Im freien Flug übers Handgemenge

Über Selbsthilfe und Vergesellschaftung im Reproduktionsbereich

Selbsthilfe - so einfach wäre es doch, einfach ganz hinausgehen aus den Reglementierungen und der Erstarrung. Immer dieser Wissende sein müssen, der abschätzt. Der sich aus dem Moment des Lächelns sofort zurück zum distanziert Übermächtigen zwingen muß. Der eingezwängt zwischen Theorie, Rechtsanspruch, Dienstanweisung und Fallzahl sich selbst etwas tun und werden spürt, was er nicht will.

Doch der Wunsch nach dem Außerhalb enthält eben nicht nur kritische Erfahrungskraft und Utopien. Und er betritt auch nicht unberührtes Gelände, sowie er selbst nicht unberührt ist vom Handgemenge, dem er zu entkommen versucht.

Deshalb ist der kritische Zusammenhang, die Kälte der Einschätzung vonnöten. Deshalb auch der (theoretische) Gang entlang des inneres Bandes jenes Handgemenges, um am Ende die Intention des Wunsches mit deutlicher Richtung und Stärke durchsetzbar zu machen - nicht, um ihn zu verraten.

1. Selbsthilfe und Geschlossene Unterbringung - Zwei Seiten einer Krise

Selbsthilfebewegung - Nichts neues ?

Die Forderung nach Selbsthilfe scheint fast so alt wie die Sozialarbeit selber. Doch die. die mit dem Begriff argumentierten, gaben ihm jeweils ihren eigenen Sinn. Von Anfang an wurde er von den Konservativen gefüllt mit dem Idealbild des freien Bürgers, der selbstverantwortlich für sein erfahrenes Elend sich auch selbst helfen sollte. Zweck dieses ach so ehrenvollen Ansinnens war und ist es immer, den Staat von sozialen Aufgaben zu entlasten und das einzelne Individuum zusätzlich zu seiner Armut o.ä. noch zu bestrafen: "Helf Dir doch selber - bist ja auch selber schuld!".

Neben dieser klassisch-liberalen Variante ist Selbsthilfe auch wesentlicher Bestandteil der christlichen Soziallehre. Deren Basis ist nun nicht der freie Bürger als Individuum, sondern die Gemeinschaft der christlichen Familie: Reproduktionsaufgaben sind nicht Aufgaben des Staates, sondern - im Subsidiaritätsprinzip auf den Begriff gebracht - der privat-gemeinschaftlichen Organe christlicher Nächstenliebe. In beiden Traditionen ist Selbsthilfe ein Kampfbegriff gegen den Sozialstaat. (1)

Hilfe wird von jeher als Zweck jeder sozialpädagogischen, medizinischen o.ä. Veranstaltung deklariert. "Hilfe zur Selbsthilfe" ist traditionelles Selbstbild der Sozialarbeit. Hierbei wird in Rechnung gestellt, daß bestimmte Institutionen es übernehmen, den betroffenen Individuen Hilfe angedeihen zu lassen, damit sie ihre Rolle in der Geschichte zukünftig selbständig - d.h. aus der Pflege der Institution entlassen - ausfüllen können. Auch in diesem traditionellen Verständnis der Sozialarbeit liegt die Schuld bei den Betroffenen. Sie sind defizitär gegenüber herrschenden Verhaltensnormen und Verhältnissen. Entsprechend ist auch die Qualität des Zugriffs, dem das "nichtnormale" Individuum ausgesetzt ist.

Dieser Hilfe zur Selbsthilfe geht es nicht um die Herstellung von Selbstbewußtsein - im Sinne des Wissens um die eigene Geschichte, dem eigenen gesellschaftlichen Ort und um die Verbesserung der eigenen Lage -, sondern um die Herstellung arbeitsfähiger und arbeitswilliger Subjekte. Und wer nicht funktionieren kann oder will, für den heißt Hilfe gleich Ausgrenzung und Einschließung.

Das in neuester Zeit gegebene Verständnis von Selbsthilfe ist ein anderes, hat aber insofern mit den "alten" Varianten zu tun, als die existierende Selbsthilfebewegung eine Reaktion auf die Hilfe der Institutionen ist. Die modernen Wurzeln dessen, was heutzutage alles unter der Rubrik "Selbsthilfe" (2) aufgeführt wird, reichen zurück in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen Ende der sechziger Jahre. Da wurden erstmals lautstark Alternativen zum etablierten bürgerlichen Alltag gefordert: Kommune statt bürgerlicher Kleinfamilie, selbstverwaltete Jugendzentren, selbstorganisierte kollektive Kindererziehung, Schülerläden, Frauengruppen, Bürgerinitiativen, Heimkampagne ...

Diesen Bewegungen ging es darum, ausgegrenzten gesellschaftlichen Interessen zur Durchsetzung zu verhelfen, sich ohne staatliche Bevormundung Öffentlichkeiten zu schaffen, autoritäre Verhältnisse der staatstragenden Institution Familie aufzulösen, Herrschaftsbeziehungen auf jeder Ebene anzugreifen, als unterdrückend erkannte und erfahrene Institutionen abzuschaffen. Diejenigen Initiativen, die im Sozialbereich entstanden und sich gerade gegen die staatlich bzw. von Verbänden organisierte Hilfe richteten, hatten als einen wesentlichen Kritikpunkt die Kritik an der Fachlichkeit der Institutionen. Die Fachlichkeit wurde in ihrer politischen Herrschaftsfunktion entlarvt, ebenso die wissenschaftlichen Begründungen für derartige institutionalisierte Eingriffe als herrschaftsstabilisierend kritisiert.

Dieses Moment der Auseinandersetzung mit dem Herrschaftsverhältnis, das sich in professionalisierten Institutionen äußert, hatten eigentlich alle Initiativen, die in einen Konflikt mit staatlichen oder "freien" Trägern gerieten. Denn dem geäußerten Unmut, den artikulierten Interessen wurde schnell mit dem Argument der Sachlichkeit und Fachlichkeit versucht, den Garaus zu machen: Was versteht der Heimzögling schon von Therapie und was verstehen Bewohner schon von den diffizilen Berechnungen und Schätzungen der Verkehrsplaner?

Selbsthilfe, Selbstorganisation in diesem Sinne war auch ein Kampfbegriff, war Forderung nach Selbstbestimmung über gesellschaftliche Beziehungen, war Forderung nach Entfaltung von Individualität und Solidarität statt formaler Gleichbehandlung und Konkurrenz. Selbsthilfe und Selbstorganisation wurde begriffen als Mittel zur Herstellung einer herrschaftsfreien Gesellschaft, sie war Moment zur Überwindung der abgesonderten herrschaftlichen Institutionen. Es ging darum, gesellschaftliche Probleme, die zu Problemen der Einzelnen geworden waren, der Behandlung spezialisierter Institutionen zu entziehen und die Qualität des institutionalisierten Zugriffs praktisch zu kritisieren. Das durch die Institution zwar öffentlich aufgegriffene, aber dennoch privatisierte, individualisierte Problem sollte in die gesellschaftliche Auseinandersetzung zurückgeholt werden und der Verfügung der Betroffenen unterliegen.

In den siebziger Jahren entstanden in den Bereichen gesellschaftlicher Reproduktion noch mehr Selbsthilfeinitiativen, die sich als Alternative zur staatlichen Verwaltung von gesellschaftlichen Konflikten verstehen. Es zeigt sich heute eine bunte Palette derartiger Projekte; oft nehmen sie in den Großstädten schon den Charakter einer alternativen Infrastruktur an, sind aber in ihrer sozialen Breite noch recht schmal. Teils begreifen sie sich noch in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang politischer Auseinandersetzung, teils haben sie diesen Anspruch aufgegeben oder nie gehabt: Selbsthilfe heißt dort oft auch Rückzug auf sich selbst: man verhilft sich selber zu einer alternativen Insel. Ein Teil dieser Selbsthilfebewegung hat ihren strategischen Begriff in der Autonomie gefunden. Es geht ihr nicht, wie den Bewegungen Ende der sechziger Jahre darum, politische Kräfteverhältnisse zu verändern, also z.B. die staatliche Finanzierung eines Jugendhauses zu fordern und Selbstverwaltung durchzusetzen. Dieses Moment der politischen Formulierung und Durchsetzung neuer Bedürfnisse fehlt ihnen. An seine Stelle tritt das Ziel der Autonomie außerhalb des staatlichen Bereichs, außerhalb der "Verwalteten Welt".

Das Kritikpotential der Selbsthilfebewegung erreicht auch die veröffentlichte Meinung. Und nicht nur die, die darin den Auszug von Jugendlichen und Intellektuellen in die "zweite Kultur" bejammert. Auch die sogenannten Fachöffentlichkeiten, ehemals der Tummelplatz von Spezial- und Geheimwissenschaftlern, wurden vom frischen Wind der Selbsthilfebewegung aufgeschreckt. Die Debatte geht vom "Vorsicht Arzt!" eines J. Hackethal über Romantizismus- und Irrationalismusvorwurf bis zur Helfer-Syndrom-Diskussion in den sozialen Berufen.

Die Fachöffentlichkeit ist wie die veröffentlichte Meinung verunsichert. Verunsichert von der Tatsache, daß weder die Helfer noch die helfenden Institutionen fraglos als kompetent akzeptiert werden. Das Wissen, daß deren Macht garantiert, wird nicht mehr von allen geteilt.

Doch in diesem Prozeß der Ausweitung und Ausbreitung von Kritik an herrschenden Institutionen droht auch einiges verlorenzugehen. Es besteht nicht allein die "Gefahr", daß das Wissen der Experten nicht mehr so gefragt ist -das wäre für uns überhaupt kein Grund, in Tränen auszubrechen. Sondern es besteht die Gefahr, daß das in den kämpferischen Anfängen existente Wissen um den gesellschaftlichen Prozeß, der sowohl die abgesonderten Institutionen wie auch die Gegenbewegung hervorbringt, verlorengeht bzw. daß unzureichende und falsche Erklärungen angeboten werden.

Dieser mögliche Verlust bekümmert uns nicht deswegen, weil unsere theoretische Besserwisserei eine Abfuhr erhalten könnte. Uns geht es um die Wiederherstellung des Bewußtseins über den gesellschaftlichen Konflikt und seine Perspektiven im Reproduktionsbereich. Kernproblem für uns ist die gesellschaftliche Qualität der institutionalisierten Hilfe, die Frage, wie Qualität und Absonderung der Institution von der Gesellschaft hervorgebracht werden und welche Widersprüche sie in sich bergen.

