzung, nicht das Ende, zentralisierter politischer Interessenvertretung; die Reichweite, Wirksamkeit und die Stabilität korporatistischer Systeme werden eingeschränkt und ihnen treten neue Formen und institutionelle Ergänzungen zur Seite.
Das bedeutet zunächst, daß Organisierung und Mobilisierung sich auf die Punktualität, Situationsgebundenheit und Partikularität von "Bewegung" einlassen muß. Im betrieblichen Bereich, wo die Differenzierung der Arbeitssituation meist zu einer Aufwertung der Bedeutung der Arbeit geführt hat, die Arbeitsidentität stärker mit der spezifischen persönlichen und betrieblichen Situation verknüpft wird, muß eine Interessenvertretung generell gruppen- und betriebsspezifischer ansetzen und das instrumentelle Verhältnis zu Interessenvertretungen berücksichtigen. Nötig scheint also ein flexiblerer Typus von Interessenvertretung, der die unterschiedlichen Gruppen jeweils spezifisch vertritt, die Beschäftigten des prekären Markts durch dezentralisierte Organisationsstrukturen und spezifische Dienste anspricht und einbezieht, was nur durch die Entwicklung effektiver Strategien von Interessenvertretung für ein breites Spektrum unterschiedlicher Arbeitsbedingungen möglich werden wird und bei aller Differenzierung die Vermittlung betrieblicher und lokaler Probleme mit politischen Forderungen und Problembereichen leisten kann.
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