Am Beispiel von Ilona Kickbuschs "Gedanken zu Selbsthilfegruppen" (Von der Zerbrechlichkeit der Sonne, Info Sozarbeit 28/29) wollen wir die Unklarheiten über den gesellschaftlichen Zusammenhang verdeutlichen.

Die Herrschaft der falschen Doktoren

Ilona Kickbuschs Anliegen ist es, Selbsthilfe als Kritik an der Herrschaft von Experten zu erklären. Für I.K. ist eine Hierarchie in unserer Gesellschaft zentral: die von Wissenden und Unwissenden. Sie geht davon aus, daß in der Geschichte eine "Kolonisation unseres Alltags" eingetreten ist. Ursache dieser Kolonisation ist der Aufstieg der Experten:

"In langen Erziehungs- und Unterwerfungsprozessen haben wir gelernt, uns sagen zu lassen, wann wir Hilfe brauchen und worin sie bestehen soll. Der größte Erfolg dieses historischen Enteignungsprozesses war, daß wir gelernt haben, die Herrschaft von Experten über Laien als Hilfe zu begreifen, als Liebesgabe an Unwissende." (3)

Abgesehen davon, daß es schwer fällt zu glauben, ein Patient begreife die ärztliche Behandlung oder die therapeutische Behandlung als Liebesgabe an einem Unwissenden, suggeriert I.K. mit dem Kolonisationsbegriff eine historische Situation, in der das Wissen, das heute auf Seiten der Experten ist, irgendwann einmal allgemein verbreitet und gewußt war. Denn Kolonisation heißt, daß der Bevölkerung, die kolonisiert wird, ihr Land enteignet wird, daß die Produkte enteignet werden, daß die Produktionsweise nach den Interessen der Kolonisatoren umstrukturiert wird, und daß das Bewußtsein und die Kultur der unterworfenen Menschen von der Kultur der Eroberer traktiert werden.

Es hat also in der Geschichte ein Enteignungsprozeß stattgefunden und eine herrschaftliche Arbeitsteilung zwischen Wissenden und Unwissenden war das Ergebnis. Doch welches sind die Ursachen der Enteignung, was war der Inhalt des Enteigneten? Besteht die Herrschaftlichkeit nur darin, daß die einen Wissen haben und die anderen nicht?

Uns scheint, daß der Prozeß der Enteignung von Kompetenzen, die Kolonisation von I.K. überhistorisch-ungesellschaftlich begriffen wird, obwohl sie sich gerade auf Geschichte beruft: Es war einmal etwas Ursprüngliches, Ganzheitliches, das wurde zerschlagen von den Experten-Kolonisatoren: sie nehmen sich die "Macht der Definition", die "Macht der Ausführung" und die Unwissenden haben das Nachsehen. Es deutet sich ein formales Schema dessen an, was Kolonisation bedeutet. Doch I.K. sieht auch noch "andere Herrschaftsformen ökonomischer und politischer Natur", die unsere Existenz bestimmen. Sie verdeutlicht es im Anschluß an P. Freire, der davor warnte, der Herrschaft des Imperialismus die Herrschaft der Experten folgen zu lassen. Selbst wenn I.K. feststellt, daß solche Herrschaftsformen ökonomischer und politischer Art mit "dem als Liebe und Fürsorge getarnten Entmündigungsprozeß" (4) "eng verflochten" sind, so sind bei ihr ökonomisch-politische Herrschaft und Expertenherrschaft keineswegs Resultat einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis. Sie können es bei ihr auch nicht sein, solange sie die Kolonisation als zugrundeliegenden Prozeß begreift.

Der Begriff der Kolonisation unterstellt nämlich die Unterwerfung und Veränderung eines Bereichs unter eine äußerliche, fremde Macht. Der Unterwerfungsprozeß scheint völlig extern zu sein, d.h. nichts mit der "ursprünglichen" Realität zu tun zu haben. Der Begriff beinhaltet zusammen mit dem der Definitions-Macht die Vorstellung, Wirklichkeit werde durch einen sprachlichen Zuschreibungsprozeß (in diesem Fall durch die Experten) konstituiert. Sprache und Symbolisierung reflektieren zwar die gesellschaftlichen Verhältnisse, doch ist dies eben noch ein Riesenunterschied zur Produktion der gesellschaftlichen Realität. Kolonisation ist das Struktur-Modell gesellschaftlicher Entwicklung von Experten-Herrschaft. Doch der gesellschaftliche Inhalt dieser Herrschaft taucht nicht auf, weshalb I.K. auch ohne Bauchschmerzen die aztekische Gesellschaft (in der "der wahre Doktor (...) ein Poet (ist)", der Leben mitteilt und es ermöglicht, daß "andere Weisheit in ihren Gesichtszügen hervorbringen") mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft auf eine Vergleichsstufe stellt, und in den Experten der bürgerlichen Gesellschaft die "falschen Doktoren" der Azteken wiederfindet, die Gesichter zerstören und andere die Gesichter verlieren lassen. (5)

I.K. ist wirklich eine Soziologin, die vergleichende Ethnologie betreibt und formale Strukturen entdeckt, wobei ihre immer vorausgesetzte Struktur die von der enteigneten alten, ursprünglichen Ganzheit und dem fremden, herrschaftlichen Neuen ist. Indem sie alles unter dem Blickwinkel vom Gegensatz der Wissenden und Unwissenden betrachtet, geht ihr völlig verloren, daß in der bürgerlichen Gesellschaft andere Verhaltensanforderungen an die Subjekte bestehen als in der aztekischen - weshalb die bürgerlichen Experten auch anders agieren als die aztekischen.

Und als Maßstab der Kritik am bürgerlichen Expertentum kann genauso wenig das Idealbild der Azteken wie das Ideal des ehemals "ganz gewußten" genommen werden. Für I.K. ist es auf jeden Fall konsequent, wenn sie in allen Selbsthilfebewegungen die "Utopie einer authentischen Selbsthilfe" als die treibende Kraft sieht. Für Frauengruppen z.B. schreibt sie:

"Selbstuntersuchung, Selbsterfahrung, Selbsthilfekliniken, das Studium volksmedizinischer Hausmittel und Heilmethoden, die Praxis anderer Behandlungsformen: all diese Unternehmungen waren Teil einer Suche nach einer sanften, ganzheitlichen Medizin, die es ermöglicht, Kenntnisse zu teilen, Entscheidungen selbst zu treffen, Risiken abzuwägen und sich gegenseitig zu helfen. Entkolonialisierung also als ein Selbsthilfe-Lernprozeß, als langsame (oft mühsame) Entdeckung der Körper und Köpfe, verlorener und neuer Kompetenzen, als unverwaltete Erfahrung in einer verwalteten Welt." (6)

Hier ist ihr selber plötzlich klar, daß es das Ganzheitliche-Ursprüngliche nicht gibt, sondern daß die Frauen sich ein anderes Wissen in der Auseinandersetzung mit dem Expertenwissen, der Expertenpraxis erst erarbeiten müssen. Denn bestimmte Teile von früher vorhandenem Wissen sind verschwunden, und es ist doch die Frage, ob sie sich überhaupt sinnvoll rekonstruieren lassen. Die Tatsache, daß sie einer anderen Zeit entstammen, wird auch nicht richtig reflektiert. Die Reflexion auf die vorbürgerlichen Verhältnisse nimmt insofern romantische Züge an, als sie nicht untersucht, wo eben auch in diesen Verhältnissen Herrschaft existierte. Gab es nicht auch beim Hexen-Wissen, beim religiösen Wissen, beim Volks-Wissen eine Arbeitsteilung von Wisssenden und Unwissenden? War die Qualität dieses vorbürgerlichen Wissens etwa herrschaftsfrei und emanzipatorisch? Die Kritiker der bürgerlichen Experten scheinen zu vergessen, daß Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen auch in der mittelalterlichen, feudalen Gesellschaft bestanden - nur hatten sie andere Formen als die bürgerliche Herrschaft.

Die Probleme, mit denen es die Betroffenen - egal, ob Frauen, Patienten oder "Sozialfälle" - zu tun haben, sind doch nicht die gleichen geblieben! Es kann doch auch nicht darum gehen, daß sich die Leute "bloß" selber helfen, selber über Krankheiten, Definitionen etc. Bescheid wissen, sondern es geht doch darum, im selbstbestimmten Lernprozeß, Erfahrungsprozeß, in selbstbestimmter Praxis die gesellschaftlichen Ursachen anzugehen. Die liegen dann eben nicht nur in der "Expertokratie". Oder sind die Behandlungsweisen von Arbeitsmedizinern, Betriebsärzten schuld an krankmachenden Arbeitsbedingungen?? Die Experten erfüllen mit ihrem bestimmten Eingriff (Gesund = arbeitsfähig) eine herrschaftliche Funktion innerhalb eines gesellschaftlich produzierten Herrschaftszusammenhangs.

Und genau dieser Bezug auf die gesellschaftlichen Ursachen der Probleme, derer sich die Experten bemächtigen, geht I.K. verloren. Dies wird noch deutlicher, wenn sie in ihren "soziologischen Entdeckungen" (7) feststellt, daß ca. 60 - 85 % aller Gesundheitsleistungen außerhalb des professionellen Systems erbracht werden (Selbstdiagnose, Selbstbehandlung). Hier rächt sich die formale Trennung zwischen Laienbehandlung und Expertenleistung besonders, denn die Qualität der Laienleistung dürfte wohl genau dem "medizinischen Blick" (8) der Experten entsprechen. Dies gesteht I.K. selber zu:

"... daß die Laien in den meisten Fällen ebenfalls nur die Symptome ihres gestörten Wohlbefindens kurieren und nicht deren Ursachen angehen. (...) Tablette rein, Symptom verschoben." (9)

Von der institutionellen zur privaten Abgeschlossenheit

Einen weiteren Schritt zur Entpolitisierung der Diskussion um Selbsthilfe, und -Organisation tut I.K. indem sie die in der bürgerlichen Gesellschaft sich privat vollziehende Reproduktion der Individuen (Hausarbeit, Erziehung mit Illichs Begriffen der "Eigenarbeit" und "Schattenarbeit" zu fassen versucht.

"Schattenarbeit" ist Illichs Begriff für die im privaten Rahmen geleistete Arbeit zur Reproduktion der Arbeitskraft, die zwar gesellschaftlich notwendig ist, aber privat geleistet wird: all das, was v.a. Frauen im häuslichen Bereich leisten. Gegenüber dieser notwendigen, unbezahlten Arbeit setzt Illich die "Eigenarbeit" als "die soziale Subsistenz im Erleben, Erfahren und Erleiden der Gegenwart" (10). In dieser so verstandenen Reproduktionsarbeit hätten die Betroffenen Definitions- und Ausführungsmacht. Im Begriff der Eigenarbeit offenbart sich wiederum, daß der Kern einer so verstandenen Emanzipation "Autonomie" und "Unkontrollierbarkeit" ist, die einen gesamtgesellschaftlichen Bezug lediglich negativ, im Abschied-Nehmen vom Moloch der verstaatlichten, verwalteten Welt herstellen können.

In diesem Konzept der "Eigenarbeit" wäre die Reproduktion immer noch getrennt, ausgegrenzt von der Produktion und sie wäre immer noch private Arbeit - ebenso wie die "Schattenarbeit" in der bürgerlichen Gesellschaft notwendig private Form hat. Ein Aufeinanderangewiesensein von (Ver) Wert(ungs)orientierter Produktion und "gebrauchswertorientierter" Reproduktion in privater Form - weil z.B. kleine Menschen nicht gemäß der Logik der Fließbandproduktion versorgt werden können - ist weder bei Illich noch bei Kickbusch erkannt. Konsequenterweise wird weder die private Form der Reproduktion noch die Abtrennung der Reproduktion selber einer Kritik unterworfen.

Politisch-strategisch bleibt dann nur noch die "authentische Selbsthilfe", die von den ureigensten Interessen ausgeht - an die Überwindung der privaten Form der Reproduktion und der wertmäßigen Form der Produktion wird nicht einmal mehr gedacht. Aber gerade auch im Veröffentlichen, im Zurückgeben der im Rahmen privater Reproduktion auftauchenden Konflikte in die Gesellschaft liegt das politische Moment: gesellschaftliche Probleme werden wieder als solche erkennbar.

Bei Kickbuschs "Gedanken zur Selbsthilfe" werden diese Probleme und Konflikte allerdings von einem Extrem der Gesellschaft zum anderen getrieben: Aus den von spezialisierten Experten betriebenen Institutionen führt der befreiende Selbsthilfeweg in die Privatheit der selbstgeleisteten Reproduktion.

Zusammenfassend sind die Kritikpunkte an Ilona Kickbusch's Gedanken folgende: Der gesellschaftliche Prozeß der Entstehung spezialisierter Institutionen der Bildung, Medizin, Sozialarbeit wird zu einer Eroberung der Definitionsmacht durch die Experten (Kolonisation) verfälscht. Dem in den Experten aufgeteiltem Wissen steht ein ganzheitlich-ursprüngliches Wissen gegenüber.

Die Praxis der Experten, der Zugriff der Institutionen wird nur noch überhistorisch kritisiert. Die herrschende Praxis kann nicht mehr vermittelt werden mit den herrschenden Verhältnissen und Verhaltensanforderungen.

Der Bezug auf die gesellschaftlichen Ursachen der von den Experten behandelten Probleme geht theoretisch verloren, indem Selbsthilfe im Bereich der privaten Reproduktion belassen wird - obwohl die Praxis von Selbsthilfegruppen die Tendenz hat, diese privaten Formen zu überschreiten.

In Ilona Kickbuschs Gedanken ist zwar ein gesellschaftlicher Konflikt beschrieben, nämlich die Selbsthilfebewegung als Reaktion auf die Vergesellschaftung von Reproduktionsarbeiten. Die strategische Lösung wird allerdings außerhalb der Gesellschaft, in authentischen, ureigenen Bereichen gesucht. Der Vergesellschaftungsprozeß wird - s. Kolonisation - von I.K. als totaler, hermetischer gefaßt: in der Praxis der Experten und Institutionen gibt es keine Konflikte, keine Widersprüche mehr. Was bleibt, ist das Entrinnen ins "Ureigene". Die reale Geschichte des Reproduktionsbereichs - auch daß es Reformen gab - kann so nicht erklärt werden.

Für uns erklären sich Selbsthilfe und die Entwicklung der Institutionen selber als Ausdruck von Krisen und Widersprüchen der Vergesellschaftung von Reproduktion. Wie sich solche Widersprüche als Reform und Repression in der Geschichte einer Institution äußern, wollen wir am Beispiel der Heimerziehung diskutieren.

Das Beispiel Heimerziehung: Politische Kritik + fachliche Verzweiflung

Heimerziehung greift als gesellschaftliche Institution genau da ein, wo die Familie den Sozialisationszweck für die nachwachsende Generation nicht erfüllt. Sie wird immer dann als pädagogische Maßnahme angewandt, wenn die Verhaltensweisen der Jugendlichen und Kinder die Toleranzbreite der bürgerlichen Normalität verlassen.

Die Heime waren Zucht- oder Verwahranstalten für deklassierte Jugendliche. Sie waren nach außen hin abgeschlossen und entwickelten eine eigene Heim-Welt, die vom Kasernenmodell bis zur ideologischen Nachahmung der bürgerlichen Familie reichte. Im Unterschied zur Familie jedoch sind und waren Heime als totale Institution zu begreifen. Ein System von Sanktionen setzt innere Rollen, Regeln, Hierarchien; von den Einsitzenden wird der Aufbau einer institutionsgemäßen Identität abverlangt, der Saulus soll sich im Heim zum Paulus wandeln.

Innerpädagogische und gesellschaftspolitische Kämpfe um diese institutionalisierte Form bürgerlicher Pädagogik gab und gibt es seit ihrer Existenz.

Die für die neuere Entwicklung in der Heimerziehung maßgebliche Auseinandersetzung in der BRD fand Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre statt. 1968 und 1969 werden in Berlin, Hessen und Bayern vor allem von Studenten aus den sozialpädagogischen Ausbildungsbereichen scharfe Kritiken an der skandalösen Praxis in bundesdeutschen Erziehungsheimen formuliert. Diese Kritik entwuchs keineswegs nur der fachlich-immanenten Auseinandersetzung um Erziehungskonzepte, sondern war Teil der von der außerparlamentarischen Opposition verfolgten Randgruppenstrategie: Die spätkapitalistische Gesellschaft sollte von ihren Rändern her, von den am meisten Deklassierten und Verelendeten umgewälzt werden. Der Schritt zur Heimkampagne war nur konsequent, denn in den Heimen ließen sich genügend junge Menschen dieser Randgruppen finden.

Die Heimkampagne und die mit ihr verbundene öffentliche Diskussion breitete sich über die Initiatoren und direkt Angesprochenen rasch aus. Auch die Fachbasis der in der Jugendhilfe Tätigen wurde handfest in die Auseinandersetzung einbezogen. Die Bewegung in diesem Bereich erreichte eine solche politische Kraft, daß der 4. Deutsche Jugendhilfetag in Nürnberg durch die Sozialistische Aktion vom Forum der Jugendhilfebürokraten in ein Tribunal gegen die bundesdeutsche Jugendhilfepraxis und die zugrundeliegenden kapitalistischen Verhältnisse umfunktioniert werden konnte. (11) Von Seiten der Betroffenen und der Linken war die staatliche Bürokratie, die Praxis der repressiven Verwaltung der Probleme Jugendlicher massivem Druck ausgesetzt.

Aber auch im Innern der pädagogischen Öffentlichkeit und der staatlichen Jugendhilfebürokratie kriselte es. Die Praxis der Heimerziehung war einer immanent-fachlichen Kritik ausgesetzt. Der wesentliche Kritikpunkt der gängigen Fürsorgepraxis ergab sich aus der Analyse der Dysfunktionalität der Heimerziehung. Es wurde zum sozialwissenschaftlichen Allgemeinplatz, daß die Institution Heim ihren Zweck nicht erfüllen kann. Keineswegs erzog man in den Heimen Zöglinge zu re-sozialisierten, verantwortungsbewußten Staatsbürgern und Arbeitskräften, sondern man stellte fest: Die Heime produzieren noch mehr Abweichungen. Die Kriminalitätsraten als Gradmesser der pädagogischen Vernunft zeigten Ineffektivität an: Aller pädagogischen Traktierung zum Trotz sah man die Realität der Heimkarrieren vom Waisenhaus ins Zuchthaus.

In der pädagogischen Theorie wurde der Charakter des Heimes als totale Institution, die Ausschließung der Deklassierten als Problem definiert: Die Insassen würden in dieser Institution zwar lernen, in den Heimverhältnissen zu funktionieren, aber nicht mehr draußen auf den verschiedenen Märkten der Gesellschaft.

Wie gesagt, das Problem war definiert - die Lösung stand noch aus. Wobei als tiefergehender Grund der Dysfunktionalität noch keineswegs erkannt war, daß der klassische autoritäre, starre Charakter, der im Heim erzogen werden sollte, von den kapitalistischen Märkten draußen gar nicht mehr so gefragt war (vgl. "Abschied vom Calvinisten").

Die Zeichen standen gesellschaftspolitisch auf Reform: Die Basis drückte und der Staat konnte die von ihm verübte Pädagogik nicht einmal mehr mit statistischen Erfolgen legitimieren.

Die Reformruine: Therapie

Es mußte auch von offiziellen Stellen eingestanden werden, daß die Jugendhilfepraxis, wie sie sich auf das 1924 verabschiedete Reichsjugendwohlfahrtsgesetz stützte, obrigkeitsstaatliche Tendenzen enthielt. Wie die Reform letztlich aussieht, haben wir inzwischen erfahren. Die Forderungen der Basis wie der kritischen Fachöffentlichkeit wurden immer mehr zu rhetorischen Phrasen verdünnt, so daß wir uns eigentlich wundern müssen, daß die CDU/CSU dem Kabinettsentwurf zum neuen Jugendhilferecht immer noch nicht zugestimmt hat.

Eine am Inhalt der Reformdiskussion gemessene realistische Veränderung hätte bedeuten müssen, materiell und personell folgende Bereiche der Jugendfürsorge zu erhalten bzw. zu verbessern:

(Bei folgenden Begriffen sollte der/die Leser(in) unterscheiden zwischen dem kritisch gemeinten Gehalt und dem, was im staatlich-bürokratischen Prozeß daraus geworden ist!)

Ambulante Beratung, offene und halboffene Erziehungshilfen, alternative Erziehungshilfen zur Heimerziehung in Jugendwohngemeinschaften, alternative Erziehungskonzepte im Heim, die sich an den Lebensinteressen und -umständen der Jugendlichen orientieren. Stattdessen setzte sich ein Jugendhilferechtsentwurf durch, der das staatliche Dilemma zwischen Öffnung der Heime und erneuter Ausschließung offenbart. Gepaart damit wurde das neue Jugendhilfegesetz von Entwurf zu Entwurf familienorientierter (1973: Sachverständigen-Kommissions-Entwurf; 1974 Referentenentwurf des Bundesministeriums für Familie, Jugend und Gesundheit; 1978 Kabinettsentwurf).

Die Priorität der wertbeladenen Familienerziehung vor jedem öffentlichen Eingriff wurde festgelegt. Schon aus diesem Grund wird die Alternative der Jugendwohngemeinschaft kaum berücksichtigt. Jugendwohngemeinschaften waren sowohl als Alternative zur Heimerziehung wie zur Familienerziehung zu verstehen. Diese Versuche, in solidarischen Lebensformen selbstbestimmt seine Probleme zu bewältigen, diese Versuche von Jugendlichen, sich aus der Ausschließung herauszubegeben, waren einer familienorientierten Reform selbstverständlich verdächtig.

Die Reform, der Öffnunsprozeß der Heime ist primär dadurch gekennzeichnet, daß er therapeutisch beherrschbar gehalten werden soll. Wobei die Neuerung im Therapeutischen liegt, im Unterschied zur repressiven Autorität der Erziehungsanstalt.

Den Jugendlichen, denen als Makel eine "Entwicklungsstörung bzw. Entwicklungsgefährdung" anhaftet, stellt der Staat eine Reihe von Hilfen anheim. Wenn die verschiedenen Formen und Grade der Beratung und Betreuung der Jugendlichen, Kinder und ihrer Familien nicht ausreichen, so kann - bei Zustimmung der Erziehungsberechtigten und bei Bereitschaft des/der Jugendlichen zur Mitarbeit - zu "Übungs- und Erfahrungskursen" gegriffen werden. Dies sind zeitlich begrenzte Kurse, in denen

"aufgrund eines pädagogischen und therapeutischen Konzeptes Hilfe durch intensive erzieherische Einwirkung geleistet werden (soll), die geeignet ist, durch neue Erfahrungen im gruppendynamischen Prozeß Prägungseinflüsse im Bereich des reaktiven Verhaltens zu ändern." (12)

Den meisten als entwicklungsgefährdet deklarierten Jugendlichen bleibt die Wahl zwischen solchen Kursen oder der Drohung mit Heimeinweisung, Jugendknast. Die freiwillige Mitarbeit der Jugendlichen dürfte so wohl relativ einfach herstellbar sein. In solchen Kursen sind die Jugendlichen allerdings wieder individualisierenden, gruppentherapeutischen Konzepten ausgesetzt. Die Gruppensituation wird zur zeitweiligen Realität, es wird gelernt, Probleme v.a. auf die eigene Person zu beziehen. Diese Kurse sind nicht die totale Ersatzrealität wie die Heime, sondern sie sind der therapeutisch gekappte Versuch, die Jugendlichen in ihrem Alltag zu belassen, sie nicht ganz raus- und wegzuholen, aber sie dennoch exklusiv zu behandeln. Eine kollektive, im realen Lebenszusammenhang angesiedelte Auseinandersetzung wie in Jugendwohngemeinschaften ist keineswegs möglich. Diese wirkliche Öffnung in der Reform ist also therapeutisch verhindert, um bei Vermeidung von totaler Ausschließung (mit den bekannten Folgen der Produktion von Abweichungen) keine emanzipationsträchtigen Freiräume entstehen zu lassen. Wenn dieser bürokratisch-therapeutische Balanceakt nicht gelingt, so steht nach wie vor die Fremdplacierung auf Dauer zur Verfügung, wobei die geschlossene Unterbringung nach § 46 KE JHG die extremste Maßnahme, nämlich Freiheitsentzug, darstellt.

Den staatlichen Fachleuten ist zwar bekannt, daß Therapie und Zwang sich im fachlichen Selbstverständnis widersprechen - doch ist ihnen bei allen Bedenken trotzdem klar, "daß auf derartige Maßnahmen nicht gänzlich verzichtet werden kann." (13) Bei der rechtlichen Regelung der geschlossenen Unterbringung rufen die staatlichen Sachverwalter der Jugendhilfe nun keineswegs nach wilhelminischer Kasernenordnung; keiner malt das Ideal des staatlich verwalteten anständig-autoritären Erziehungsheims an die Wand. Selbst die Geschlossene Unterbringung wird therapeutisch interpretiert: In gut begründeten Ausnahmefällen müsse die pädagogische Einflußnahme auf der Basis eines wirksamen "Anwesenheitszwangs" (Staatssekretär Zander) von statten gehen.

"Die Jugendlichen in dieser Einrichtung müssen daran gehindert werden, sich dem Aufbau ... zwischenmenschlicher Bindungen und den therapeutischen Bemühungen zu entziehen. Die Einrichtung "Heilpädagogische Intensivbetreuung" muß deswegen - zumindest phasenweise - geschlossen sein." (14)

Es geht den staatlichen Stellen gerade um die Vermeidung des Mißbrauchs (Skandale!) und um die Garantie des vernünftigen Gebrauchs der Geschlossenen Unterbringung - zum Wohl der Kinder oder Jugendlichen. Der Anwesenheitszwang wird zur Schutzfunktion. Wiederum ist der Schutz nicht traditionell zu verstehen als Schutz der Gesellschaft vor den "Kriminellen", sondern es geht um den Schutz der Kinder oder Jugendlichen. Sie müssen nämlich vor den schädlichen Einflüssen ihres Milieus und vor eigenen Fluchttendenzen geschützt werden. Anwesenheitszwang als therapeutisches Setting - das ist die pädagogische Essenz. In der Drogentherapie wird das Prinzip des therapeutischen Schutzes z.B. so praktiziert, daß jegliche Erinnerung an die "Scene" - von der Frisur bis zur Musik - abgelegt werden muß.

Die modernsten Varianten der Heimerziehung lehnen die geschlossene Unterbringung ganz ab. Z.T. werden geschlossene Abteilungen zugunsten von Jugendwohngemeinschaften aufgelöst. Oberflächlich betrachtet sollen die Jugendlichen also im Lebenszusammenhang belassen werden. Die Jugendwohngemeinschaften unterliegen jedoch einer intensiven sozialtherapeutischen Betreuung. Die Öffnung der Heime ist jedenfalls kontrolliert: Im Extremfall müssen die Jugendlichen - statt autoritär überwacht zu werden - selbständig und andauernd den Pädagogen Rechenschaft über ihr Treiben und ihr Ansinnen ablegen. Innerhalb von Heimen heißt die Auflösung von geschlossenen Gruppen noch lange nicht, daß ihre Funktion beseitigt wäre. Auch ohne geschlossene Gruppen, wenn die Jugendlichen an der "langen Leine" gehalten werden, wiederholt sich die geschlossene Unterbringung individualisiert, als spezielle "therapeutische Maßnahme", als Reaktion auf das besondere Problem Einzelner. (Vgl. dazu den Artikel über neuere Tendenzen der Heimerziehung in diesem Heft!)

Lappland oder HPIB?

Daß letztlich der gewährte therapeutische Schutz noch keineswegs den Erfolg garantiert, äußert sich in Pädagogen-Phantasien: Als belesene Fachleute sich des Problems der Geschlossenen Unterbringung wohl bewußt, erprobt ein Bremer Heim mit geschlossener Abteilung seit Jahren, wie die gesellschaftliche (und damit kritisierbare und veränderbare) Repression des geschlossenen Heims auf die Natur übertragen werden kann. Die pädagogische Traumhilfe heißt Lappland! Dort werden vorerst Ferienmaßnahmen mit besonders Schwierigen gemacht. Doch die pädagogische Vernunft strebt ja nach Alternativen zur Geschlossenen Unterbringung:

"Wenn man davon ausgeht, daß die Maßnahme eine Alternative zur geschlossenen Unterbringung sein soll, ist festzustellen, daß die Freiheit und das Aufeinanderangewiesensein dort oben (gemeint ist Lappland, d.V.) eingrenzt, besser vielleicht als Gitter und verschlossene Türen, vielleicht auch besser als der begrenzte Raum eines Schiffes. Die Möglichkeit des Entweichem ist tatsächlich gegeben. Also Freiheit und trotzdem Eingrenzung, ohne daß dies groß wahrgenommen wird. Die Natur selbst ist ein Hindernis, das man nur schwer überwinden kann." (15)

Wie wäre es denn mit Verbannung als Alternative zur Geschlossenen Unterbringung?

Diese Tendenz der repressiven Hilflosigkeit staatlicher Jugendhilfepolitik ließe sich auch aus der Heim-internen Entwicklung erklären. Denn wird die Institution Heim mit ihren festen Regeln und Hierarchien einmal geöffnet, tritt die Freiheit auch nur ein Stück weit ein, so besteht die "Gefahr", daß diese festgefügte Institution chaotisch reagiert und aus den Fugen gerät. Die Funktionstüchtigkeit eines Heims wurde durch reformerische Maßnahmen tendenziell in Frage gestellt, was zur Folge hat, daß die Funktionsfähigkeit wiederhergestellt werden muß.

Repressive Hilflosigkeit äußert sich in allen diesen Formen des staatlich institutionalisierten Zugriffs: er ist nicht mehr schlicht autoritär, sondern eben fachlich-therapeutisch und laviert - getragen vom Bedürfnis, vor Störern und Unbequemen Ruhe zu haben - zwischen Öffnung und Ausschließung.

Diese ganze Entwicklung ist - bezogen auf den Bereich der Heimerziehung - Ausdruck des gesellschaftlichen Konflikts im Vergesellschaftungsprozeß der Reproduktion. Dies ist der Konflikt, wie er sich in der Entwicklung der Institutionen selber darstellt. Die Selbsthilfebewegung ist eine Antwort auf diesen Konflikt, obwohl sie ihn selber nicht als gesellschaftlichen Konflikt erkennt. Ihre Vorstellung der radikalen Entinstitutionalisierung als Aufhebung der Expertokratie ist lediglich auf die repressive, herrschaftliche Seite der innerinstitutionellen Krise, des innerinstitutionellen Widerspruchs bezogen. In der autonomen, tendenziell privaten Form der Selbsthilfelösung besteht immer die Gefahr, dem gesellschaftlichen Konflikt, wie er sich in den Institutionen stellt, auszuweichen und ihn damit wieder zu entpolitisieren.

2. Kapitalistische Vergesellschaftung der Reproduktion, Herrschaft und Konflikt

Die Frage ist nun, welcher Prozeß sich durch das Handgemenge von Reformen, repressiven Rückfällen und Amokläufen hindurch ereignet. Was hat es mit der Vergesellschaftung auf sich? Wie hängt damit das Unbehagen an technokratischen Heil-Anstalten, der Ausbruch daraus in alternative Selbstversuche zusammen?

Vergesellschaftung: Von der Utopie zum Problem

Vor einigen Jahren war "Vergesellschaftung" noch ein Begriff für unser Ziel, für die "große Lösung". Kultur, Erziehung, Beziehungen, alles sollte vergesellschaftet werden. Das Einzelne, Individuelle galt uns als bloße Schranke. Und die Forderung, die Enge der alten Tabus aufzubrechen, alles in einen großen Zusammenhang zu stellen, wußte sich mit dem Trend der Jahre einig.

Inzwischen hat sich eine vollständige Umkehrung vollzogen. Nicht wir, sondern die gesellschaftlichen Mächte scheinen alles in ihren Zusammenhang zu zwingen, alles an sich zu reißen. Natur, Beziehungen, Gefühle sind bedroht, zu bloßen Zahlen einer Gesamtrechnung mit der Summe: Fortschritt zu werden. Nur noch das Abseitige, Private scheint noch nicht einverleibt in die Macht eines monotonen Ganzen, scheint noch Lebensraum und Widerstand zu enthalten.

Aus der Utopie eines "großen Ganzen" ist eine Anti-Utopie geworden. Dieser Wandel spiegelt die Erfahrungen mit dem realen Prozeß der Vergesellschaftung wider, der begonnen hat, sich zu vollziehen. Und daß im Begriff ein solch abrupter Umschlag stattfinden konnte, deutet einmal darauf hin, wie wenig die "Objektivität" des Prozesses begriffen war. Aber zum Zweiten kommen auch die Widersprüche im Prozeß darin zutage.

Der Umschlag im Vergesellschaftungsbegriff ist natürlich nicht denkbar ohne einen anderen Umschlag, den im Begriff Fortschritt. Zweifel an dem traditionsmarxistischen Strategiebegriff Vergesellschaftung, dem die Abschaffung von Konkurrenz und Privateigentum schon das revolutionäre Alles war, wurden weitergetrieben. Die Erfahrung, wie sehr die natürlichen Lebensbedingungen durch die kapitalistische Naturbeherrschung bedroht sind, die Erfahrung mit Technologie und Rationalisierung andererseits, mußten zum Inhalt des "Fortschritts" vorstoßen. Die vulgärmarxistische Entgegensetzung von Produktionsverhältnis und Produktivkräften, wobei letztere als Motor und Garant der Umwälzung galten, mußte überwunden werden. Der Fortschritt wurde einer falschen Objektivierung entkleidet, konnte als versachlichtes, soziales Herrschaftsverhältnis erkannt werden. So mußte auch der Begriff Vergesellschaftung seine Unschuld verlieren. Denn die alte Vorstellung, nur noch irgendwelche "Fesseln" sprengen zu müssen, um "unseren" Inhalt freizulegen, trägt nicht mehr.

Vielmehr werden die Konturen eines herrschaftlich formbestimmten Prozesses deutlicher, die gesellschaftlichen Widersprüche dahinter und in ihm, die Widersprüche, die der Prozeß mitschleppt. Von der kapitalistischen Vergesellschaftung der Reproduktion soll nun die Rede sein und beides, das vormals utopisierte Moment des Aufsprengens von Einzelnem, wie das Moment der gewaltförmigen Einverleibung, muß inhaltlich entwickelt und vermittelt werden. Begonnen werden muß mit der Analyse am Ursprung der Dynamik: am kapitalistischen Produktionsprozeß.

Subsumtionen, Erosionen

Der Arbeitsprozeß ist das erste Objekt der kapitalistischen Vergesellschaftung und wird zu deren gesellschaftlichem Zentrum. In der kapitalistischen Arbeit zählen nicht Fähigkeiten, erprobte Formen der Kooperation, sondern eine instrumentell-rationale Organisation der Arbeit "von oben" setzt sich mit aller (Verfügungs)Gewalt des Kapitals durch. Die "Logik" der kapitalistischen Produktion, maximaler output bei minimalem, zu "Kosten" quantifiziertem Aufwand, bleibt nicht lediglich äußerlicher Zwang. Sie durchdringt und formt: die Arbeitsteilung, also die Beziehungen, die Technologie selbst, die zur Arbeitskraft reduzierten Menschen. Alles wird zum bloßen Material, angeordnet und bewegt gemäß der Logik der "abstrakten Arbeit", des Werts letztlich.

Kapitalistische Vergesellschaftung bedeutet weiterhin beständige Umwälzung: Rationalisierung der Technologie, Optimierung der Arbeitsteilung und den permanenten Versuch, den Zugriff auf die "lebendige Arbeit" zu intensivieren. Alles Widerständige der konkreten Menschen soll beherrschbar gemacht werden.

Doch gegenüber dem Fortschritt bleibt Widerständiges. Der moderne Arbeitsprozeß benötigt nämlich mehr als bloße "Sklavenmoral", sprich kapitalistisch: Selbstinstrumentalisierung, Gleichgültigkeit gegenüber dem konkreten Prozeß und Enterotisierung. Moderne, flexible Fertigungsprozesse, zunehmende Kontroll- und Planungsfunktionen erfordern vielmehr "IBM-Mentalität", also "Innovationsfreudigkeit" und Identifikation. Und außerhalb der Fabrik erfordert ein krisenhaft rissig-gewordener gesellschaftlicher Zusammenhang neue Bindemittel. Gefragt sind neue Kompensationen, re-erotisierte Produzenten, die freilich gebunden bleiben an das Glücksversprechen des Warenglitzerns, an käufliche Sehnsüchte: "repressive Entsublimierung"

Abschied vom Calvinisten

Über den Arbeitsprozeß hinaus müssen die Produzenten also selbst zu Objekten der kapitalistischen Vergesellschaftung werden. Doch konkrete Menschen lassen sich nicht wie mechanische Prozesse von Dingen rationalisieren. Vielmehr verwickelt sich der Versuch in Widersprüche: Die nach wie vor erzwungene Selbstinstrumentalisierung steht gegen libidinöse Besetzung, asketische Aufschubmoral gegen orale Waren-Süchtigkeit. Im widersprüchlichen Resultat scheinen die Konturen eines neuen Sozialcharakters auf, vollzieht sich der Abschied vom calvinistischen Zwangscharakter. Doch es soll hier nicht im Einzelnen um diese Tendenz zur "psychischen Öffnung" gehen, um die sich so viele Projektionen und selbstversichernde Interpretationen ranken ("NST"). Uns interessiert an dieser Stelle der Prozeß der Produktion, also die Reproduktion, was in ihr revolutioniert und formiert wird. Nicht nur dieser neue Charakter, mitsamt double-bind-Struktur und nötiger Synthetisierung, überfordert die hergebrachten privaten Formen der Reproduktion. Sondern es überfordern auch andere gesellschaftliche Veränderungen: die Erosion religiös-traditionaler Sinnorientierung, der Verlust nun krisenhaft zersetzter Lebensperspektiven wie sozialer Aufstieg, "Lebenswerk", und die Infragestellung von stummer Hingabe, aufopfernder Liebesdienste durch Emanzipationen der Frauen. All dies zehrt die Substanz der privaten Innen- und Gegenwelten von zwei Seiten her aus. Dieser schleichende "Tod der Familie" setzt dabei die Reihe der "Verluste" (der privaten Reproduktionsformen insgesamt) fort, die schon in früheren Vergesellschaftungsschüben, z.B. an Bildungs-, Heilungs- und Sicherungsfunktionen zu verzeichnen waren.

Die reelle Subsumtion der Liebe

Was an Ruinen übrigbleibt von den privaten Reproduktionsformen, muß gestützt oder beiseitegeräumt werden und Leerstellen sind zu füllen. Dies ist die Funktion des sich in Institutionen materialisierenden Vergesellschaftungsprozesses. Und die neuen Anforderungen, das (Re)Produktionsziel entcalvinisierter Sozialcharakter, stellen sich allen Reproduktionsfunktionen, auch den historisch früher "ausgelagerten". Wie Gesundheit und Bildung, gerät nun auch die Sozialisation in den Sog einer Formbestimmung, die den Vergesellschaftungsprozeß erst als kapitalistischen ausweist: Zuwendung und Liebe geraten in das Prokrustesbett einer spezifischen wissenschaftlichen Rationalität. Soziale Probleme, Bedürfnisse werden zu Ist-Soll-Relationen quantifiziert, Lösungen müssen sich in das Korsett der positivistischen Wenn-Dann-Rationalität zwängen. Die Logik der Vergesellschaftung, die Logik des Werts, formiert die zur Dienstleistung geronnene Bedürfnisbefriedigung. Die vergesellschafteten Reproduktionsfunktionen sind nun Teil der staatlichen Tätigkeit, inhaltlich Teil der "Voraussetzung und Kompensation der Mängel der Konkurrenz" (Marx). So findet die Formbestimmung des Zugriffs ihre Entsprechung in der Logik von institutioneller Hierarchie, rechtsförmig definierten Ansprüchen und Leistungen und repressiver Ausgrenzung von Bedürfnissen, die das Klassen-Ziel: Herstellung funktionaler Arbeitskraft, infrage stellten.

Daß sich die Institutionen vom Lebensprozeß der Einzelnen absondern, ergibt sich aus dem Zusammenhang von äußerlich-instrumenteller Logik und Rechtsförmigkeit, welche oberhalb der empirischen Staatsbürger ein Allgemeines konstruiert und vollstreckt. Und gerade als abgehobene Institution ist sie funktional auf den gesellschaftlichen (Herrschafts)Zweck bezogen, stülpt dem Lebenszusammenhang ihre Rationalität über.

Die Tendenz der Vergesellschaftung geht nun dahin, den Zugriff auf die "Normalarbeitskraft" auszudehnen, nicht mehr nur bröckelnde "Ränder" abzustützen oder abzuschneiden, je nachdem. Dabei wird nicht mehr nur kompensiert oder korrigiert, sondern mehr und mehr produziert. Die kapitalistisch vergesellschaftete Reproduktion konstituiert zunehmend Bereiche der Sozialisation und Qualifikation, die vordem als privat erbrachte Voraussetzung dem Verwertungszusammenhang in den Schoß fielen. Neben der Tendenz zur Ausweitung ist die Tendenz zur Spezialisierung eine logische Fortsetzung der instrumenteilen Vernunft.

Freilich findet der institutionell-spezialisierte Vergesellschaftungs-Fortschritt dort seine strukturelle Grenze, wo seine Rationalität die erwünschten Reproduktionsleistungen erdrücken würde, oder - umgekehrt - nicht einfangen könnte: Dies gilt für den Bereich der Primärsozialisation, der andere Beziehungen als die des Äquivalenten(aus)tauschs und einer Wenn-Dann-Vernunft erfordert - bei Strafe der Zerstörung der Natursubstanz. Dies gilt auch für die "unteren Ränder" der institutionalisierten Sozialisation, wo ein Minimum nichtrationalisierter Alltäglichkeit existieren muß, um der "Stofflichkeit" des Vorgangs: Beziehungs-, Gefühls-Arbeit, Rechnung zu tragen. Dort, wo der formbestimmte Vergesellschaftungsprozeß auf seiner "lebendigen Basis" auflastet, wo erste Konstitutionsprozesse sich vollziehen, muß ein Bereich des Nichtformierten koexistieren.

Vergesellschaftung als Veröffentlichung

Aber es ist nicht nur diese "Ausfransung", die das Bild eines hermetischen Herrschaftszusammenhangs falsch macht, als Projektion eines "Blockdenkens" dechiffriert. Die Negativutopie, heißt sie nun "Kolonisation", "Heroldisierung" oder totalisiert sie - modisch - die "Mikrophysik der Macht" zu einer Metaphysik "der Macht", ist mehr ein Problem der Psychologie, eines von enttäuschtem Emanzipationsrigorismus, von Erfahrungen mit der "Trägheit" der Verhältnisse, auch von Ohnmachtsbedürfnissen.

Dem unglücklichen Bewußtsein gewesener Begriffs-idealisten gerät nun die Welt zur Objektivierung des Unglücks, zum schlechten Ganzen, was den eigenen Rückzug auf bloße Kontemplation zu legitimieren vermag. Der reale Vergesellschaftungsprozeß trägt jedoch in seiner Struktur und seinen Wirkungen eine prinzipielle Brisanz in sich, die den Boden für eine Politisierung der Reproduktion bereitet: Die Brisanz liegt darin, daß etwas vordem Abgeschlossenes in den Bereich des Öffentlichen, damit in die Sphäre von Interpretation, Diskurs und potentiell, von kollektiven Veränderungen rückt. Welches Ausmaß an Leidenserfahrung, durchaus als gesellschaftliche bewußte Leidenserfahrung, ist von der Lautlosigkeit privater Liebe und Aufopferung verschluckt worden, hat sich in individuelles Unglück einschließen können. Und welches Ausmaß an gesellschaftlich Utopischem mußte im Privaten steckenbleiben, sich aufreiben in der erzwungenen Enge und in der Kreisbewegung des familiären Beziehungsdickichts.

Theoretischer: Wie die kapitalistische Herrschaft über den Arbeitsprozeß im Betrieb, so war auch der private Sozialisationsprozeß gleichsam "stummer Unterbau" (Negt) des Herrschaftszusammenhangs der bürgerlichen Gesellschaft. Wie eine "Schwerkraft" gleichsam, zog beides alle Umwälzungsversuche im politischen Raum an den Boden der "unpolitischen" kapitalistischen Faktizitäten zurück. Fabrikdisziplin und autoritäre Triebstruktur, beides in gewisser Weise (kapitalistisch) ungesellschaftlich reproduziert, waren die (und sind es noch) die Trägheit, mit der die Herrschaft so schwer und starr gegenüber jedem Transformationsversuch beharren konnte. Erst die Dynamik von Vergesellschaftungsprozessen in beiden Bereichen, die erzwungene Lockerung des Scheins der Natürlichkeit, läßt das Ausbrechen von Leidenserfahrungen und - potentiell - von Alternativen "im Handgemenge" zu.

Was früher in sprachlosen Abhängigkeiten gebunden war, kann nun als Bedürfnis, als tendenziell kollektives Interesse formuliert werden, erkämpft und durchgesetzt werden. Erfahrungen und Bedürfnisse werden organisierbar, können zum austragbaren Konflikt sich entwickeln. Und die herrschende Formbestimmung, auch die erfahrene Gebundenheit der Reproduktion an den staatlichen (Krisen)Zyklus kann als Barriere greifbar und angreifbar werden, wenn die Gesellschaftlichkeit der Ursachen nicht mehr in privaten Projektionen von Versagen und Schuld versickert. Die Vergesellschaftung der Reproduktion, gerade als kapitalistische, enthält notwendig dies Sprengmoment, das die Reproduktion in ein Kampfterritorium von struktureller Macht, von Gegenbewegungen und Kräfteverhältnissen verwandelt. Ein Kampffeld, auf dem die Frage nach dem sozialen Inhalt der Reproduktion und damit ein möglicher Bruch mit den objektiviert-herrschaftlichen Beziehungen, Bedürfnissen und Identitäten, gespeist aus den immamenten Brüchen, ansteht.

Kulturrevolution

Was vorsichtig als "Öffnung" des Sozialcharakters und nun als "objektive" Konflikthaftigkeit der vergesellschafteten Reproduktion beschrieben wurde, ist noch lange kein realer, gesellschaftlicher Konflikt. Erst im Zusammentreffen mit umfassenden Krisentendenzen, der Erfahrung des drohenden ökologischen Kollaps, des Zusammenbruchs von Lebensperspektiven des Arrivierens und des Glücks in warenförmiger Kompensation werden objektive Risse in Bewegung versetzt. Die Erfahrung kollektiver "Kränkung", daß im Vergesellschaftungsprozeß eingeschlossene Bedürfnisse von repressiver Austerity schon wieder zurückgestoßen werden, im Zusammenhang mit einer tiefgehenden Krise der kapitalistischen "Lebensform" (vom Konsum-"Modell" bis zur aufklärerischen Vernunft) läßt Verweigerungen und Utopien zu Bewegungen werden. Alternativbewegung, Ökologie- und Frauenbewegung sind hierbei "bloß" organisierte und "ideologische" Ausdrucksformen von viel breiteren, gesellschaftlichen Sedimentverwerfungen, einer "Kulturrevolution".

Eine Kulturrevolution, die freilich sich speist aus den Konflikten der Vergesellschaftung, deren "Öffnungen" und libidinöse Besetzungen enthält wie überschreitet. Aber, paradox scheinbar, der nötige Bruch im Übergang ist dann erst, wenn die kapitalistische Rationalität durch eine neue Qualität von Bedürfnis und Beziehungen, durch ein bewußtes, organisiert-gesellschaftliches Kräfteverhältnis aufgesprengt wird.

Nicht entschärft zur befriedeten Koexistenz in Nischen und Ghettos könnte der Keim einer "alternativen Hegemonie" entstehen. (Alternative Hegemonie - verstanden als Komplex von neuen Verkehrsformen, Werten undSinn-Perspektiven, der gerade den Bereich des Politischen überschreitet bzw. die gesellschaftliche Bedürfnisbasis eines sich politisch materialisierenden Kräfteverhältnisses bedeutet. Der Hegemonie-Begriff ist als Strategiebegriff insofern sinnvoll, als er die traditionelle leninistische, produktionslastige und geschichtslogische Revolutionstheorie überwindet. Gegenüber eurokommunistischen (und sympathisierenden) Versionen ist aber die Abgrenzung von einem oft vormarxistischen Ideologie-Begriff nötig, der bürgerliche Hegemonie bzw. Ideologie als bloßes Manipulations- und Betrugsmanöver mißversteht. "Alternative Hegemonie" kann aber nicht bloßer Austausch von Werten bedeuten, sondern muß die Umwälzung der Bedürfnisbasis, von Sozialisation und Beziehungen gegen den "stummen Zwang der Verhältnisse" voraussetzen und durchsetzen.)

Doch ist die Durchsetzung dieser "alternativen Hegemonie" nur im Zusammenhang mit einer gesellschaftlichen Bewegung denkbar, die im Produktionsbereich die Logik der kapitalistischen Arbeit umwälzt. Nur mit einer Bewegung, die im (Gewalt)Zentrum der kapitalistischen Vergesellschaftungsform aus Kämpfen gegen kapitalistische Rationalisierung und Intensivierung der Arbeit eine bedürfnisbestimmte, selbstbestimmte Vergesellschaftung der Arbeit hervortreibt, ist ein Kräfteverhältnis mit nötiger sozialer Breite und bedürfnis-radikaler "Tiefe" vorstellbar.

Reprivatisierung?

Das, was über die Tendenz zur "Veröffentlichung", über Dynamik und Perspektive aus den Widersprüchen der Vergesellschaftung ausgeführt wurde, ist erst die Beschreibung des objektiven Konflikts und dann von Bewegungen, Kräften, die allerdings gesellschaftlich partialisiert und oft selbstgenügsam existieren. Sollen sich Konflikt und Bewegung treffen, zu einer Perspektive der "alternativen Hegemonie" vermitteln, bedarf es gesellschaftlicher Bewegungsspielräume für kollektive Erfahrungen und selbstbestimmte Versuche. Nicht zuletzt ist aufklärende und antizipierende politische Einmischung vonnöten. Gegen diese Voraussetzungen stehen nun Tendenzen der Reprivatisierung im weitesten Sinne. Sie können unterlaufen und paralysieren, was als Hegemonie-Konflikt um die Qualität der Reproduktion aufgerissen ist und austragbar wäre.

Mit Krisen-Gewalt zurück...

Ganz materiell bricht sich die Vergesellschaftungstendenz selbst an der ökonomischen Krise der letzten Jahre. Im Fortgang einer (noch!) sozialdemokratisch leidlich gepolsterten Austerity-Politik ist die Phase der bloßen Verwaltung der Reformruinen mit Umverteilung nach dem Feuerwehrprinzip bereits durchschritten: Personalkürzungen, Rationalisierungen und Einsparungen mittels der immer unverschämter werdenden "Mißbrauchs"-Demagogie sind nun massiv im Gange. In der Tendenz vollzieht sich eine Einschränkung der öffentlichen Reproduktion, ein Zurück in "anachronistische" Privatformen, was vor allem und zuerst die Frauen zu spüren bekommen, die zum Glück ihrer "natürlichen Bestimmung" eben gezwungen werden. Neben dieser Verschiebung und der Einschränkung ist eine weitere Folge, daß die Institutionen unter einen erreichten Grad von "Öffnung" zurückfallen müssen. Denn fehlendes Personal, fehlende Mittel und zunehmende "Fallzeiten" verstärken die Logik des bloßen Verwaltens, bürokratischer Verkehrsformen. Bedürfnisnähere Formen, die von zeitlichen und finanziellen Dispositionsräumen leben, wird der Garaus gemacht. Und die weitgehend noch sozialpartnerschaftliche Arbeitsplatz-Politik der Gewerkschaften schneidet die Zusammenhänge zur Qualität des "kollektiven Konsums" zusätzlich ab. Doch es bleibt nicht nur bei den materiell vollzogenen Einschränkungen.

Fast ebenso wichtig ist der zum Teil schon erfolgreiche Versuch, eine ideologische "Tendenzwende" zu erzwingen: "Selbstverantwortlichkeit" ist das entsprechende Stichwort aus dem Schatz erzbürgerlicher Sozialdarwinismen. Die "Reprivatisierung des sozialen Risikos" versucht dabei nicht nur, die im veränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnis aufgegebenen Territorien ideologisch zu besetzen. Vielmehr soll ein Boden beackert werden, den die innergesellschaftliche, sozialpsychologische - von stummer Krisen-Gewalt erpreßte - Reprivatisierung bereitet hat: Die Individualisierung der Deklassierten, Herausgedrängten und Abgestiegenen, die versteckte "Problemlösung" in familiärer Überforderung und individuellem Zerfall. Marginalisierung, als Bestandteil der Austerity-Politik, ist nicht nur ein Begriff, der die Ausgrenzung von sozialen Gruppen mittels stummer Gewalt der Ökonomie und (erst) absichernd, mit repressiver Befriedung meint. Sondern eine "innere" Marginalisierung vollzieht sich auch sozialpsychologisch und innerpsychisch, wo die in Lernprozessen herausgearbeiteten und organisierten sozialen Bedürfnisse, wo die "Öffnung" von Phantasien, Identitäten und Beziehungen von Scham und Selbstverlust zersetzt werden.

Dieser sozialen Regression die höheren Weihen einer "Bürgerfreiheit gegen sozialstaatliche Bevormundung" zu verleihen, ist das Projekt einer rechten Krisenlösung. Dabei ist die materielle Zurückdrängung des "Anspruchsdenkens" längerfristig eher zweitrangig. Vor allem geht es um die Blockierung einer Dynamik, um die Re-Stabilisierung der bürgerlichen Hegemonie von "Freiheit", Leistung und "Schuld" des bourgeois. In dieser Umgebung muß sich die grün-alternative Tendenz zur Selbsthilfe etwas beängstigend ausnehmen.

Hilf dir selbst, dann...

Selbst wenn das Motiv ein anderes ist, nämlich Kritik an Herrschaft, an bürokratischer und zerstückelnder Rationalität, enthält doch die Konsequenz einen ähnlichen Zug zur Reprivatisierung. Denn es bleibt nicht beim "Beifall von der falschen Seite"; ein falscher Prozeß wird wider Willen mitbefördert, solange mit bestimmten grünen Bornierungen nicht gebrochen ist: Einmal ist da ein verflachter Wachstumsbegriff: Als wäre einfach das Mehr der Sündenfall, als das Mehr staatlicherseits gar der Antreiber. Auf Quantität wird da reduziert, wo doch eine bestimmte Qualität, eine herrschaftliche Logik kritisch gemeint werden soll. Und ausgehend von Kleingruppen(vulgär)soziologismen wird "Anonymität" beklagt und an institutionelle Größenordnungen geheftet, was als gesellschaftlicher Formierungsprozeß zu identifizieren wäre. So kann dann das naive "klein, aber fein" herauskommen, inhaltlich schlimmstenfalls ein Lob des Privaten, was in dieser Gesellschaft eben nicht ohne den bourgeois, ohne Konkurrenz und Ver-Wertung zu haben ist. Bestenfalls geht der Blick sehnsüchtig-naiv zurück, in mystifizierte Gemeinschaftlichkeit der Vorzeit, wie oben kritisiert.

Als Zweites ist da das Gegensatzpaar zentral-dezentral: Die inhaltliche Kritik, die das "gleichmacherische" der sich via Institution und Bürokratie vollziehenden Vergesellschaftung meint, hat sich verdünnt und letztlich auch zum Größenverhältnis verdünnt. Die wertbestimmte Formierung des Besonderen, Einzelnen zum Abstrakt-Austauschbaren scheint verzerrt in der negativutopischen "Großen Maschine" wider. Hier lauern nur noch böse Zentralmächte, um alles in ihren technifizierenden Bann zu schlagen. Daß dieser Projektion gerade der kapitalistisch wesentliche Zusammenhang zwischen konkurrierend "Kleinem", Einzelnen und kompensatorischer Vergesellschaftung verloren geht, läßt die Alternative naiv werden. Alternativ scheint das zu sein, was "unberührt" blieb oder im Kleinen blüht, aus dem privaten Bereich "authentisch" erwächst.

Beide Reduktionen einer qualitativ gemeinten Kritik spiegeln sicher verbreitete Ohnmachtserfahrungen, Gefühle der Undurchschaubarkeit wider. Und sicher können daraus Identifikationen überspringen und überschreitende Bedürfnisse sich wiederfinden. Doch zum einen bleibt die grüne Alternative naiv und wehrlos gegenüber dem gesellschaftlich Naturwüchsigen im Gewand des Autonomen, wo sich also die Pointierung des Privaten gegenüber dem vergesellschafteten Ganzen mit der Privatisierung à la Austerity trifft.

Zum Zweiten klingen die alternativen Lösungen zu sehr nach Subsidiaritätsprinzip, etwas zu christlich. Das Hohe Lied der, wenn nun auch alternativen, Gemeinschaftlichkeit unterstellt Kompetenzen, die nicht mehr wiederzubeleben, geschweige denn ohne Herrschaftsmomente sind. (Vgl. 1. Teil) Verfehlt wird der gesellschaftlich aufgebrochene Konflikt um die Reproduktion. Nicht nur aufgrund der (notwendig!) schmalen sozialen Basis der Selbsthilfe-Bewegten ist der Weg ins alternative Ghetto fast zwangsläufig. Auch eine neue Version von "Lagermentalität" ist virulent, wenn sich aus der Hermetik "der Macht" logisch nur der total (De)Formierte und dagegen, der "Dissident" denken läßt. Gesellschaftliche Tiefenbewegungen, Erosionen des Unterbaus der Herrschaft und breite, "kulturrevolutionäre" Grundströmungen müssen dann geringgeschätzt bleiben. Nur noch Lösungen für das kleine, alternative "Wir" scheinen möglich; der Fetisch: Autonomie bricht viele Verbindungen und Einmischungen, die möglich wären, ab.

So gibt es eine Tendenz, zumindest, hin zu einer alternativen Mittelschichts-Kultur, die ihres Stachels beraubt ist, harmlos in Konsumzyklen ihre Koexistenz fristen kann. Dies wäre auch Reprivatisierung, eine Ausgrenzung von "kulturrevolutionären" Ansätzen und des potentiellen gesellschaftlichen Bruchs in eine geschlossene Gesellschaft. Eine geschlossene Gesellschaft, beispielsweise von ansonsten fungiblen Reproduktionsagenten mit etwas Lebensreform nach Feierabend, von gekränkten Profis, denen die Krise die besseren Ränge der Hierarchie verschlossen hat und die sich nun alternativ ihrer Relevanz versichern dürfen, an denen, die man dem Ghetto bereitwilligst überläßt: den drop-outs... Zutage käme eine "duale Gesellschaft", allerdings eine Verkehrung zum Schreckbild. Denn es wäre eine Dualität der Abspaltung und der repressiven Regression.

Die mögliche Dialektik der kapitalistischen Vergesellschaftung und der Konflikt um die Qualität wären dann stillgelegt; Austerity-Reprivatisierung und alternatives Ghetto die einander kompensierenden Bruchstücke in einem autoritären, gesellschaftlichen Ganzen.

Mit sanfter Stimme...

Die Gefahr des Stillstellens durch Abspaltung ist aber auch auf den Inhalt der sozialen Praxis der Reproduktion selbst zu beziehen. Denn "Veröffentlichung" entscheidet sich auch an der Form des Umgangs mit erfahrenem Konflikt und Bedürfnisbrüchen. Und diese Form des Umgangs, wie sie die Rationalität der Vergesellschaftung entspricht, ist die therapeutische. Gemeint ist das Problem, daß die therapeutische Form den Inhalt, den strukturellen Reproduktionskonflikt und dessen Dynamik "einzuschließen" und so zu re-privatisieren droht.

Haben nicht auch therapeutische Konstellationen den "weiblich"-familialen Zug, Konflikte in Lautlosigkeit zu bewältigen, aufzufangen, zumindest so, daß nichts nach "draußen" dringt? Ganz abgesehen vom Zielproblem, welchem Realitätsprinzip und wie sich der "Klient" zu fügen hat, hat doch jede therapeutische Kommunikation die Tendenz zur Ent-gesellschaftung, zum verengten Blick auf innerpsychische, bestenfalls familäre Dynamik. Die aufgeblähte Scheinwelt der Therapeut-Klient-Beziehung, der geheimwissenschaftlich vordefinierte und ausgrenzende therapeutische Diskurs, die Pathologisierung zum "Anderen" gegenüber dem Gesunden im weißen Kittel, die neutralisierende Methodisierung der Beziehung ... all dies sind Etappen des heimlichen Lehrplans: Reprivatisierte Deutung gesellschaftlicher Erfahrung. (Nebenbei: Es soll hier nicht die Beschäftigung mit innerpsychischen Verfestigungen prinzipiell denunziert werden, sondern die Rationalität steht auch hier zur Debatte.)

Der nach langen fachlichen und politischen Auseinandersetzungen zu beobachtende Trend, daß die krudesten Pathologisierungen und entsprechende Einschließungen, Ausgrenzungen gesellschaftlich auf dem Rückzug sind (z.B. psychiatrische Großanstalten), läßt die sublimere therapeutisierte Einschließung eher in den Vordergrund treten.

Sicher muß es auch "Ränder" geben, wo offenere und lebensbezogenere Formen der therapeutischen Verständigung und Selbstveränderung praktiziert werden; große Bereiche der Alternativ- und Frauenbewegung hängen mit diesen Reproduktionsbereichen "im Übergang" zusammen. Und als Bewegungen mit eigener Identität und Kultur sprengen sie zuerst einmal die therapeutischen Befriedung und drücken offensiv aus, was an Bedürfnissen und Antizipationen in ihnen ist. Doch es ist zu beobachten, daß auch hier der Rückgriff auf Therapeutisierung nahe liegt, wenn die erhofften Veränderungen und Selbstveränderungen nicht innerhalb der Zeitstruktur von Bewegungsauf- und -abschwüngen herbeieilen. Der "Psychoboom", die Pilgerfahrt durch therapeutische Schulen und Variationen ist eine doppelte Privatisierung; der "Sakralbereich" gleichsam des Ghettos wäre abgezirkelt.

Gesellschaftliche Brüche und kulturrevolutionäre Bedürfnisse, Beziehungen wären wieder eingefangen in kompensatorisch-alternative Innenwelten. Und das, was den gesellschaftlichen Prozeß schon keimhaft überschreitet, wäre als Sprengkraft entschärft, wäre ihm als Einmischung entzogen.

3. Spezialisierter Professioneller, Entprofessionalisierungs-Spezialist oder Aussteiger?

Die Reaktionsweisen der Berufstätigen im Reproduktionsbereich auf diese Qualitäten der Vergesellschaftung sind unterschiedlich. Die überzeugten Professionalisten setzen voll auf den einen Zug der Vergesellschaftung: sie versuchen der Probleme durch ihre zunehmende Spezialisierung Herr zu werden. Unter der Hand sollen dabei eigene Probleme der Berufsarbeit (chaotischer Beziehungsalltag, emotionale Verstricktheit und Erfolglosigkeit beruflichen Handelns) bereinigt werden: Das fast klinisch-reine therapeutische Setting verspricht weniger Streß und zugleich wirklichen Erfolg im Einzelfall. Auch wenn diese therapeutische Spezialisierung noch so kritisch legitimiert ist und manchmal auch wirklich getragen sein mag von Emanzipationsgedanken, so unterliegt sie grundsätzlichen Beschränkungen: Sie stellt die Rationalität des vom wirklichen gesellschaftlichen Leben abgehobenen, wissenschaftlich begründeten institutionellen Eingriffs nicht in Frage. Gleichzeitig wird im Bekenntnis zur Professionalität unterstellt, soziale-gesellschaftliche Probleme ließen sich durch pädagogische Interventionen lösen. Ergebnis von Professionalisierungsstrategien bleibt Technokratie statt Emanzipation.

Die technokratischen Formen der Reproduktionsarbeit bleiben den Anti-Institutionellen erspart. Denn sie sehen die Lösung nur abseits des Vergesellschaftungsprozesses, der von ihnen als total und widerspruchsfrei analysiert wird. Sie unterliegen einem Lager-Denken: Dort die Institutionen mit den definitionsmächtigen Experten und hier die Utopie der Selbsthilfegruppen, die allein Wiedergewinnung von Kompetenzen zulassen. Oft scheinen sie die Institutionen auch als Fessel der wahren pädagogisch-kommunikativen Qualitäten zu begreifen, wobei sie in allem Eifer für den pädagogischen oder medizinischen Eros die gesellschaftlichen Ursachen der vorhandenen Probleme vergessen: Soziale Arbeit über alles! - egal, weshalb sie notwendig ist.

Doch gibt es auch noch weitergehende Ausstiegstendenzen: Die totale Abkehr von dieser Art der Arbeit, die das Innenleben der Berufstätigen gleich mit auszuzehren droht. Die Alternative des Ausstiegs ist meist der Versuch, die an sich selber erfahrene entfremdende Reduktion auf Beziehungsarbeit im Griff nach gegenständlich-nützlich-naturverbundener Arbeit zu überholen. Doch es ist nicht nur die am eigenen Leib erfahrene Reduktion, die zum Ausstieg drängt, sondern oft wird jeder bewußten Bemühung um Reproduktion das Etikett der Herrschaft angeheftet. Als Alternative erscheint die Wiedergewinnung einer Ganzheitlichkeit, die sowohl "Kommunikationsarbeit" wie "gegenständliche Arbeit" enthält. Ganzheitlichkeit auch verstanden im Sinne der Struktur, in der man lebt: Alles soll im Alltag integriert geschehen; die Alltagsbeziehungen machen die besondere Reproduktion scheinbar überflüssig. So droht der gesunde Menschenverstand an die Stelle bewußter Auseinandersetzung mit Beziehungen und Verhältnissen zu treten. Familiäre, nachbarschaftliche (Produktions)Gemeinschaft erscheint so verklärt als ganzheitliche Erfahrungsmöglichkeit des neuen Menschen. Neben dieser "Idylle" geht aber der Prozeß der Vergesellschaftung der (Re)Produktion in seiner herrschaftlichen bürgerlichen Form weiter.

Kleiner, nachdenklicher Schluß

Vielleicht erscheinen die Ausführungen nur denunzierend, sozusagen von außen und von oben. Als sei das Bestehen auf dem und das Bestehen im Handgemenge so einfach und, als rutschte jeder andere Versuch in die Nähe von Flucht oder illusionärer Idylle. Doch es ging uns nicht um doch überwundene Märtyrermentalitäten. Es ging uns um eine Orientierung, eine Analyse von Tendenzen und Driftbewegungen und zwar mit der Härte, die nötig ist, um zu treffen. Wir verkennen nicht, daß das Problem erst damit eigentlich anfängt, wenn wir uns der alltäglichen "Verstocktheit" in ebensolche Rationalitäten und Vergesellschaftungsprozesse gewahr werden. Wir erfahren an unseren Verhärtungen, wie wenig wir der Logik von Abstraktion entkommen und wie wir uns in Streß und Überforderung selbst individualisieren, und schlucken, was als Konflikt nach außen müßte. Sicher wären die Grenzen zu bestimmen, bis wohin die geforderte Konflikt-Politik, die Einmischung ins Handgemenge zu bestehen ist.

Und sicher wäre noch viel dazu zu sagen, wie sich ein Kollektivsubjekt (tendenziell die "alternative Hegemonie"), über innere und äußere Ausgrenzung hinweg, bilden kann. Denn als alltägliche handelnde Personen sind wir immer mehr "mitten drin", auch in Zwangskitteln, als es in Kritik und Perspektiven sichtbar zu machen ist. Aber daß Probleme erst anfangen, spricht nicht gegen die, die zuerst mit Kritik den Weg ins Gelände freiräumen.

Anmerkungen

  1. Vgl. Ch. Neusüß in Info Sozialarbeit 28/29 und Prokla 39.
  2. Vgl. Schwendter. Info Sozialarbeit 28/29.
  3. Vgl. Info Sozialarbeit 28/29. Seite 67.
  4. ebd.. Seite 67.
  5. Vgl. das Gedicht auf S. 67 in Info Sozialarbeit Heft 28/29.
  6. ebd.. Seite 68.
  7. ebd.. Seite 70 ff.
  8. ebd.. Seite 72
  9. ebd.. Seite 74
  10. ebd.. Seite 75
  11. Vgl. dazu Info Sozialarbeit Heft 6 und Sozialarbeit zwischen Bürokratie und Klient. Offenbach 1978
  12. Kabinettsentwurf. Jugendhilfegesetz S. 97. zitiert nach "Das JHG...", hrsg. v. JupoFo, S. 89
  13. Staatssekretär Zander, zit. nach "Das neue JHG...", S. 46
  14. Rahmenkonzeption einer Heilpädagogischen Intensiv Betreuung des Hessischen Sozialministeriums. S. 4 - zit. Jugendpolitik in der Krise. S. 199.
  15. Heimerziehung und Jugendhilfepolitik im Lande Bremen, Tagungsbericht und ergänzende Materialien. S. 208/209.

Literatur

  • J. Kickbusch: Von der Zerbrechlichkeit der Sonne, Gedanken zu Selbsthilfegruppen in: Info Sozialarbeit 28/29. S. 67.
  • R. Schwendter: Alternativen in der Sozialarbeit, in: Info Sozialarbeit 28/29. S. 5.
  • Christel Neusüß: Der "freie Bürger" gegen den Sozialstaat, in Prokla 39. S. 79.
  • Die Kritik der Alternativbewegung am Sozialstaat, in: Info Sozialarbeit 28/29. S. 29.
  • JUPOFO (Hrsg.): Das JHG - Neue Hilfen für Jugendliche - Der Staat hat geholfen. Verlag des Jugendpolitischen Forums 1979.
  • Damm, Fiege u.a. (Hrsg.): Jugendpolitik in der Krise. Verlag Jugend und Politik 1978. Barbara und Axel Hübner: Zur Wiedereinführung geschlossener Heime in Hessen, in: Jugendpolitik in der Krise. S. 189.
  • Sozialistisches Büro: Marxismus und Naturbeherrschung, Verlag 2000. 1979. Zur konkreten Utopie der gesellschaftlichen Arbeit. Verlag 2000. 1980.
  • "Heimerziehung und Jugendhilfepolitik im Lande Bremen" - Ergänzende Materialien und Tagungsbericht, Hrsg. v. d. Redaktionsgruppe der Fachtagung "Heimerziehung...", November 1980.